HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2009
10. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

516. EGMR Nr. 24528/02 – Urteil der 4. Kammer des EGMR vom 2. Juni 2009 (Borovsky v. Slowakei)

Verletzung der Unschuldsvermutung durch (materielle) Feststellungen einer Schuld vor Ablauf eines rechtsstaatlichen Verfahrens im Ermittlungsverfahren durch Gerichte und Amtsträger.

Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 EMRK

1. Art. 6 Abs. 2 EMRK verbietet es, ein faires Strafverfahren durch präjudizierende vorherige Stellungnahmen zu unterminieren, die in einer engen Verbindung mit diesem Verfahren gemacht werden. Er untersagt zum einen, dass das Gericht selbst voreilig ausdrückt, der Angeklagte sei schuldig, bevor ihm dies gesetzmäßig nachgewiesen ist. Zum anderen untersagt Art. 6 Abs. 2 EMRK auch Stellungnahmen, die von anderen Amtsträgern des Staates über laufende Strafverfahren gemacht werden, welche die Öffentlichkeit dazu animieren zu glauben, dass der Beschuldigte schuldig sei, und damit die Tatsachenwürdigung des zuständigen Gerichts vorwegnehmen.

2. Die Unschuldsvermutung wird verletzt, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder die Stellungnahme eines Amtsträgers über den Angeklagten die Einschätzung äußert, dass er schuldig ist, noch bevor ihm dies in einem gesetzlichen Verfahren bewiesen worden ist. Eine Verletzung ist nicht nur bei einem ausdrücklichen Schuldvorwurf anzunehmen. Es genügen auch Ausführungen, die darauf schließen lassen, dass das Gericht oder der Amtsträger den Angeklagten als schuldig ansieht. Dabei ist zwischen Äußerungen zu unterscheiden, die nur einen

Verdacht der Tatbegehung durch den Angeklagten ausdrücken, und deutlichen Äußerungen, der Angeklagte habe die Tat begangen.

3. Zur Anwendung auf den haltlosen Vorwurf des Betruges.


Entscheidung

551. BVerfG 1 BvR 654/09 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 3. April 2009 (LG Berlin)

Rundfunkfreiheit (Bildberichterstattung über Strafgerichtsverfahren; sitzungsleitende Anordnungen; Kumulation von Maßnahmen als unzulässige Beschränkung); Unschuldsvermutung und Recht auf ein faires Verfahren; Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Anonymisierung des Angeklagten; Schutz sonstiger Verfahrensbeteiligter); einstweilige Anordnung (Verfassungsbeschwerde; Beginn der Beschwerdefrist; Folgenabwägung).

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 172 GVG; § 32 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG

1. Anordnungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG, mit denen die Anfertigung von Bild- und Fernsehaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung Beschränkungen unterworfen wird, stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 91, 125, 134 f.; 119, 309, 320 f.). Bei deren Erlass ist der Rundfunkfreiheit Rechnung zu tragen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfGE 91, 125, 138 f.; 119, 309, 321).

2. Von dem durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Berichterstattungsinteresse ist die bildliche Dokumentation des Erscheinens und der Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal umfasst. Nicht nur die Untersagung der Bildberichterstattung am Rande der Hauptverhandlung, sondern auch die Ermöglichung des Zugangs des Angeklagten und seines Verteidigers durch einen besonderen Zugang nach Eröffnung der Hauptverhandlung kann das Bildberichterstattungsinteresse berühren. Auch in der Anordnung einer Anonymisierung gefertigter Fernsehbilder vom Angeklagten kann eine gewichtige Beschränkung von Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit liegen (vgl. BVerfGE 119, 309, 326).

3. Bei der Gewichtung der Nachteile ist in Bezug auf die Pressefreiheit nicht nur die Schwere der Tat, sondern auch die öffentliche Aufmerksamkeit zu berücksichtigen, die das Strafverfahren etwa aufgrund besonderer Umstände und Rahmenbedingungen gewonnen hat. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird umso stärker sein, je mehr sich die Straftat durch ihre besondere Begehungsweise oder die Schwere ihrer Folgen von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt (vgl. BVerfGE 35, 202, 230 f.; 119, 309, 321 f.).

4. Einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Person des Täters, welches sich auf die Schwere der Tat und die Verwerflichkeit deren besonderer Umstände stützt, kann entgegenstehen, dass der Angeklagte, für den die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Unschuldsvermutung streitet, im Falle einer Fernsehberichterstattung, die sein nicht anonymisiertes Bildnis zeigt, Gefahr läuft, eine erhebliche Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts zu erleiden, die im Einzelfall trotz späteren Freispruches schwerwiegende und nachhaltige Folgen haben kann. Bis zu einem erstinstanzlichen Schuldspruch wird insoweit oftmals das Gewicht des Persönlichkeitsrechts gegenüber der Freiheit der Berichterstattung überwiegen. Ausnahmen können dort bestehen, wo sich der Angeklagte in eigenverantwortlicher Weise den ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen in der medialen Öffentlichkeit auch im Wege der Bildberichterstattung gestellt hat, aber auch dann, wenn der betreffende Verfahrensbeteiligte kraft seines Amtes oder wegen seiner gesellschaftlich hervorgehobenen Verantwortung beziehungsweise Prominenz auch sonst in besonderer Weise im Blickfeld der Öffentlichkeit steht und die Medienöffentlichkeit mit Rücksicht hierauf hinzunehmen hat.

5. Personen, die im Gerichtsverfahren infolge ihres öffentlichen Amtes oder wie der Verteidiger als Organ der Rechtspflege im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, haben nicht in gleichem Maße einen Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte wie eine von dem Verfahren betroffene Privatperson (vgl. BVerfGE 103, 44, 69; 119, 309, 323 f.).

6. Der Ausstrahlungswirkung der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ist Genüge getan, wenn der Vorsitzende Gelegenheit zur Anfertigung von Lichtbild- und Fernsehaufnahmen schafft; dagegen kann aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht eine Pflicht des Gerichts abgeleitet werden, Zwangsmaßnahmen, deren Anordnung die Strafprozessordnung gegenüber dem Angeklagten erlaubt, allein zu dem Zweck anzuordnen, der Presse diejenigen Personen, über die sie zu berichten wünscht, zur Ablichtung vorzuführen.

7. Sitzungspolizeilichen Maßnahmen stellen Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG dar, so dass die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG von dem Zeitpunkt an läuft, in welchem der Beschwerdeführer von der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung – sei es durch Akteneinsicht, sei es in sonstiger Form – in zuverlässiger Weise Kenntnis nehmen konnte.


Entscheidung

552. BVerfG 2 BvR 229/09 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. März 2009 (BGH/LG Münster)

Garantie des gesetzlichen Richters (Zulässigkeit einer Änderung eines gerichtlichen Geschäftsverteilungsplans, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren betrifft; Dokumentationspflichten; Beschleunigungsgebot; Recht auf Verfahrensbeschleunigung); BGH 4 StR 331/08.

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 6 EMRK

1. Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Rich-

ter das Ergebnis der Entscheidung - gleichgültig von welcher Seite - beeinflusst werden kann (vgl. BVerfGE 17, 294, 299; 95, 322, 327). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. BVerfGE 4, 412, 416, 418; 95, 322, 327).

2. Das aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgende Gebot, die zur Entscheidung berufenen Richter so eindeutig und genau wie möglich durch eine generell-abstrakte Regelung für ein Geschäftsjahr im Voraus zu bestimmen, schließt Neuregelungen nicht aus, die die so beschlossene Neuordnung während des laufenden Geschäftsjahres ändern. Diese Neuregelungen müssen aber zum einen der Schriftform genügen und zum anderen im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den berufenen Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt von vornherein ausgeschlossen wird (vgl. BVerfGE 4, 412, 416; 82, 286, 298; 95, 322, 329).

3. In Ausnahmefällen kann auch eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans verfassungsrechtlich zulässig sein, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren betrifft, wenn nur so dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen angemessen Rechnung getragen werden kann. Allerdings bedarf es in solchen Fällen - mit Rücksicht auf die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG - einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen.


Entscheidung

553. BVerfG 2 BvR 49/09 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 10. März 2009 (BGH/LG Mannheim)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (formale Anforderungen an die Erhebung einer Verfahrensrüge in der Revision); Art und Weise der Kompensation von Verfahrensverzögerungen bei der Strafzumessung; Recht auf den gesetzlichen Richter (zulässiges Unterlassen einer Vorlage an den Großen Senat des BGH); BGH 1 StR 568/08.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 EMRK; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 358 Abs. 2 StPO

1. Die Rechtsschutzgarantie verbietet den Gerichten, bei Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen von Voraussetzungen abhängig zu machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfGE 112, 185, 208 m.w.N.).

2. Im Rahmen der Erhebung einer Verfahrensrüge bei einer überlangen Verfahrensdauer sind an Umfang und Genauigkeit der Ausführungen hohe Anforderungen zu stellen, da dem Revisionsgericht ein detailliertes und wirklichkeitsgetreues Bild des Verfahrensablaufs zu bieten ist. Die als Voraussetzung einer solchen Gesamtwürdigung zu stellenden Anforderungen an die Darlegung im Rahmen der Verfahrensrüge dürfen hiernach zwar nicht überspannt werden, so dass es insbesondere bei einem jahrelang währenden Verfahren nicht erforderlich ist, jeden Ermittlungsschritt anzuführen. Jedoch muss ein realistischer Überblick gewährt werden.

3. Die Entscheidung des Großen Senats (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 -, NJW 2008, S. 860), nach der rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen zukünftig dadurch zu kompensieren sind, indem ein Teil der Strafe im Urteil für bereits vollstreckt erklärt wird, ändert nichts an Bewertung der bisherigen Strafzumessungslösung als verfassungsgemäße Form der Kompensation.