HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe Juli publiziert insbesondere die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR, mit der Deutschland für einen zwangsweisen Brechmitteleinsatz wegen der Verletzung des Folterverbots verurteilt worden. Der Begründungsgang und die Folgen dieser umfangreichen Grundsatzentscheidung werden in einem Besprechungsaufsatz vorgestellt. In der Publikationssparte findet sich des Weiteren insbesondere eine Anmerkung von Prof. Dr. Gerhard Fezer zur jüngeren Rechtsprechung des 1. Strafsenats.

Weitere publizierte Entscheidungen betreffen zum Beispiel den "Fall Babycaust" (Entscheidung des BVerfG), eine - vom BGH verneinte - Höchstgrenze bei der Strafzumessung infolge geringer Lebenserwartung und Reaktionen der angefragten Strafsenate des BGH im Anfrageverfahren zur "Rügeverkümmerung", die der 1. Strafsenat nunmehr wünscht.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

562. EGMR Nr. 54810/00 (Große Kammer) - Beschluss vom 11. Juli 2006 (Jalloh v. Germany)

Einsatz von Brechmitteln; Selbstbelastungsfreiheit (Schutzbereich; faires Verfahren; Verwertungsverbot bei Beweismitteln, die in Verstoß gegen Art. 3 EMRK gewonnen worden sind; Gesamtbetrachtung); Folterverbot (unmenschliche und erniedrigende Behandlung; Menschenwürde; Verhältnismäßigkeit); Recht auf Privatleben; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und der EMRK; redaktioneller Hinweis.

Art. 3 EMRK; Art. 8 EMRK; Art. 6 EMRK; Art. 35 EMRK; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 81a StPO; § 136a StPO; § 90 Abs. 2 BVerfGG

1. Deutsche Brechmitteleinsätze zur Erlangung von Beweismitteln gemäß § 81a StPO lassen sich vor der EMRK nicht mit dem Argument rechtfertigen, man habe die Gesundheit des Betroffenen schützen wollen.

2. Zwangsweise medizinische Eingriffe, die zur Aufklärung von Straftaten beitragen sollen, werden von der EMRK nicht per se untersagt. Jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der mit dem Ziel der Beweismittelerlangung ausgeführt wird, muss zur Wahrung des Art. 3 EMRK einer strikten Prüfung unterzogen sein, bei der die folgenden Faktoren von besonderer Bedeutung sind: Das Ausmaß, in dem der zwangsweise medizinische Eingriff zur Erlangung von Beweismitteln erforderlich gewesen ist; die vorhandenen Gesundheitsrisiken für den Verdächtigen; die Art und Weise, wie der Eingriff durchgeführt worden ist; der physische Schmerz und das mentale Leiden, das verursacht worden ist; der Umfang der vorhandenen medizinischen Überwachung und die Folgen für die Gesundheit des Verdächtigen. Im Licht all dieser Umstände des Einzelfalles darf der Eingriff nicht das Maß an Schwere erreichen, das ihn zu einem Fall des Art. 3 EMRK macht. Zu einem Einzelfall der Verletzung des Art. 3 EMRK durch einen Brechmitteleinsatz, bei dem keine erheblichen Folgen für die Gesundheit des Betroffenen belegt worden sind (vgl. näher die Besprechung in diesem Heft 7/2006).

3. Die Verwertung eines in Verletzung des Verbots der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gewonnenen Beweismittels verstößt jedenfalls dann

gegen Art. 6 EMRK, wenn es das wesentliche Beweismittel im Verfahren gegen den gemäß Art. 3 EMRK Verletzten darstellt, ein Ausschluss des Beweismittels nach nationalem Recht mit Blick auf Art. 3 EMRK wegen der Rechtmäßigkeit der Behandlung nach nationalem Recht nicht erlangt werden konnte und es um die Verfolgung eines vergleichsweise minder schweren Falls des Drogenhandels ging. Es bleibt offen, ob es stets automatisch auch gegen Art. 6 EMRK verstößt, wenn ein unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK erlangtes Beweismittel in einem Strafprozess Verwendung findet. Werden Beweismittel aber durch Folter i.S. des Art. 3 EMRK erlangt, ist unabhängig vom Beweiswert und der Art der Beweismittel eine Verwertung auszuschließen.

4. Die Selbstbelastungsfreiheit des Art. 6 EMRK schützt auch vor der mit erheblicher körperlicher Gewaltanwendung verbundenen zwangsweisen Überwindung des Beschuldigtenwillens, mit der das unnatürliche Erbrechen von Beweismitteln bewirkt werden soll (Weiterentwicklung der Saunders-Rechtsprechung; zu einem Einzelfall der Verletzung durch einen deutschen Brechmitteleinsatz vgl. die genannte Besprechung).


Entscheidung

563. BVerfG 1 BvR 49/00 - Beschluss vom 24. Mai 2006 (BayObLG; LG Nürnberg-Fürth; OLG Nürnberg)

Meinungsfreiheit (drastische Äußerungen; Abtreibung; "Babycaust"; "Kinder-Mord"; "Tötungs-Spezialist für ungeborene Kinder"; räumlicher Kontext der Meinungsäußerung; Auslegung); Beleidigung (zum Nachteil einer kommunalen Klinikträgerin; individuell betroffene natürliche Person; Beleidigungsabsicht); Abwägung (schwer wiegende Persönlichkeitsverletzung; Schmähkritik); Strafzumessung (presserechtliche Verantwortlichkeit); zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch (Auslegung; andere Maßstäbe als bei strafrechtlicher Verurteilung; keine Verkürzung bei Inanspruchnahme von Rechtsschutz); Schuldgrundsatz.

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 185 StGB; § 823 Abs. 1 BGB; § 823 Abs. 2 BGB; § 1004 BGB

1. Selbst eine polemische oder verletzende Formulierung entzieht eine Äußerung nicht dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 93, 266, 289 f.).

2. Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Schmähung, so ist dies nur dann ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn das Gericht aus diesem Grund eine Abwägung unterlässt oder fehlerhaft vornimmt und die Entscheidung hierauf beruht (vgl. BVerfGE 82, 272, 281; 93, 266, 294). Ist das Gericht jedoch erkennbar in eine Abwägung eingetreten und sind die hierbei angestellten Erwägungen für sich genommen verfassungsrechtlich tragfähig, so wird das Ergebnis dieser Abwägung nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Fachgericht unzutreffend das Vorliegen von Schmähkritik bejaht hat (vgl. BVerfGK 4, 54, 59).

3. Bei der Erfassung des Sinns einer Äußerung haben fern liegende Deutungen außer Ansatz zu bleiben (vgl. BVerfGE 93, 266, 296).

4. Die strafrechtliche Einordnung von Äußerungen als Beleidigung einer juristischen Person oder als so genannte Kollektivbeleidigung unterliegt unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen. Im Hinblick auf Hoheitsträger kann die Anwendbarkeit der Ehrenschutzvorschriften der §§ 185 ff. StGB nicht auf das natürlichen Personen zustehende Persönlichkeitsrecht gegründet werden. Strafrechtlicher Ehrenschutz kann hier allerdings das Ziel verfolgen, dasjenige Mindestmaß an öffentlicher Anerkennung zu gewährleisten, das erforderlich ist, damit die betroffenen staatlichen Einrichtungen ihre Funktion erfüllen können.

5. Wollen die Gerichte von einer Beleidigung Einzelner durch Verwendung einer Kollektivbezeichnung ausgehen, so haben sie dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds umso schwächer wird, je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht.

6. Durch eine unzutreffende Deutung von Äußerungen darf weder die Meinungsfreiheit noch der grundrechtliche Schutz des Persönlichkeitsrechts verkürzt werden (vgl. BVerfG NJW 1999, 483, 484).

7. Die Regeln zur Behandlung mehrdeutiger Äußerungen sind unterschiedlich, je nachdem, ob über eine strafrechtliche Sanktion für die erfolgte Äußerung zu entscheiden ist oder ob über einen Anspruch auf deren zukünftige Unterlassung entschieden wird (vgl. BVerfG NJW 2006, 206, 208 f.).

8. Für strafrechtliche oder zivilgerichtliche Sanktionen, die an eine Äußerung anknüpfende, gilt im Interesse der Meinungsfreiheit, insbesondere zum Schutz vor Einschüchterungseffekten bei mehrdeutigen Äußerungen, der Grundsatz, dass die Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die dem Äußernden günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen worden sind (dazu vgl. BVerfGE 82, 43, 52; 94, 1, 9).

9. Steht hingegen ein zukunftsgerichteter Anspruch auf Unterlassung künftiger Persönlichkeitsbeeinträchtigungen in Frage, wird die Meinungsfreiheit nicht verletzt, wenn von dem Betroffenen im Interesse des Persönlichkeitsschutzes anderer verlangt wird, den Inhalt seiner mehrdeutigen Aussage gegebenenfalls klarzustellen. Geschieht dies nicht, sind die nicht fern liegenden Deutungsmöglichkeiten zu Grunde zu legen und es ist zu prüfen, ob die Äußerung in einer oder mehrerer dieser Deutungsvarianten zu einer rechtswidrigen Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts führt (vgl. BVerfG NJW 2006, 207, 208 f.). Diese Grundsätze gelten für Tatsachenaussagen wie auch für Werturteile.

10. In einem Rechtsstaat, der den Bürgern die Verfolgung ihrer Rechte garantiert, darf die Inanspruchnahme von Rechtsschutz nicht zum Anknüpfungspunkt für eine Minderung der Belange des Persönlichkeitsrechts gewählt werden.


Entscheidung

567. BVerfG 2 BvR 836/04 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. Februar 2006 (BGH/LG Köln)

Recht auf den gesetzlichen Richter (Gewährleistung des unbefangenen Richters; Willkür; Richter in eigener Sache); Auslegung und Anwendung des § 26 a StPO (reine Formalentscheidungen; völlige Ungeeignetheit der Begründung; kein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand); Behandlung der fehlerhaften Anwendung des § 26a StPO in der Revision (keine Prüfung der hypothetischen Begründetheit; zwingende Zurückverweisung; Beschwerde); rechtliches Gehör (verkürzte Behandlung des Vorbringens der Verteidigung); redaktioneller Hinweis.

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 26a StPO; § 338 Nr. 3 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

1. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfGE 10, 200, 213 f.; 89, 28, 36).

2. Eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286, 299).

3. § 26 a StPO ermöglicht nur echte Formalentscheidungen. Die Vorschrift ist eng auszulegen. In Fällen, in denen die Frage der Unzulässigkeit nicht klar und eindeutig zu beantworten ist, wird es nahe liegen, das Regelverfahren nach § 27 StPO zu wählen, um jeden Anschein einer Entscheidung in eigener Sache zu vermeiden. Auf Fälle "offensichtlicher Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs darf das vereinfachte Ablehnungsverfahren - vorbehaltlich einer anderweitigen gerichtlichen Regelung - wegen des sonst vorliegenden Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht ausgedehnt werden.

4. Bei der Anwendung des § 26 a Abs. 1 Nr. 3 StPO ist darauf Bedacht zu nehmen, dass die zu Nr. 2 der Vorschrift erkannten verfassungsrechtlichen Probleme nicht in die Prüfung der Verschleppungsabsicht oder der Verfolgung verfahrensfremder Zwecke verlagert werden.

5. Die Auffassung, ein Ablehnungsgesuch, dessen Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung des Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet sei, einem Ablehnungsgesuch ohne Angabe eines Ablehnungsgrundes gleichsteht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

6. Völlige Ungeeignetheit in diesem Sinne wird dann anzunehmen sein, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig aus.

7. Bei der Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs ist das Gericht in besonderem Maße verpflichtet, das Ablehnungsgesuch seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls wohlwollend auszulegen. Überschreitet das Gericht bei dieser Prüfung die ihm gezogenen Grenzen, so kann dies seinerseits die Besorgnis der Befangenheit begründen (BVerfG NJW 2005, S. 3410, 3412).

8. Im Fall der Überdehnung des Anwendungsbereichs von § 26 a Abs. 1 Nr. 2 StPO darf das Revisionsgericht nicht über die hypothetische Begründetheit des Ablehnungsgesuchs entscheiden, sondern hat vielmehr gerade darüber zu entscheiden hat, ob die Grenzen der Vorschrift des § 26 a Abs. 1 Nr. 2 StPO eingehalten wurden. Jedenfalls bei einer willkürlichen Überschreitung des von § 26 a Abs. 1 Nr. 2 StPO gesteckten Rahmens hat das Revisionsgericht die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben und die Sache an das Tatgericht zurückzuverweisen.

9. Mit Blick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist es verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn das Revisionsgericht auch in den Fällen, in denen ein Ablehnungsgesuch willkürlich und unter Verletzung des grundrechtsgleichen Anspruchs des Angeklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Ablehnungsverfahren als unzulässig verworfen worden ist, lediglich prüft, ob das Ablehnungsgesuch in der Sache erfolgreich gewesen wäre.


Entscheidung

564. BVerfG 2 BvR 1675/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Mai 2006 (LG Bielefeld)

Recht auf effektiven Rechtsschutz (Eilrechtsschutz im Strafvollzug; Wirksamkeit; innerhalb angemessener Zeit); drohende prozessuale Überholung (zu lange Stellungnahmefristen; Disziplinarmaßnahmen); Entscheidung ohne schuldhaftes Zögern (unverzügliche Verwerfung unzulässiger Anträge; kurze Stellungnahmefristen; fernmündliche Stellungnahme der Anstalt; Übermittlung per Fax); Verfassungsbeschwerde (Rechtsschutzbedürfnis; Wiederholungsgefahr).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 S. 1 GG; § 104 Abs. 1 StVollzG

1. Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Ver-

halten der öffentlichen Gewalt. Er gewährleistet dabei nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern garantiert auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 35, 263, 274; 35, 382, 401 m.w.N.).

2. Gerichtlicher Rechtsschutz muss soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorkommen, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150, 153; 65, 1, 70).

3. Bei seiner Entscheidung nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG ist das angerufene Gericht verpflichtet, ohne weiteres Zögern in der jeweils situationsgerechten Weise tätig zu werden:

a) Ist etwa der Antrag nicht schlüssig begründet, so kann es den Antrag sofort als unzulässig verwerfen, sofern es nicht Anlass hat, sich durch Rückfrage - gegebenenfalls fernmündlich - beim Beschwerdeführer oder bei der Justizvollzugsanstalt ergänzende Klarheit zu verschaffen. Dies gilt auch für mangelnde Darlegungen zur Interessenabwägung.

b) Ist der Antrag hingegen ausreichend begründet und kommt das Gericht - etwa aufgrund einer Nachfrage bei der Justizvollzugsanstalt (auch fernmündlich) - zu dem Ergebnis, dass der Vortrag des Antragstellers glaubhaft ist, so hat es aufgrund einer Abwägung nach dem Maßstab des § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG über die Aussetzung der Maßnahme zu entscheiden. Bei besonders belastenden Eingriffen wird das Gericht auch eine vorläufige Aussetzung ohne Abwarten einer Äußerung der Justizvollzugsanstalt in Betracht zu ziehen haben.


Entscheidung

565. BVerfG 2 BvR 1693/04 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 31. Mai 2006 (OLG Frankfurt am Main/LG Gießen)

Strafrechtliche Verfolgbarkeit von Verstößen gegen die Schulpflicht aus religiösen Gründen; Grundrecht auf Religionsfreiheit; Elterngrundrecht und staatlicher Erziehungsauftrag (Gemeinwohlinteresse; legitimer Zweck; Meinungsneutralität; Konfrontation mit anderen Meinungen); praktische Konkordanz; Berücksichtigung religiöser Überzeugungen bei Strafzumessung und im Strafverfahren (Verhältnismäßigkeit; Gewissenskonflikt; Zumutbarkeit rechtmäßigen Alternativverhaltens); Nichtannahmebeschluss.

Art. 4 Abs. 1 GG; Art. 7 GG; Art. 6 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 2 GG; § 182 Abs. 1 HessSchulG; § 59 StGB

1. In Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert, gewährt Art. 4 Abs. 1 GG das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Danach ist es Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln (vgl. BVerfGE 41, 29 44, 47 f.) und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten (vgl. BVerfGE 93, 1, 17).

2. Das keinem Gesetzesvorbehalt unterliegende Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG ist aber Einschränkungen zugänglich, die sich aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu gehört der dem Staat in Art. 7 Abs. 1 GG erteilte Erziehungsauftrag (vgl. BVerfGE 34, 165, 181; 93, 1, 21). Im Einzelfall sind Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Erziehungsauftrag des Staates im Wege einer Abwägung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen (vgl. BVerfGE 93, 1, 21).

3. Stellt der Staat bestimmte Handlungen unter Strafe, kann die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG auch die Art und das Maß der zulässigen Sanktionen beeinflussen. Betätigungen und Verhaltensweisen, die aus einer bestimmten Glaubenshaltung fließen, sind daher nicht ohne Weiteres jenen Sanktionen zu unterwerfen, die der Staat für ein solches Verhalten bei Fehlen einer religiösen Motivation vorsieht. Vielmehr ist jeweils zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens erfüllt. Daran fehlt es, wenn der Täter sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auflehnt, sondern sich in eine Grenzsituation gestellt sieht, in der die allgemeine Rechtsordnung mit dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit tritt und er die Verpflichtung fühlt, hier dem höheren Gebot des Glaubens zu folgen.

4. Der bewusste Verstoß gegen Strafnormen ist jedoch auch im Lichte von Art. 4 Abs. 1 GG nicht als Mittel der Wahl, sondern nur als letzter Ausweg aus einem ansonsten unauflöslichen Konflikt zwischen staatlichen und religiösen Verhaltensanforderungen hinzunehmen. Wer es bewusst unterlässt, den Gewissenskonflikt durch nahe liegende andere rechtmäßige Handlungsalternativen zu lösen, kann sich regelmäßig nicht darauf berufen, sich aus einer seelischen Zwangslage heraus gegen die Rechtsordnung auflehnen zu dürfen. In diesem Fall ist dem Staat die Feststellung strafrechtlicher Schuld nicht von vornherein verwehrt; einer von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten religiösen Motivation kann dann im Einzelfall bei der Bestimmung der Sanktion, auch durch Einstellungen des Verfahrens nach §§ 153, 153 a StPO oder die Anwendung des § 59 StGB, angemessen Rechnung getragen werden.


Entscheidung

566. BVerfG 2 BvR 820/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Mai 2006 (LG Mannheim/AG Mannheim/BGH)

Recht auf Eigentum (Arrest in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren); Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Arrest auf das gesamte Vermögen); richterliche Prüfung (Anforderungen; Darlegung; auf Einzelfall bezogene Darstellungen; keine formelhaften Begründungen; unzureichende Auseinandersetzung mit Zeugenaussagen); Verfall wenn Beschuldigter Beauftragter, Vertreter oder Organ einer juristischen Person ist (regelmäßige Trennung).

Art. 14 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 111 e Abs. 1 Satz 1 StPO; § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 73 Abs. 3 StGB

1. Nicht nur die entsprechenden Normen des Prozessrechts, sondern auch der Schutz des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG verlangen vom Ermittlungsrichter und dem Rechtsmittelgericht, dass sie die tatsächlichen Grundlagen einer Arrestanordnung selbst ermitteln und ihre rechtliche Auffassung unabhängig von der Exekutive gewinnen und begründen.

2. Im Rahmen der eigenen richterlichen Prüfung müssen die Voraussetzungen des Eingriffs und die umfassende Abwägung zur Feststellung seiner Angemessenheit mit auf den Einzelfall bezogenen Ausführungen dargelegt werden. Schematisch vorgenommene Anordnungen oder formelhafte Bemerkungen in den Beschlussgründen vertragen sich mit dieser Aufgabe nicht (vgl. BVerfGE 15, 275, 282; 107, 299, 325).

3. Wird im Wege vorläufiger Sicherungsmaßnahmen das gesamte oder nahezu das gesamte Vermögen der Verfügungsbefugnis des Betroffenen entzogen, fordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht lediglich eine Vermutung, dass es sich um strafrechtlich erlangtes Vermögen handelt; vielmehr bedarf dies einer besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, damit der Betroffene dagegen Rechtsschutz suchen kann (vgl. BVerfGK 5, 292, 301).

4. Die pauschale Annahme eines Vermögensvorteils auch beim Organ der durch die Tat begünstigten Gesellschaft oder einer gesamtschuldnerischen Haftung in Bezug auf eine Verfallsanordnung findet in den Vorschriften des § 73 Abs. 1 und 3 StGB keine Stütze, und eine so begründete Arrestanordnung kann am Maßstab des Art. 14 Abs. 1 GG keinen Bestand haben (BVerfGK 5, 217, 221 f.).