HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2006
7. Jahrgang
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Schrifttum

Christian Jäger: Zurechnung und Rechtfertigung als Kategorialprinzipen im Strafrecht, C.F.Mueller, Heidelberg, 2006, XII, 49 Seiten, kart., ISBN 3-811-45236-3, EUR 18,00.

I. Wirft man einen ersten spontanen Blick auf das kleine Büchlein, das aus Jägers Trierer Antrittsvorlesung hervorgegangen ist, so mag man spontan: „Ja“ oder „so ist es“ oder vielleicht sogar „ebenso zutreffend wie banal“ denken – es dürfte völlig unstreitig sein, dass Zurechnung und Rechtfertigung „Kategorialprinzipien“ im Strafrecht sind, und man darf bei einem Buch mit rund 40 Seiten reinem Text auch kaum erwarten, dass zu diesen beiden Prinzipien völlig neuartige Grundlegungen geleistet werden können.

Warum lohnt sich die Lektüre trotzdem? Die Antwort lautet: Weil Jäger sich mit einer eigentlich in der Tat nahe liegenden, gleichwohl jedoch eher selten behandelten Frage befasst, nämlich nach dem Verhältnis beider Prinzipien: Durch die (jedenfalls in der Strafrechtswissenschaft weitgehend erfolgte) Anerkennung der objektiven Zurechnung als tatbestandliches Zurechnungskorrektiv ist die erste spontane Unterscheidung zwischen der Tatbestandsmäßigkeit als mehr oder weniger „statischer“ Unrechtsbegründung und der Rechtfertigung als mehr oder weniger „dynamischer“ Unrechtsausräumung allein nicht mehr geeignet, die Unterschiede vollständig zu beschreiben. Denn obgleich „aufbaumäßig“ im Tatbestand verortet, enthält auch die objektive Zurechnung – so könnte man jedenfalls spontan meinen – einen Zurechnungsausschluss, der eher als „Unrechtsausräumung“ gedeutet werden müsste und nicht weniger dynamisch und vielgestaltig ist als die Rechtfertigungsgründe.

II. Eingerahmt von mehreren Vor- sowie ergänzenden Nachüberlegungen widmet sich Jäger insbesondere in drei Abschnitten seines Buches (S. 9-36) der Unterscheidung zwischen Zurechnung und Rechtfertigung samt ihrer Einordnung bzw. gegenwärtigen Handhabung im System des Verbrechensaufbaus und konkreten Folgerungen aus den von ihm entwickelten Differenzierungen:

1. Nach einer kurzen Einleitung, in der Jäger auf das Institut der objektiven Zurechnung als möglichen „Sprengsatz“ für die einfache Unterscheidung zwischen Unrechtsbegründung und Unrechtsausräumung eingeht, zeichnet er zunächst (S. 3 ff.) Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit als strafrechtliche Grundkategorien nach. Die Entwicklung der Tatbestandslehre wird ausgehend von Beling knapp skizziert und bis zur Idee der Lehre von der objektiven Zurechnung nachverfolgt, für die Jäger insbesondere die Fallgruppen der Risikoverringerung, des Fehlens eines rechtlich relevanten Risikos, der fehlenden Einschlägigkeit des Schutzzwecks der verletzten Norm sowie den fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei rechtmäßigem Alternativverhalten benennt (S. 5 f.). Da hinter all diesen Fallgruppen nun die Grundformel von der Schaffung und Realisierung einer unerlaubten Gefahr stünden, sei es doch erstaunlich, „dass die Frage, weshalb dann nicht alle Rechtfertigungsgründe Zurechnungsausschließungsgründe sind, in der Literatur nicht gestellt wird (…), obwohl sich doch das Problem geradezu aufdrängt, wie die Schaffung einer Gefahr unerlaubt sein kann, wenn das Verhalten durch einen Rechtfertigungsgrund ausdrücklich erlaubt wird“ (vgl. S. 7).

2. Im ersten der drei eingangs beschriebenen „Hauptteile“ widmet sich Jäger der „Bedeutung der Unterscheidung zwischen Zurechnung und Rechtfertigung bei der Auflösung von Wertungswidersprüchen“ (vgl. S. 9 ff.): Den ersten dieser Wertungswidersprüche sieht Jäger darin, dass die freiverantwortliche Selbstgefährdung nach h.L. die Zurechnung ausschließen, die Einwilligung jedoch nur ein Rechtfertigungsgrund darstellen soll, obwohl doch bei letzterer sogar der „Erfolg gewollt“ sei und daher mit Blick auf die Erfolgszurechnung eine noch weitere Wirkung entfaltet werden müsse als bei der bloßen Selbstgefährdung. Ein nächster Wertungswiderspruch bestehe innerhalb des Systems der Rechtfertigungsgründe bei der Haftung aus Unterlassen, soweit die h.M. eine Ingerenzpflicht zwar bei einem nach § 32 StGB gerechtfertigten Handeln ausschließe, bei einer bloßen Rechtfertigung nach § 34 StGB jedoch die Möglichkeit einer Ingerenz für den späteren Unterlassungstäter für möglich halte. Zuletzt weist Jäger auf ein Zurechnungsproblem im Zusammenhang mit der actio illicita in causa hin, wobei (entgegen BGH NJW 2001, 1075) von der h.L. aus Zurechnungsgründen ein Rückgriff auf eine Strafbarkeit wegen der verbotenen Ersthandlung mit dem Argument angenommen werde, „dass der Provozierte sich durch den Angriff selbst gefährde, so dass ihm die Folgen seines Angriffs selbst zurechenbar seinen“. Vor diesem Hintergrund stelle sich aber die Frage, weshalb nicht jeder Angriff eine Art freiverantwortliche Selbstgefährdung und die Notwehr daher ein Zurechnungsausschließungsgrund sei.

3. Gleichsam als „Herzstück“ seiner Überlegungen widmet sich Jäger dann der „Differenz zwischen Zurechnungsausschluss und Rechtfertigungsgrund“ und lehnt dabei zunächst eine formale Differenzierung (Bezeichnung im Gesetz als „nicht rechtswidrig“ o.ä.) ab (vgl. S. 15). Vorzuziehen sei vielmehr eine materielle Differenzierung, wobei zunächst die Jakobs’sche Gleichsetzung von tatbestandslosem mit sozial unauffälligem Verhalten abgelehnt wird, da auch „die den Tatbestand betreffenden Zurechnungsausschlussgründe nur im Verhaltenskontext begreifbar“ seien (vgl. S. 16 f.). Ebenfalls im Ergebnis abgelehnt wird eine in jüngerer Zeit von Rothenfußer entwickelte Differenzierung nach entschädigungsloser oder entschädigungspflichtiger Duldung, da „die Entschädigungspflicht als vermögensrechtliche Folge (…) über die materielle Bewertung des Rechtsguts-

eingriffs selbst nichts aussagen“ könne (vgl. S. 18). Entscheidend sei letztlich vielmehr, ob „der Grund des Erlaubnissatzes allein in der Fremdverantwortung oder gar in einem gänzlichen Fehlen von Verantwortung“ liegt (dann Tatbestandsausschluss) oder ob „der Grund der Erlaubnis (…) in den Verhältnismäßigkeitserwägungen“ liegt (vgl. S. 18 f.). Jäger ist insofern optimistisch, „am Ende (…) hinter allen Fallgruppen des tatbestandlichen Zurechnungsausschlusses“ den Grundgedanken „fehlender rechtlicher Verantwortlichkeit“ entdecken zu können (vgl. S. 19).

4. In seinen „konkreten Folgerungen“ (vgl. S. 21 ff.) stellt Jäger dann Erlaubnissätze dar, die dem Prinzip des Verantwortungsausschlusses verpflichtet sind, und stellt sie solchen gegenüber, die dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind:

a) Zur ersten Gruppe zählt Jäger zunächst die Einwilligung, welche er dann konsequenterweise (im Anschluss an seinen Lehrer Roxin) als Zurechnungsausschluss versteht (vgl. S. 22 f.); die in der jüngeren Diskussion aufgetretene Figur der „hypothetischen Einwilligung“ lehnt Jäger dagegen unter Rückgriff auf die von ihm entwickelten Kriterien (und m.E. jedenfalls im Ergebnis zu Recht) überhaupt ab. Ebenfalls einen generellen Tatbestandsausschluss (jenseits eventueller Nebenwirkungen, vgl. S. 28) nimmt Jäger auch für die behördliche Genehmigung an, da mit dieser letztlich die Verantwortung für die entsprechenden Vorgänge von der genehmigenden Behörde übernommen würde (vgl. S. 27). Ebenfalls ein tatbestandlicher Zurechnungsausschluss soll – entgegen der wohl h.L. – im Anwendungsbereich des § 241a BGB (und zwar insbesondere auch für die Sachbeschädigung) sowie bei der (von der h.M. ebenfalls als Rechtfertigungsgrund verstandenen) Pflichtenkollision vorliegen. Die vielleicht interessanteste Frage in diesem Zusammenhang wirft Jäger hinsichtlich der Notwehr auf (vgl. S. 31 ff.), bei welcher nach seiner Konzeption ebenfalls viel für die Annahme eines Tatbestandsausschlusses gilt, wenn man nicht die – jedenfalls beim Merkmal der Gebotenheit angestellten – Verhältnismäßigkeitserwägungen als prägend betrachtet.

b) Als Erlaubnissätze, die dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sind, werden das Notstandsrecht nach § 34 StGB, das Festnahmerecht nach § 127 StPO sowie die mutmaßliche Einwilligung verstanden. Insoweit bestehen keine Abweichungen von der h.M., die all diese Institute ebenfalls als Rechtfertigungsgrund versteht.

5. Den letzten Abschnitt des Büchleins bilden einige ergänzende Überlegungen, die mit der „Ingerenzprobe als Prüfstein der Unterscheidung“ (vgl. S. 37 ff.) beginnen. Jäger geht hier davon aus, dass mit dem Zurechnungsausschluss auch der Ausschluss einer Unterlassungshaftung aus gefährlichem vorangegangenen Tun verknüpft sei, da hier „das Rechtsgut insgesamt schutzlos gestellt“ sei (vgl. S. 34), während die auf Rechtswidrigkeitsebene angesiedelten Rechtfertigungsgründe „sämtlich eine Ingerenzgarantenstellung“ auslösen müssten (vgl. S. 39), da die „verhältnismäßige Schädigung des Rechtsguts“ dessen schützende Kraft in zeitlicher Hinsicht nicht unbegrenzt beeinträchtigen dürfe. Den Abschluss bilden knappe Überlegungen zur „Bedeutung der dogmatischen Kategorisierung im Lichte einer Europäisierung des Strafrechts“ (S. 41 f.) sowie abschließende Bemerkungen, in denen Jäger noch einmal darauf hinweist, dass auch nach seiner Unterscheidung weiterhin möglich sei, „die Notwehr als Rechtfertigungsgrund zu begreifen. Alles hängt davon ab, wie viel Verhältnismäßiges man im Notwehrrecht erblickt“.

III. Jägers Entwurf geht – obgleich in die Form eines kurzen, umfangmäßig kaum über einen ausführlichen Aufsatz hinausgehenden Buches gekleidet – die von ihm behandelte Problematik grundsätzlich an und bricht in seinen Ergebnissen mit manchem scheinbar gesichertem Erkenntnisstand. Dies fordert auf den ersten Blick notwendigerweise Kritik heraus, die man auch an manchen Einzelpunkten durchaus üben könnte: So bekommt man – nicht zuletzt durch die ostentative Erwägung dieses Punktes in den letzten Zeilen der Arbeit – fast den Eindruck, Jäger habe „Angst vor der eigenen Courage“, wenn er das von ihm gefundene und zweifelsohne „spektakulärste“ Ergebnis zur Notwehr als Tatbestandsausschließungsgrund letztlich doch selbst wieder in Frage stellt und ausgesprochen weich formuliert. Dies um so mehr, als das grundsätzlich durchaus zu Recht angesprochene auch im Notwehrrecht rudimentär vorhanden „Verhältnismäßigkeitselement“ doch ersichtlich als Maßstab für die Erteilung von behördlichen Genehmigungen eine wesentlich größere Rolle spielt, während umgekehrt die Verantwortlichkeit des Angreifers für die Abwehrhandlung des Angegriffenen aufgrund der engen raumzeitlichen Nähe viel klarer ausgeprägt ist als die Verantwortlichkeit der Behörde für die aufgrund der Genehmigung erfolgende Rechtsgutsverletzung. Auch mag man sich fragen, ob das zur Garantenstellung nach einem auf eine mutmaßliche Einwilligung gestützten Verhalten gewählte Beispiel des Eindringens in die nachbarliche Wohnung wirklich überzeugend ist, da die tatbestandliche Struktur des § 123 I StGB insoweit doch eine besondere ist (was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die tradierte Meinung bei § 123 StGB die Möglichkeit eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses annimmt). Zuletzt ist das Ergebnis der „Ingerenzprobe“ wohl nicht so klar, wie Jäger es darstellt, soweit es um das erlaubte Risiko geht. So wird auch bei einer Gefährdung durch verkehrsgerechtes Verhalten eine Ingerenz von einer ernst zu nehmenden Auffassung für möglich gehalten (vgl. nur Otto, Grundkurs AT, 6. Aufl., § 9 Rn. 81; ders., Hirsch-FS, 1999, S. 291, 303 ff.), da durch das erlaubte Risiko eben das Wiederaufleben einer Handlungspflicht bei drohender bzw. eingetretener Realisierung des Risikos gerade nicht immer ausgeschlossen ist, sondern insoweit zwischen dem erlaubten Risiko in Gestalt einer expliziten Verletzungserlaubnis und den Fällen einer nur drohenden Überforderung des Täters durch strengere Maßstäbe zu unterscheiden ist (vgl. näher Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten, 2004, S. 349 f., 412 ff.).

Nimmt man all diese Einzelkritikpunkte ernst, so drängt sich durchaus die Frage auf, ob die Unterscheidung zwischen Zurechnungsausschluss und Rechtfertigungsgrund – so sie überhaupt jenseits historischer Zufälligkeiten stringent durchführbar ist – tatsächlich (nur) auf den von Jäger genannten Prinzipien beruht. Aber auch wenn man diese – vorliegend ohnehin eher als aufgeworfene Fragen denn als durchdachte Gegenstatements zu verstehende – Kritik teilt, ändert dies nichts daran, dass es sich bei Jägers Untersuchung um eine ausgesprochen anregende Lektüre handelt, die in durchgehend klarer Sprache ein breites Spektrum klassischer strafrechtsdogmatischer Problemfelder unter einer in der Tat bisher oft vernachlässigten Perspektive beleuchtet. Für Leser, die an strafrechtsdogmatischen Fragen interessiert sind, ist die Lektüre vielfach geradezu vergnüglich. In gewisser Hinsicht in der Tradition seines Lehrers Roxin, dem der vorliegende Band auch gewidmet ist, befasst sich Jäger mit „klassischen“ strafrechtsdogmatischen Problemen und ringt um deren Durchdringung und vor allem Systematisierung gerade auch jenseits der in der heutigen Hochschullandschaft so gerne geforderten „Anwendungsbezogenheit“ und „Drittmittelfähigkeit“ des Themas und der Gedankenführung.

Prof. Dr. Hans Kudlich , Universität Erlangen-Nürnberg

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Eberhard Kempf, Gabriele Jansen und Egon Müller (Hrsg.): Verstehen und Widerstehen - Festschrift für Christian Richter II; Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2006, ISBN 3-8329-1916-3; 118,- Euro.

Der 65. Geburtstag von Rechtsanwalt Christian Richter II veranlasste den NOMOS-Verlag, eine Festschrift zu Ehren dieses sehr bekannten deutschen Strafverteidigers zu editieren. Entsprechend der herausragenden Stellung in der Verteidigerelite des seit 1974 tätigen Richter II, liest sich das Laudatorenverzeichnis wie das „Who is Who" der deutschen Strafverteidigung. So konnten die Herausgeber für die Festschrift annähernd 50 Autoren gewinnen. Unter anderem erweisen beispielsweise Norbert Gatzweiler, Rainer Hamm, Kristian Kühl, Uwe Maeffert, Peter Rieß, Franz Salditt und Jürgen Welp dem Jubilar die Ehre. Alle Autoren würdigen das Lebenswerk des in der ganzen Republik bekannten und angesehenen Kölner Strafrechtlers mit fachlichen Beiträgen, dogmatischen Abhandlungen oder einfach nur mit Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse und persönliche Anekdoten. Dabei gelingt es dieser Festschrift außerordentlich gut, den Spannungsbogen zwischen fachlichem Anspruch und persönlichem Bezug zum Geehrten herzustellen. Bereits aus diesem Aspekt heraus empfiehlt sich die Lektüre.

Der Kollege Christian Richter II wird von den Herausgebern als unabhängiger Geist charakterisiert. Er sei im Umgang nicht einfach, stets unbestechlich und zumeist gegen den Strich denkend. Er sei der Stratege, der Schachspieler unter uns Strafverteidigern. Seine Tätigkeitsbereiche liegen in allen Bereichen des Wirtschaftsstrafrechts, im Kern-Wirtschaftsstrafrecht des StGB mit Schwerpunkten im Vermögensbereich (dem Betrug, der Untreue, dem Bankrott und der Korruption) genauso wie in medizinstrafrechtlichen, Wertpapier-, Insolvenz- und Steuerstraf­verfahren. Das weite Spektrum der Buchbeiträge korrespondiert mit diesen Tätigkeitsgebieten, so dass sich ein mannigfaltiges strafrechtliches Ensemble entfalten kann.

Das fast 600 Seiten starke Werk enthält z.B. Ausführungen zu den theoretischen Aspekten der Strafverteidigung, den Gründen für eine engagierte und (notfalls) konfliktaufgeschlossen agierende Mandantenbetreuung wie auch bedenkenswerte Ansätze zum Dilemma der freien Beweiswürdigung durch Staatsanwaltschaft und Gerichte („<…> In Deutschland werden Angeklagte regelmäßig aufgrund von Aussagen verurteilt, die man nirgends vollständig und präzise nachlesen und / oder nachhören kann. Das ist kaum zu begreifen. Das Fehlen authentischer Dokumentation lässt Sorgfalt bei der Beweiswürdigung von Grund auf nicht zu, von „besonderer“ ganz zu schweigen .<…>“: Uwe Maeffert).

Nicht zu vergessen ist auch die scharfsinnige, analytische Betrachtung zur Prozessklimaforschung, in der neue Tendenzen der wirtschaftsstrafrechtlichen Verteidigungspraxis beleuchtet und kritisch hinterfragt werden. Hier vertritt Rainer Hamm die These, dass die Klimaverbesserung im Ermittlungsverfahren etwas mit der verbreiteten Praxis der Urteilsabsprache zu tun habe. Die Aussicht auf eine „konsensuale“ Hauptverhandlung sei eben nach einem kooperativ geführten Ermittlungsverfahren größer. Diese „Erosion des Verfahrensrechts durch zunehmende Entformalisierung der Verhandlungs- und Entscheidungsabläufe“ habe ihren Ursprung in der „Entgrenzung des materiellen Rechts“. Mit immer neuen abstrakten Gefährdungsdelikten poenalisiere der Gesetzgeber in bedenklicher Art ein vielfach wertneutrales und damit schutzgutfernes Verhalten. Diese Vermehrung der Zahl von Straftatbeständen habe Konsequenzen: Erstens bewirke sie eine quantitativ größere Aus- und immer weitergehende Überlastung der Justiz. Zweitens schafften „die sich immer mehr vom unmittelbaren Rechtsgüterschutz entfernenden diffusen Strafnormen einen so hohen Grad an Rechtsunsicherheit, dass die nach Art der Dispositionsmaxime den Verfahrensbeteiligten überlassene Verhandlungsmasse der Beliebigkeit und letztlich der willkürlichen Anwendung von Strafrecht überhaupt Vorschub“ leiste.

Demgegenüber interpretiert Peter Kruse die obergerichtliche Rechtsprechung zur Verständigung im Strafprozess vor dem Hintergrund praktischen und effizienten Verteidigungsverhaltens. Obgleich es aufgrund der Verschiedenheit der Verfahrensgegenstände schwer falle, eine typisierende Bestimmung desjenigen Zeitpunktes zu unternehmen, an dem Absprachen mit der Staatsanwaltschaft letztendlich ermöglicht und verbindlich getroffen werden können, plädiert er mit gewichtigen Argumenten für die (kurze) Übergangsphase zwischen Ermittlungsverfahren und Zwischenverfahren. Neben anderen Grün-

den führt er an: „<…> I.Ü. können im Vorverfahren bereits Vollstreckungserleichterungen (offener Vollzug), Halbstrafenmöglichkeiten und zu förderst Strafmilderungsgesichtspunkte durch Offenbarung der Hintermänner, Beibringung der Beute, Einverständnis mit Schadensersatzleistungen usw. erstritten werden, die richterlichen Befugnissen (überwiegend) entzogen sind. <…>“.

Gemäß der in den Beiträgen beschriebenen fachlichen Erwartung des Jubilars an die Akteure im Strafprozeß, beschäftigen sich andere Laudatoren mit zentralen und aktuellen Problemen der Strafverteidigungsdogmatik. Als wolle er zur öffentlichen Diskussion der Bewertung der Verfahrenseinstellung im Düsseldorfer Mannesmann Prozess Stellung beziehen, zeichnet Norbert Gatzweiler ein Anforderungsprofil an Verteidiger im Wirtschaftsstrafverfahren: „<…> Gerade, weil die Anforderungen an Strafverteidiger in Wirtschaftsstrafverfahren angesichts der dargestellten Probleme noch höher geworden sind, muss innerhalb der Strafverteidiger der Kampf gegen den aufgekommenen Defätismus in den eigenen Reihen aufgenommen werden. Der Verlockung, mit erheblich reduzierter Aktenkenntnis, geringem Arbeitseinsatz und wohliger Harmonie mit der Justiz ein schwieriges Verfahren einvernehmlich zu regeln, ohne Chancen und Risiken für den Mandanten zuvor ausgelotet und in eine Gesamtstrategie eingebettet zu haben, muss mit Entschlossenheit entgegengetreten werden <…>“.

Wie eingangs beschrieben, finden sich zu guter Letzt neben diesen materiell- und verfahrensrechtlichen Fachartikeln auch ganz persönliche Erfahrungsberichte über Begegnungen und Phasen der Zusammenarbeit mit dem Jubilar. So verfasste beispielsweise Ludwig Koch II einen Beitrag mit dem Thema "RA Richter als Vorbild", Egon Müller ergänzt die Sammlung um den Beitrag „Von der Verantwortung des Verteidigers - ein Bericht II ‑“. Nicht zuletzt aufgrund solcher Artikel lernt der Leser Facetten der Person Christian Richter II kennen.

Die gelungene Mischung aus Fachdogmatik, praxisorientierter Analyse und persönlichen Widmungen lassen die Beiträge zu einem unverwechselbaren persönlichen Gesamtwerk verschmelzen - einem Gesamtwerk, das mit dem Schlagworten „Verstehen und Widerstehen“ eine Lebensmaxime eines aufrichtigen und hervorragenden Strafverteidiger unserer Zeit würdigt. Wer abseits von Kommentierungen, Aufsätzen und Monografien erfahren möchte, welche Hürden die Strafverteidigung aktuell zu nehmen hat, welchen falschen Verlockungen zu widerstehen ist, muss dieses Werk lesen.

Rechtsanwalt Roman G. Weber, LL.M. Wirtschaftsstrafrecht, Detmold, www.RomAnwalt.de

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Dominik Ziegenhahn: Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen; 587 Seiten, Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 3-428-10905-8; EUR 82,00.

I. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen ist ein Thema von zunehmender Bedeutung. Da es von einer Vielzahl unterschiedlicher Abkommen, anwendbaren Gesetzen und Konventionen, der Europäisierung insbesondere im Rahmen der EU und auch durch den Umgang mit ausländischem Recht geprägt ist, darf das Thema etwa bei der Auslieferung auch als besonders schwierig gelten. Es kommt noch hinzu, dass die internationale Rechtshilfe eine Entwicklung durchgemacht hat und durchmacht, die sie von einem Rechtsphänomen allein zwischen Staaten zu einem Rechtsphänomen werden lässt, das auch durch Individualrechte des Betroffenen bestimmt ist. Hierfür sind vor allem die international anerkannten Menschenrechte ausschlaggebend gewesen, die angesichts nationaler "Grundrechtsexportverbote" (vgl. dazu in krit. Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., § 73 IRG Rn. 14 ff.) auch weiter entscheidend bleiben werden. Diese Entwicklung führt dazu, dass die Staaten im Dickicht der eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen oftmals vor der vermeintlich gestellten Frage stehen, ob sie nun ihre Rechtshilfeverpflichtung oder ihre Menschenrechtsbindung verletzen sollen (vgl. für eine solche Konstellation etwa OLG Stuttgart, Beschl. des 3. Strafsenates 3 Ausl. 109/01 vom 15. April 2004). Genau vor diesem Hintergrund lohnt es, die bereits etwas ältere aber noch immer nutzenbringende völkerrechtliche Dissertation von Ziegenhahn vorzustellen und zur Hand zu nehmen, die sich als wichtige Grundlagenarbeit erweist. Sie zeichnet die Auswirkungen dieses Trends nach, um sodann aufzuzeigen, wozu die Durchdringung des Rechtshilferechts mit menschenrechtlichen Standards führen wird.

 

II. 1. Im ersten Teil der Arbeit stellt Ziegenhahn die Rechtsgrundlagen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen (S. 47-270) dar. Hier führt er eingangs insbesondere in die beteiligten Institutionen auf universeller und auch auf europäischer Ebene ein, wobei der Schwerpunkt - entsprechend dem praktischen Bedarf - auf den europäischen Institutionen und ihren für den Individualrechtsschutz nicht nur förderlichen Kooperationsformen liegt (Europarat, EU, Nordische Passunion, OSZE - S. 66-110). Sodann eröffnet Ziegenhahn dem Leser einen Zugang zu den mannigfaltigen multilateralen, bilateralen und innerstaatlichen Rechtsgrundlagen der Rechtshilfe, indem er diese darstellt (S. 119-178) und anschließend hilfreich systematisiert (S. 178-216). Er bietet so einen guten Überblick über die bestehenden und nicht spannungsfreien Regelungssysteme, die freilich bis in das Jahr 2006 Aktualisierungen zum Beispiel durch den Europäischen Haftbefehl erfahren haben. Gleichsam als Vorbereitung für den zweiten Teil der Arbeit erläutert Ziegenhahn im Anschluss die Rechtsstellung des Einzelnen innerhalb der strafrechtlichen Rechtshilfe (S. 217-270). Hiermit verdeutlicht er für die Auslieferung und für die sonstige Rechtshilfe die moderne und heute anerkannte Ansicht, dass die frühere "zweidimensionale Sichtweise" - also der Blick nur auf die beteiligten Staaten - insbesondere infolge der von Ziegenhahn dargelegten Menschenrechtsquellen einer "dreidimensionalen

Sichtweise" weichen muss, welche die eigenständige Rechtsstellung der von der Rechtshilfe Betroffenen (insbesondere also dem Verfolgten bei der Auslieferung!) auch durch Rechtsschutzmöglichkeiten anerkennt und beachtet.

2. Der zweite Teil des Werks (S. 271-521) zeigt nun auf, welche Schranken der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen aus den Menschenrechten erwachsen. Hierbei handelt es sich gerade vom deutschen Standpunkt des BVerfG, welches das besagte "Grundrechtsexportverbot" vertritt, um praktische Fragestellungen, denn durch die Zurücknahme des nationalen Schutzes kommt es viel eher in Betracht, dass menschenrechtliche Garantien den Einzelnen weitergehend schützen und somit entscheidungserheblich werden. Ziegenhahn legt zunächst ein Fundament für die Schrankenthese, indem er überzeugend die Anwendbarkeit der Menschenrechte auf die Rechtshilfe darlegt und den Status des Einzelnen als einem "beschränkten Völkerrechtssubjekt" begründet (S. 272-315). Nach dieser Grundlegung behandelt er eingehend die Menschenrechte des Völkergewohnheitsrechts, also auch derjenigen Völkerrechtssätze, die als Menschenrechte in Deutschland über Art. 25 GG besondere Geltungskraft erlangen (S. 316-401). Er behandelt und lehnt die vielfach vertretene Auffassung ab, nach der nur ein Mindeststandard an Menschenrechten die Rechtshilfe beschränken könne. Vielmehr finde eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts statt. Sie verleihe zwar Menschenrechten nicht stets den Charakter zwingenden Völkerrechts (ius cogens). Sie etabliere aber Erga-omnes-Normen und damit Pflichten gegenüber der Völkerrechtsgemeinschaft als Ganzer, die im Rahmen von Abwägungen Schranken der Rechtshilfe begründen könnten (siehe etwa S. 325-326, 366-401). Hierbei erörtert Ziegenhahn die oft entscheidende Frage, wann Menschenrechtseingriffe ersuchender Staaten dem um Rechtshilfe ersuchten Staat zurechenbar sind (siehe S. 349-358, auch zur EMRK S. 442-458).

Nach dem Völkergewohnheitsrecht behandelt der Autor pars pro toto die EMRK als Beispiel der Rechtshilfeschranken, die sich aus "Menschenrechten des Vertragsrechts" ergeben (S. 402-520). Wer verfolgt hat, dass das Garantieniveau der Konventionsmenschenrechte auch in jüngerer Zeit zunehmend gestiegen ist, den verwundert nicht, dass Ziegenhahn dabei gerade durch die EMRK als Teil des europäischen ordre public beträchtliche Schranken gezogen sieht, die nach seiner Darstellung weit über das Völkergewohnheitsrecht hinaus gehen. Ihren Bindungen komme die Wirkung von ius cogens zu. Der Autor erwartete dabei über die von ihm etwa zu Art. 2, 3, 5, 6 und 8 EMRK bereits rechtsprechungsnah dargelegten menschenrechtlichen Standards hinaus auch Steigerungen und Fortentwicklungen des Konventionsstandards. Zum Beispiel bei der streitigen und bisher verneinten Frage, ob Art. 6 EMRK auf das Auslieferungsverfahren anwendbar ist, tritt er für die Anwendung des Art. 6 EMRK ein, die er auch in Zukunft erwartet (S. 426-430), was - übertrüge man sie tatsächlich auf Art. 5 I lit. c EMRK entgegen Art. 5 I lit. f. EMRK - beträchtliche und wohl zum Teil auch heilsame Folgen für das Verfahrensschicksal von Verfolgten hätte. Zumal Ziegenhahn so auch Fortentwicklungen der Konventionsstandards behandelt, ist es schade, dass er noch keine Gelegenheit hatte, mögliche Fortentwicklungen von Auslieferungsschranken zum Europäischen Haftbefehl zu untersuchen, die sich etwa mit Blick auf den Fortfall der beiderseitigen Strafbarkeit gemäß Art. 7 EMRK ergeben dürften (vgl. zur von Ziegenhahn schon erkannten Vernetzung von beiderseitiger Strafbarkeit und Rückwirkung den Hinweis auf S. 435). Die Darstellungen zum Auslegungsstand der Konventionsrechte sind dabei jeweils hilfreich. Zu Art. 13 EMRK scheinen sich bezüglich seiner Voraussetzungen und seiner Anwendbarkeit aber Ungenauigkeiten eingeschlichen zu haben, da diese Norm keine tatsächlich vorliegende Verletzung fordert und heute zum Teil auch auf Art. 6 EMRK Anwendung findet (vgl. S. 434 und Demko HRRS 2005, 403 ff. sowie Meyer-Ladewig, 2. Aufl. EMRK, Art. 13 Rn. 5).

3. Ziegenhahn fasst die Ergebnisse seiner Arbeit konzise zusammen (S. 522-525). Vor allem aber unterbreitet er im letzten Kapitel seiner Arbeit beachtliche rechtspolitische Vorschläge (S. 526-529). So legt er Deutschland die Hochstufung der EMRK zu Verfassungsrecht und eine Überprüfung seines Rechtshilferechts auf die Vereinbarkeit mit der EMRK nahe. Mehr noch rät er dazu, Menschenrechtsklauseln standardisiert in die Verträge über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen aufzunehmen. Die Ordre public-Klausel des § 73 S. 1 IRG soll in Bezug auf die Wahrung der für Deutschland verbindlichen Menschenrechte klarstellend angepasst werden. Dabei reichen seine Vorschläge sehr weit, werden doch etwa auch umfangreiche Verwertungsverbote und Rechtshilfeverweigerungsrechte unter Verweis auf "fundamentale Rechte" der innerstaatlichen Rechtsordnung angeregt. Zu den Klauseln in Bezug auf die EMRK sieht Ziegenhahn Deutschland auch verpflichtet.

III. Die Arbeit von Ziegenhahn stellt sich als ein materialreiches Kompendium dar, das schon angesichts des vergleichsweise dürftigen Literaturangebots zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen eine große Hilfe auch aus Sicht des Praktikers sein dürfte. Beeindruckend ist auch das Ausmaß deutscher, englischer, französischer, italienischer und niederländischer Literatur, die Ziegenhahn für die Erstellung der Arbeit herangezogen, für die er auch einen Forschungsaufenthalt in Brüssel und Straßburg unternahm. Hilfreich wird auch die schweizerische und österreichische Rechtslage sowie Rechtsprechung weiterer europäischer Staaten einbezogen (vgl. etwa S. 298-303). Der Arbeit kommt das Verdienst zu, die menschenrechtliche Durchdringung der strafrechtlichen Rechtshilfe eingehend dargelegt zu haben. Es steht zu hoffen, das auch im Rahmen der zahlreichen Aktivitäten der EU auf diesem Gebiet beachtet wird, dass die internationale Rechtshilfe nicht mehr nur eine Frage darstellt, bei der sich allein die beteiligten Staaten irgendwie einigen müssen, um zu einer tragfähigen Rechtshilfepraxis zu gelangen. Auch hier muss die "dreidimensionale Sichtweise" greifen, die jeden von Rechtshilfemaßnahmen belastend Betroffenen als Rechtsinhaber betrachtet, demgegenüber man Rechtseingriffe nicht allein mit dem

pauschalen Hinweis auf das Gebot internationaler Zusammenarbeit leugnen oder rechtfertigen kann. Oder, um es mit Ziegenhahn zu sagen: Die mit der zunehmend international angelegten Kriminalität gebotene "Transnationalisierung der Verbrechensbekämpfung" muss durch eine entsprechende "Transnationalisierung des Individualrechtsschutzes" begleitet werden.

Karsten Gaede , Hamburg