HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgaben August und September erscheinen auch in diesem Jahr als Doppelausgabe. Den Inhalt machen insbesondere aus: Zum einen der Aufsatz von Buermeyer zu verfassungsrechtlichen Grenzen der „Online-Durchsuchung“, zum anderen die Entscheidungsrezension von Neuling, welche die Zulassung des staatlichen Zugriffs auf Kontostammdaten durch das BVerfG kritisch beleuchtet.

Der EGMR hat in einer Entscheidung seine Rechtsprechung zur Unverwertbarkeit erfolterter Beweise ausgebaut. Weitere interessante Entscheidungen kommen in dieser Ausgabe besonders vom BGH, der zum Beispiel im Anschluss an den EGMR die Verwertbarkeit von Beweisen eingeschränkt hat, welche in Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit durch Verdeckte Ermittler erlangt worden sind.

Vor allem eine ganze Reihe strafprozessualer Entscheidung regen dazu an, die gesamte Ausgabe einzusehen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

655. EGMR Nr. 36549/03 - Urteil der 3. Kammer vom 28. Juni 2007 (Harutynyan v. Armenien)

Recht auf ein faires Strafverfahren (Beweisverwertungsverbot; Verwertungsverbot bei Beweismitteln, die unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK gewonnen worden sind; Gesamtbetrachtung; Unschuldsvermutung; Selbstbelastungsfreiheit); Folterverbot; redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EMRK; Art. 3 EMRK; Art. 8 EMRK

1. Die Verwertung einer in Verletzung des Art. 3 EMRK gewonnenen Aussage in einem Strafverfahren verstößt auch dann gegen Art. 6 EMRK, wenn das Schuldurteil in dem betroffenen Strafverfahren nicht auf ihrer Verwertung beruht.

2. Ob sich infolge der Verletzung anderer Konventionsrechte bei der Erhebung von Beweismitteln ein Verwertungsverbot für die gewonnenen Beweise gemäß Art. 6 EMRK ergibt, hängt von einer Gesamtbetrachtung ab, in der insbesondere die Natur des begangenen Konventionsverstoßes maßgeblich ist.

3. Beweismittel, die durch Folter erlangt worden sind, dürfen - ungeachtet ihres Beweiswerts - egal ob es sich um Aussagen oder sachliche Beweismittel handelt, niemals zum gesetzlichen Schuldbeweis herangezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn die erzwungenen und verwerteten Aussagen nicht gegenüber den Folternden gemacht und später von den Aussagenden bestätigt worden sind, solange sich eine Fortwirkung der früheren Folter (insbesondere: Furcht vor weiteren Beeinträchtigungen) nicht ausschließen lässt.


Entscheidung

765. BVerfG 2 BvR 965/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. Juni 2007 (OLG Zweibrücken/LG Zweibrücken/AG Zweibrücken)

Recht auf ein faires Verfahren (unzureichende Sachverhaltsaufklärung; fehlerhafte Beweiswürdigung; kindliche Zeugen); allgemeines Willkürverbot.

Art. 6 EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 244 StPO; § 261 StPO

1. Die Rüge einer fehlenden Sachaufklärung anlässlich eines Strafverfahrens, sowie die unzureichende Beweisaufnahme und fehlerhafte Beweiswürdigung unter Verkennung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ durch das Gericht, ist an den Grundsätzen des fairen Verfahrens zu messen. Diese haben insoweit Vorrang vor dem aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ableitbaren Willkürverbot, da sie die stärkere sachliche Beziehung zu dem zu prüfenden Sachverhalt aufweisen (vgl. BVerfGK 1, 145, 149).

2. Nicht jeder Verstoß gegen § 244 oder § 261 StPO und die hierzu von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze stellt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts dar. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich die Fachgerichte - in Wahrung der Unschuldsvermutung der als Täter in Betracht kommenden Person - so weit von der Verpflichtung entfernt haben, auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Strafe sein kann (vgl. BVerfGK 1, 145, 152; stRspr).

3. Die Annahme, dass ein zum Tatzeitpunkt vierjähriges Kind einen geringeren Beweiswert hat, als ein zum Tatzeitpunkt bereits achtjähriges Kind, dessen Aussage ein Sachverständiger als glaubhaft bewertet hat, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.


Entscheidung

649. BVerfG 2 BvR 1042/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. Juni 2007 (BGH/LG Landshut)

Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (Vortrag der tatsächlichen Umstände der behaupteten Grundrechtsverletzung; Aufblähung der Beschwerdeschrift); Effektivität des Rechtsschutzes (strafprozessuale Revision; Darlegungsanforderungen; in einem Beschluss in Bezug genommene Aktenbestandteile); Nichtannahmebeschluss.

Art. 6 EMRK; Art. 19 Abs. 4 GG; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG

1. Der bloße „vollumfängliche“ Verweis auf vorangegangene Schriften des Beschwerdeführers im Instanzenweg genügt den Anforderungen an substantiiertes Vorbringen anlässlich einer Verfassungsbeschwerde nicht. Zumindest die tatsächlichen Umstände, aus denen die Grundrechtsverletzung abgeleitet wird, müssen in der Beschwerdeschrift selbst genannt sein (vgl. BVerfGE 80, 257, 263).

2. Die Garantie effektiven Rechtsschutzes richtet sich auch an den die Verfahrensordnung anwendenden Richter (vgl. BVerfGE 97, 298, 315). Das Gericht darf ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen (vgl. BVerfGE 78, 88, 99; 96, 27, 39).

3. Es begegnet im Hinblick auf die Garantie des effektiven Rechtsschutzes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Vorlage von Aktenbestandteilen in der Revisionsbegründungsschrift gefordert wird, auf die in einem als rechtswidrig gerügten Beschluss (Fehlen einer Katalogtat i.S.d. § 100a StPO) über Verweisung Bezug genommen wird.


Entscheidung

650. BVerfG 2 BvR 1276/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Juni 2007 (OLG Schleswig/LG Lübeck/AG Geesthacht)

Darlegungsanforderungen bei der Begründung der Verfassungsbeschwerde (Durchsuchung; Verwertungsverbot; unzutreffende Annahme von Gefahr im Verzug); Recht auf ein faires Verfahren; Nichtannahmebeschluss.

Art. 6 EMRK; Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG

1. Grundrechtsverletzungen, zu denen es außerhalb der Hauptverhandlung kommt, führen nicht zwingend dazu, dass auch das auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung beruhende Strafurteil gegen Verfassungsrecht verstößt (vgl. BVerfGK 4, 283, 285).

2. Macht der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung durch eine verfassungswidrige Verwertung von Beweisen geltend, so muss er sich in der Begründung der Verfassungsbeschwerde damit auseinandersetzen, welche Folgerungen sich aus dem geltend gemachten Verfahrensverstoß für die Verwertbarkeit der erlangten Erkenntnisse im Urteil ergeben und er muss darlegen, warum ein Verwertungsverbot verfassungsrechtlich geboten und eine anderweitige Kompensation des Verfahrensfehlers verfassungsrechtlich nicht ausreichend sei (vgl. BVerfGK 4, 283, 285 f.).

651. BVerfG 2 BvR 1609/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. August 2007 (OLG Celle) Substantiierung der Verfassungsbeschwerde (Beschleunigungsgebot in Haftsachen; Angabe der nach dem Verfahrensstand gebotenen Maßnahme); keine tatsächliche Würdigung des Sachverhaltes durch das BVerfG (Fehlen von Fluchtgefahr); Nichtannahmebeschluss. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 3 EMRK; § 112 StPO; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG

Bei der Geltendmachung der Verletzung des Beschleunigungsgebots hat der Beschwerdeführer im Einzelnen die nach dem jeweiligen Verfahrensstand gebotene Maßnahme und die damit mutmaßlich zu erzielende Beschleunigung des Verfahrens darzulegen, sofern sich dies nicht aus den sonstigen Umständen des Falles erschließt.


Entscheidung

652. BVerfG 2 BvR 2395/06 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 18. Juni 2007 (LG Koblenz)

Effektiver Rechtsschutz bezüglich einer Fesselung (einstweiliger Rechtsschutz im Strafvollzug; unzulässige Umdeutung eines Leistungsbegehrens in ein im einstweiligen Verfahren unzulässiges Feststellungsbegehren; fehlende Sicherstellung fristgerechten Eingangs einer Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 StVollzG

1. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Der Bürger hat einen substanziellen Anspruch auf gerichtliche Kontrolle (BVerfGE 35, 382, 401 f.; 101, 397, 407). Der Zugang zu den Gerichten darf nicht in einer Weise erschwert werden, die sich aus Sachgründen nicht rechtfertigen lässt. Art. 19 Abs. 4 GG gebietet daher den Gerichten, das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird.

2. Art. 19 Abs. 4 GG kann auch dadurch verletzt sein, dass ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in zeitlicher Hinsicht nicht in einer der Dringlichkeit entsprechenden Weise behandelt wird. Ein solcher Fall liegt dann vor, wenn keine Vorkehrungen zur Prüfung und Sicherung des fristgerechten Eingangs einer Stellungnahme für das entsprechende Verfahren getroffen werden.