HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe Dezember hat aus Anlass einer bemerkenswerten Entscheidung des BVerfG zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen erneut die Verfahrensbeschleunigung zum Hauptthema. Der Beitrag von Oberass. Dr. Daniela Demko (LLM) zu den Art. 6 und 13 EMRK wird fortgesetzt und mit dieser Ausgabe abgeschlossen. Die genannte Entscheidung des BVerfG wird in einem HRRS-Praxishinweis vorgestellt.

Aus der weiteren Rechtsprechung des BGH sollen die im Ansatz so erfreulichen wie auch im Ergebnis inkonsequenten Entscheidungen des BGH zur Belehrung mittelloser Inhaftierter über das Recht auf Verteidigerkonsultation genannt sein. Die Vorlageentscheidung zum Anspruch auf Einzelunterbringung während der Ruhezeit verdeutlicht auch mit ihrem restriktiven Tenor wie wenig sich im deutschen Strafvollzug in dieser Hinsicht getan hat.

Die Redaktion wünscht Ihnen erholsame Weihnachtstage und hofft, dass auch diese Ausgabe der HRRS auf Ihr Interesse stößt.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

900. BVerfG 2 BvR 1964/05 - Urteil vom 5. Dezember 2005 (OLG Düsseldorf)

Recht auf Freiheit der Person (Beschleunigungsgrundsatz; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; verfahrensabschnittsbezogene Detailprüfung; Terminierung der Hauptverhandlung; eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft trotz einer vorausgegangenen, dem Begehren des Beschwerdeführers stattgebenden Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts; Bindungswirkung von Kammerentscheidungen; gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen bei langandauernder Untersuchungshaft); Recht auf Verfahrensbeschleunigung; Recht auf ein faires Verfahren (Waffengleichheit; rechtliches Gehör; Unschuldsvermutung); Vollstreckungsanordnung durch das BVerfG; redaktioneller Hinweis.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 31 Abs. 1 BVerfGG; § 35 BVerfGG; § 168c StPO

1. Eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung liegt schon dann vor, wenn ein erstinstanzliches Urteil aufgehoben wird und eine Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erfolgt, weil das ergangene Urteil verfahrensfehlerhaft war (vgl. hierzu bereits den Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2005 - 2 BvR 109/05 -, StV 2005, 220, 223; auch BVerfG K NJW 2005, 3485, 3487). Es bedarf hierbei keiner Entscheidung, ob der ausschlaggebende Verstoß ein kaum verständlicher Rechts- oder Verfahrensfehler ist. Maßgebend ist allein, ob er offensichtlich der Justiz oder dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist.

2. Im Rahmen der von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies bedingt eine auf den Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen.

3. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat kann die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz kleinerer Verfahrensverzögerungen gerechtfertigt sein. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren

und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden.

4. Dauert die Untersuchungshaft bereits ein Jahr an, so kann schon eine Verzögerung um einen Monat oder sechs Wochen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzen.

5. Ist es in vorausgegangenen Verfahrensabschnitten zu erheblichen Verfahrensverzögerungen gekommen, verpflichtet das Beschleunigungsgebot das Revisionsgericht regelmäßig dazu, das Verfahren in besonderer Weise zu fördern und für eine rasche Bearbeitung des Rechtsmittels Sorge zu tragen. Letzteres gilt vor allem dann, wenn eine Aufhebung des Urteils unter Zurückverweisung der Sache infolge eines der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers im Raum steht.

6. Zur Wahrung des Beschleunigungsgebots muss das Bemühen des Gerichts erkennbar sein, Zeugen und Sachverständige auf eine effiziente Art zu laden und einen straffen Verhandlungsplan festzulegen (vgl. hierzu auch EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 - Individualbeschwerde Nr. 49746/99 (Rechtssache Cevizovic/Deutschland) -, StV 2005, 136, 138). Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen wird verletzt, wenn lediglich an einem Sitzungstag pro Woche für wenige Stunden verhandelt wird und sich die Hauptverhandlung dadurch über Monate hinzieht, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.

7. Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte regelmäßig, dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen. So wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhält, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkung für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zum dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen (vgl. BVerfGE 46, 17, 29; m.w.N.), verpflichtet er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht im Einklang stehenden überlangen Verfahrens zu sorgfältiger Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann. Dementsprechend ist ein Haftbefehl aufzuheben, wenn die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig ist.


Entscheidung

935. EGMR Nr. 6563/03 - Urteil vom 4. Oktober 2005 (Shannon gegen Großbritannien - 4. Kammer)

Schweigerecht und Selbstbelastungsfreiheit (Grundsätze des Schutzes gemäß Art. 6 EMRK; Anwesenheitspflicht bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren durch Finanzbehörden; unzulässiger Aussage- und Anwesenheitszwang gegenüber Finanzbehörden ohne Verwertungsverbot im Strafverfahren; Steuerstrafverfahren); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 393 AO

1. Wird eine im Sinne der EMRK angeklagte Person verpflichtet, bei einem Verhör durch Finanzbehörden anwesend zu sein und Fragen auch zum Tatvorwurf zu beantworten, ist Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verletzt, wenn die Finanzbehörden die Informationen an die strafrechtlichen Ermittlungsbehörden weitergeben dürfen. Besondere Sicherheitsbedürfnisse [hier: Nordirland] begründen hiervon keine Ausnahme.

2. Zum Schutz des Art. 6 EMRK gegen die zwangsweise Erlangung von Information vom Beschuldigten (vgl. § 32 und § 36 der Entscheidung).