HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2005
6. Jahrgang
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Schrifttum

Tim Busch: Die deutsche Strafrechtsreform. Ein Rückblick auf die sechs Reformen des deutschen Strafrechts (1969 - 1998), Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen (NF), Band 47, Nomos-Verl.-Ges., Baden-Baden, 2005, 332 Seiten, brosch., ISBN 3-8329-1051-4, EUR 64,-.

I. Die Neuerungen des StGB durch das 6. Strafrechtsreformgesetz (StrRG) sind mittlerweile annähernd acht Jahre in Kraft. Man wird zwar annehmen müssen, dass noch nicht alle dadurch möglicherweise entstandenen Probleme auch nur in den Blick gefallen (geschweige denn gelöst worden) sind; zu den Streitfragen, die sich in den ersten Jahren nach dem Reformgesetz rasch aufgetan haben, sind die Diskussionen jedoch zumindest im Wesentlichen abgeebbt. Noch vielmehr gilt dies selbstverständlich für die vorangegangenen fünf großen Strafrechtsreformgesetze.

Busch geht es freilich in seiner von Ostendorf betreuten Kieler Dissertation auch nicht um dogmatische Einzelfragen, die sich aus unterschiedlichen Gesetzesfassungen vor oder nach einer Reform ergeben könnten, sondern er möchte sich in "Rückblick auf die bisherigen sechs Reformen des Strafgesetzbuches (…) im Schwerpunkt der Frage" widmen, "ob die mit den Reformvorhaben verbundenen Reformziele erreicht worden sind" (vgl. S. 23). Zu diesem Zweck werden in vier (nicht wie auf S. 23 steht: "fünf") Teilen zunächst ein geraffter Überblick über die Geschichte des (kodifizierten) deutschen Strafrechts sowie über die Entwicklungen bis zum Beginn der Reformgesetzgebung in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben, die einzelnen Reformgesetze nach ihrem Hintergrund, den damit verfolgten Zielen und ihren wesentlichen Inhalten dargestellt, zu jedem der Reformgesetze eine "Bilanz" etwa auf der Basis von amtlichen Statistiken sowie Erfahrungsberichten vorgelegt sowie schließlich die Reformgesetzgebung bewertet und einem Ausblick zugeführt.

II. Der erste Teil (S. 27-50) ist der Geschichte des (kodifizierten) deutschen Strafrechts von 1871 - 1969 gewidmet: Nach einer gerafften Darstellung der Entwicklung von den Partikulargesetzbüchern über die Strafgesetzbuch für den norddeutschen Bund bis zum Reichsstrafgesetzbuch 1871 werden zunächst Reformbestrebungen vor dem 1. Weltkrieg skizziert (S. 29 ff.). Schon damals (!) gab es Stimmen, die das RStGB eher als Abschluss einer Entwicklung denn als Vision für ein neues Strafrecht betrachteten. Kritikpunkte betrafen dabei sowohl die kriminalpolitische Konzeption als auch straftheoretische Grundlagen sowie Einzelheiten der dogmatischen Ausgestaltung. Reformarbeiten, die etwa auf dem 26. Juristentag geleistet worden waren, wurden letztlich jedoch wegen des Ausbruchs des 1. Weltkriegs nicht angegangen.

Weitere historische Abschnitte sind die Reformbemühungen in der Weimarer Republik (vgl. S. 33 ff.) mit den Entwürfen von 1919, 1922, 1925 und 1927, die Entwicklung des Strafrechts im Dritten Reich (vgl. S. 36 ff.) mit einer Reihe von Spezifika nationalsozialistischer Strafgesetzgebung (aber auch mit Neuerungen, die sich bis heute im StGB finden) sowie schließlich die Reformbemühun-

gen in Deutschland bis zum Beginn der großen Strafrechtsreformen (vgl. S. 39 ff.); hier werden insbesondere die Arbeit der großen Strafrechtskommission sowie wichtige Eckpunkte aus dem E 1962 und dem Alternativentwurf dargestellt.

III. Im ersten von zwei umfangreichen (gewissermaßen Haupt-)Teilen werden auf den S. 51 ff. die sechs Reformgesetze zwischen 1969 und 1998 zunächst näher dargestellt. Diese Darstellung ist dabei nicht zuletzt deswegen eingängig und gut lesbar, weil sie immer einer einheitlichen Struktur (politisch/gesellschaftlich/historischer Hintergrund; übergeordnete Ziele; Änderungen im Einzelnen) folgt:

1. Für das 1. StrRG vom 25.6.1969 (S. 51 ff.) wird als historisch-politischer Hintergrund das Wirken der großen Koalition (die dann im September 1969 von der sozialliberalen Koalition abgelöst wurde) beschrieben. In dieser ließen sich auf relativ breiter Ebene Übereinstimmungen mit Blick auf eine (zumindest gewisse) Liberalisierung des Strafrechts finden. Ein wesentlicher Punkt war insoweit die Modernisierung des Sanktionensystems (in Gestalt der Einführung einer einheitlichen Form der Freiheitsstrafe, einer Neuerung des Maßregelsystems sowie der Erweiterung der Bewährungsmöglichkeiten). Auf der Ebene der Straftatbestände wurden einerseits im Bereich des Sexualstrafrechts erste nicht mehr zeitgemäße Vorschriften modifiziert bzw. gestrichen (vgl. S. 65 ff.), andererseits aber auch neue Vorschriften für einen verbesserten Rechtsgüterschutz angesichts veränderter tatsächlicher Verhältnisse eingefügt, so insbesondere die Vorschriften über die Fälschung technischer Aufzeichnungen in § 268 StGB.

2. Gewissermaßen als Einheit mit dem 1. StrRG ist auch das 2. StrRG vom 4.7.1969 zu sehen, dessen Hintergrund und Ziele insoweit identisch sind. Vor allem sollte die (letztlich bereits von der Großen Strafrechtskommission vorbereitete und durch den AE gedanklich ebenfalls mit beeinflusste) Reform des allgemeinen Teils abgeschlossen werden. In diesem Rahmen wurden insbesondere die Vorschriften über die "Lehre von der Straftat" im Wesentlichen in die gegenwärtige Form gebracht. Daneben gab es aber auch hier Änderungen im Sanktionensystem (etwa durch die Einführung des Tagessatzsystems oder eine Neufassung der Führungsaufsicht).

3. Das 3. StrRG vom 20.5.1970 war demgegenüber thematisch im Wesentlichen auf die Vorschriften der §§ 110 ff., 123 ff. beschränkt. Historisch-politischer Hintergrund war die - nicht zuletzt im Zuge der Studentenbewegung - aktuelle Frage, ob das Demonstrationsstrafrecht sowie sonstige Vorschriften, die das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und (insb. sich politisch betätigender) Bevölkerung noch zeitgemäß waren und den vom Bundesverfassungsgericht mittlerweile auch stärker konkretisierten Anforderungen der Art. 5, 8 GG entsprachen. Entsprechend beschreibt Busch hier im Rahmen des Abschnittes über die Änderungen der einzelnen Strafvorschriften (S. 81 ff.) auch vergleichsweise ausführlich die verfassungsrechtliche Problematik der bis dahin geltenden Vorschriften.

4. Zentraler Gegenstand des 4. StrRG vom 23.11.1973 war das Familien- und Sexualstrafrecht. Hintergrund der gesetzgeberischen Aktivitäten war hier der gesellschaftliche Wandel gegenüber der Situation im Jahre 1871 (bzw. im Jahre 1943, in dem die Vorschriften zum Schutz der Familie teilweise neu gestaltet worden waren). Ziel der Reform war eine Beschränkung der Strafgewalt und eine strenge Ausrichtung am Rechtsgüterschutzdogma, d.h. die Überprüfung der einzelnen Vorschriften dahingehend, ob sie nicht nur (im Übrigen durchaus ambivalente) gesellschaftliche Moralvorstellungen, sondern auch in ihrer Sanktionierung legitime Rechtsgüter schützten. Resultat war eine vielfach weniger strenge Fassung oder gar Streichung der entsprechenden Vorschriften.

5. Thematisch noch enger gefasst war der Gegenstand des 5. StrRG vom 18.6.1974, in dem (i.V.m. dem 15. Strafrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr 1976) das Abtreibungsstrafrecht neu geregelt wurde. Auch insoweit war der gesellschaftliche Wandel der Grund für die gesetzgeberische Annahme einer Reformbedürftigkeit, die den besseren Ausgleich der kollidierenden Interessen zum Ziel haben sollte, wodurch die Interessen der Schwangeren insbesondere durch die Einräumung bestimmter legaler Abbruchmöglichkeiten gewährleistet werden sollte. Zentrale Bedeutung kommt in diesem Kontext auch der Entscheidung des BVerfG E 39, 1 zu, welche bei Busch in ihren Leitsätzen und ihrem wesentlichen Inhalt wiedergegeben wird (vgl. S 125 f.) und welche dann auch den Inhalt des 15. Strafrechtsänderungsgesetzes maßgeblich beeinflusste.

6. Nach fast einem Vierteljahrhundert, in dem das StGB zwar weitere bedeutsame Änderungen erfuhr (etwa durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität), diese jedoch (zumindest terminologisch) nicht unter den voraussetzungsvolleren Titel eines "Reformgesetzes" gepackt wurden, wurde am 26.1.1998 das am 1.4.1998 in Kraft getretene 6. StrRG erlassen. Hintergrund dieser Reform war zum einen der Wille, die Reformgesetzgebung - an die das 6. StrRG ausdrücklich anschließen sollte - zu einem Abschluss zu bringen; freilich ist das hierbei ganz zentrale Ziel der Strafrahmenharmonisierung zumindest teilweise auch im Zusammenhang mit geänderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinsichtlich der Stufung der durch die verschiedenen Strafvorschriften geschützten Rechtsgüter zu sehen. Zentrale Ziele waren mithin die Harmonisierung der Strafrahmen, teilweise eine stärkere Ausdifferenzierung desselben sowie auch die Behebung von verschiedenen Auslegungszweifeln; genannt wird aber auch die Streichung nicht mehr zeitgemäßer Strafvorschriften (wobei prominentestes Beispiel die Privilegierung des § 217 a.F. ist). Die konkrete Durchführung zur Erreichung dieser Ziele (die insb. bei den §§ 223 ff., 242 ff. und 306 ff. StGB ansetzte) dürften dem Leser ebenso bekannt sein wie die in der Folgezeit vielfach am Vorgehen des Gesetzgebers und an seinen Ergebnissen geübte Kritik der Literatur.

IV. Im dritten Teil der Arbeit zieht Busch eine Bilanz der Strafrechtsreformgesetze. Hierzu werden etwa Statistiken (insb. die PKS) vor und nach dem jeweiligen Reformen ausgewertet und somit die "Rechtswirklichkeit" vor und nach der Gesetzesänderung gegenübergestellt. Daneben werden auch Erfahrungsberichte aus der Literatur ausgewertet. Neben dieser Frage nach einem "Greifen" der Reform werden auch gesetzliche Weiterentwicklungen auf den Gebieten, auf denen sich die Reform jeweils abgespielt hat, in den Blick genommen.

Die Bilanz für das 1. und 2. StrRG wird naheliegenderweise zusammengezogen. Insgesamt meint Busch, die Gesetzesänderungen "in ihrer Gesamtheit als Fortschritt gegenüber der vorherigen Rechtslage" bewerten zu können, da insbesondere im "Bereich des Sanktionssystems (…) ein Großteil der angestrebten Veränderungen erreicht worden" sei (vgl. S. 192). Exkursartig werden im Weiteren neuere Pläne zur Reform des Sanktionensystems dargestellt (vgl. S. 193 ff.). Auch das 3. StrRG wird von Busch im "Rückblick (…) als eine erfolgreiche und gebotene Gesetzesänderung angesehen" (vgl. S. 222).

Ebenso wird das 4. StrRG als "aus heutiger Sicht (…) sachgerechte Gesetzesnovelle bewertet" (vgl. S. 255); gerade die Straftaten zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung sind freilich dessen ungeachtet in der Folgezeit noch häufig (insb. durch das 33. Strafrechtsänderungsgesetz aus dem Jahre 1997 sowie durch das 6. StrRG) weiter modifiziert worden, was von Busch auch ausführlich nachgezeichnet wird. Das 5. StrRG mit seinen Bemühungen zur Liberalisierung und teilweisen Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs stellt erst den Beginn einer Entwicklung dar; die nachfolgenden Gesetzesänderungen werden von Busch nachgezeichnet und insgesamt "im Einklang mit der internationalen Tendenz zur Liberalisierung der Schwangerschaftsabbruchs" gesehen (S. 277), so dass auch das durch das 5. StrRG zumindest angestoßene Reformvorhaben aus Sicht des Verfassers insgesamt zu einem positiven Abschluss gekommen ist.

Zum 6. StrRG gibt es naturgemäß noch wenig Erfahrungswerte hinsichtlich der etwaigen Entwicklung bei der statistisch erfassten Kriminalität. Die auch von Busch teilweise nachgezeichnete Kritik an der technischen Umsetzung der Reform, die in der Literatur geübt wurde, dürfte im Wesentlichen bekannt sein; ferner weist Busch aber auch auf Zweifel an der Effizienz von stark strafrechtsorientierten Modellen der Sozialsteuerung hin. Insgesamt sieht Busch im 6. StrRG eine Manifestation eines - nicht nur in diesem Gesetz deutlich geworden - kriminalpolitischen Paradigmenwechsels, in dem Strafrecht in den Worten von Kritikern zur "prima-ratio politischer Problemlösungen geworden" sei (vgl. S. 306).

V. Im vierten Teil bring Busch eine Gesamtbewertung und einen Ausblick, wobei er insgesamt eine positive Bilanz der strafrechtlichen Reformgesetzgebung zieht und einige langfristige Entwicklungslinien darstellt: Diese liegen nach Ansicht von Busch in den 50-er und 60-er Jahren des 20. Jahrhundert in einer "Säuberung" von unerwünschten Elementen eines nationalsozialistischen Strafrechts sowie einer gewissen Liberalisierung (die jedoch durchaus Gegenstand eines Richtungsstreits gewesen sei). Die 70-er Jahre seien dann durch die Entscheidung zugunsten groß angelegter (liberaler) Reformen entstanden. Während in den 80-er Jahren im Wesentlichen Stillstand geherrscht habe (was freilich nur für die Reformgesetzgebung i.e.S. gilt, während auf der "kleinen Ebene" der Änderungsgesetze in dieser Zeit durchaus Einiges passiert ist), sei in den 90-er Jahren die innere Sicherheit (wieder) stärker ins Blickfeld geraten. Zwei kurze abschließende Abschnitte sind dem Thema "Medienberichterstattung und Strafgesetzgebung" sowie "Ansatzpunkten für eine Bekämpfung der Kriminalität" gewidmet.

VI. Der Verfasser hat eine erhebliche Menge an Stoff zusammengetragen und teilweise analysiert und interpretiert. Möglicherweise klingt aber "zusammengetragen" zu negativ - stellenweise ist die Untersuchung (insb. für einen "Spätgeborenen") geradezu spannend zu lesen, insbesondere wenn die Reformen in einem größeren historischen Kontext eingeordnet werden und dabei (im zweiten Teil der Arbeit ohnehin, gelegentlich aber auch im dritten Teil) nicht nur statistisches Material dargestellt, sondern auch Entwicklungslinien aufgezeigt werden.

Gerade wer diese Reformen selbst nicht (bewusst) miterlebt hat, wird durch die Darstellung der kriminalpolitischen Ausgangspunkte (aber auch durch die Bewertung des Nutzens der Reformen) einigen Verständnisgewinn verzeichnen können. Vieles von dem, was Busch zusammenträgt, kann zwar anderenorts (Gesetzesmaterialien, Statistiken) ebenfalls nachgelesen werden; aber dies ist ja nicht nur streng genommen bei dem Inhalt der meisten Bücher nicht anders, sondern regelmäßig wird sich sonst auch kaum jemand die Mühe machen, nur zur näheren Einordnung einer Gesetzesänderung die "Archive" derart zu durchforsten. Insoweit ist das Buch von Busch nicht nur eine interessante Lektüre, sondern mag gelegentlich auch als Hilfsmittel bei der (zumindest wissenschaftlichen) Alltagsarbeit mit Gewinn zur Hand gezogen werden können.

Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg.

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Gerd Pfeiffer: Strafprozessordnung. Kommentar. 5., neu bearb. Auflage, 1183 Seiten, Euro 68,-; C.H.Beck München 2005.

Anfang des Jahres 2005 hat Pfeiffer die 5. Auflage seines (Kurz)Kommentars zur StPO, dessen 1. Auflage aus dem Jahr 1995 stammt, vorgelegt. Wenn ein solches Werk innerhalb von 10 Jahren fünfmal neu aufgelegt wird, kann man sicherlich mit Fug und Recht behaupten, dass es sich am Markt durchgesetzt hat und die anfänglichen Bedenken - "brauchen wir eigentlich noch einen StPO -Kommentar?" - nicht berechtigt waren. Das hat sicherlich

auch mit dem anderen Konzept zu tun, mit dem Pfeiffer und Fischer, der die 1. Auflage noch mitbetreut hat, ein Lücke geschlossen haben. Sinn und Zweck des Werks ist die schnelle Information des Lesers im Ablauf des Strafverfahrens. Daher beschränkt sich das Werk vor allem auf die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung, das Schrifttum wird nur eingeschränkt dargestellt. Das hat Nachteile für denjenigen, der eine Problematik gründlicher bearbeiten muss. Denjenigen will der Autor aber auch gar nicht erreichen bzw. demjenigen muss klar sein, dass er neben dem "Pfeiffer" auf andere Hilfsmittel, insbesondere also auf Großkommentare, zurückgreifen muss. Das einschränkende Konzept hat jedoch für den, der eine schnelle Auskunft sucht, den Vorteil, dass er nicht unnötigen Ballast erfährt, sondern den Stand der obergerichtlichen Rechtsprechung zu seinem Problem. Das ist in der Hektik der täglichen Arbeit, vor allem aber im manchmal gar nicht zu vermeidenden Stress einer Hauptverhandlung, ein erheblicher Vorzug. In dem Zusammenhang darf man allerdings nicht verkennen, dass die Beschränkung auf die Rechtsprechung dann jedoch dazu führt, dass in der Diskussion die Kritik an dieser Rechtsprechung natürlich, weil nicht darauf hingewiesen wird, zu kurz kommt.

Das Werk ist durchweg auf dem Rechtsstand vom 1. 11. 2004, berücksichtigt also das im September 2004 in Kraft getretene 1. Justizmodernisierungsgesetz. Zum Teil ist der Stand noch aktueller. So weit ersichtlich ist die seit Erscheinen der Vorauflage ergangene Rechtsprechung eingearbeitet und berücksichtigt. Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen wörtlichen Zitate aus Entscheidungen. Mit Recht ist bereits darauf hingewiesen worden, dass es manchmal nützlich sein, den genauen Wortlaut einer Entscheidung zu kennen bzw. referieren zu können (vgl. Schmidt NJW 2005, 1916). Geschrieben ist der Kommentar in einer klaren und präzisen Sprache.

Fazit: Alles in allem ein Werk, dass einen schnellen und sicheren Überblick über die Rechtsprechung ermöglicht. Wer sich darüber hinaus informieren will, muss auf andere Werke zurückgreifen. Das ist aber bei dem maßvollen Preis des "Pfeiffer" ohne weiteres möglich.

Richter am OLG Detlef Burhoff , Münster/Hamm.

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Fabian von Lindeiner: Willkür im Rechtsstaat? - Die Willkürkontrolle bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen. Duncker & Humblot, Schriften zum Öffentlichen Recht, 259 Seiten, ISBN: 3428107853, 66,- €, Berlin 2002.

I. Wie bereits ihr Titel klar stellt, behandelt die zu besprechende Dissertation die mit der Aura des Skandalösen verbundene Willkür gerichtlicher Entscheidungen. Der Vorwurf richterlicher Willkür kann trotz seiner Objektivierung durch das BVerfG zu Ermittlungen wegen Rechtsbeugung anregen - man denke an das OLG Naumburg ("Fall Görgülü") - und bleibt ganz allgemein jedem einmal davon betroffenen Fachrichter im Gedächtnis. Vor allem aber ist die Willkürkontrolle durch das BVerfG eine verfassungsrechtlich nicht unproblematische und schwer zu handhabende Überprüfung der Fachgerichtsbarkeit auf ihren ureigenen Kompetenzfeldern. Mit ihr können Entscheidungen - ohne dass es eines Vergleichs mit anderen Entscheidungen oder mit Vergleichsgruppen bedürfte - für sich genommen wegen "objektiver Willkür" gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Von Lindeiner stellt sich verdienstvoll die Aufgabe, diese Willkürkontrolle vor dem Hintergrund der problematischen Abgrenzung zum "einfachen Recht" und zur Fachgerichtsbarkeit verfassungsdogmatisch zu hinterfragen. Obschon die bereits im Titel aufscheinende Intuition, dass Willkür im Rechtsstaat keinen Bestand haben darf, auch bei von Lindeiner nicht zu verkennen ist, streitet er mit seiner Abhandlung für eine fundierte Begründung des heute verfassungspraktisch unangefochten Art. 3 Abs. 1 GG entnommenen, aber doch ganz verbreitet als konturenlos verstandenen Willkürverbots.

II. Von Lindeiner unternimmt seine Untersuchung in sieben Kapiteln, denen als achtes Kapitel eine Zusammenfassung folgt. Während das erste Kapitel Gegenstand (vgl. I.) und Gang erläutert (S. 19 bis 24), skizziert das zweite Kapitel knapp die historischen Ursprünge und Entwicklungen des Gleichheitssatzes, um den Leser sodann in die vorherrschende Auslegung und den Streitstand zu Art. 3 Abs. 1 GG einzuführen (S. 25-39). Das dritte Kapitel widmet von Lindeiner einer genauen Analyse der Rechtsprechung des BVerfG einschließlich seiner Kammern (S. 40-87). In dieser Darstellung betont er eingangs die wichtige Differenzierung zwischen der Prüfung des Gleichheitssatzes als spezifisches Verfassungsrecht auf der einen und dem Willkürverbot auf der anderen Seite. Er zeichnet sodann nach, wie sich die eigentliche Willkürrechtsprechung insbesondere durch BVerfGE 4, 1 ff., BVerfGE 42, 64 ff. und BVerfGE 89, 1 ff. entwickelt hat. Die Kriterien des Willkürverbots und ihre Fallgruppen werden dargestellt. Schon hier verschweigt er nicht, dass die Kriterien keine Stringenz verbürgen (S. 55 ff., 63 f.), letztlich ein "Arkanum des Gerichts" bleiben (S. 86 im Anschluss an Böckenförde). Der Autor untersucht insoweit, ob Ermessensleitlinien wie die Schwere des Fehlers oder die Intensität des mit der Willkür verbundenen Grundrechtseingriffs Unterschiede ausmachen. Als Teil der Analyse zur Rechtsprechung wird sodann - auch unter Rekurs auf das Sondervotum Geiger zu BVerfGE 42, 64 ff. - die Reaktion von Praxis und Wissenschaft vertieft dargestellt, wobei von Lindeiner treffend die Einwände der Subsidiarität gegenüber der Prüfung spezifischen Verfassungsrechts, die mangelnde Vergleichsprüfung und die Kritik an der "Willkürlichkeit der Willkürrechtsprechung" als Haupteinwände herausarbeitet.

Da das BVerfG - was von Lindeiner herausstreicht - die Ableitung des Willkürverbots eher postuliert als begründet hatte (S. 44 f.), untersucht von Lindeiner im folgenden vierten Kapitel diejenigen Begründungsansätze zu einem allgemeinen Willkürverbot, die zum Ende der

Weimarer Republik im Vordringen befindlich waren (S. 88-116) und die im Wesentlichen auf den späteren Verfassungsrichter Leibholz zurückgehen. Da wesentliche Ansätze des BVerfG-Ansatzes mit dem von Leibholz propagierten Ansatz übereinstimmen, liegt diese Untersuchung nahe, wenngleich sie für die vom BVerfG vorgenommenen Modifizierungen (zu diesen vgl. S. 94 ff.) von vornherein keine Lösung sein kann. Von Lindeiner stellt die Lehre von Leibholz dar und verwirft sie als eigentliche Begründung, indem er seine im Wesentlichen auf Rechtsvergleichung und Rechtsphilosophie beruhende Argumente als inkonsequent oder wenig aussagekräftig zeigt (vgl. S. 102 ff.). Im Rahmen dessen bietet von Lindeiner einen - nach seiner vorherigen Verwerfung des rechtsvergleichenden Arguments als solchem (S. 106) eigentlich erstaunlichen - knappen Überblick, wie (Verfassungs-)Gerichte anderer Staaten den Gleichheitsgrundsatz heute handhaben (S. 108 ff.). Hierbei bleibt die Erkenntnis zurück, dass das heutige Willkürverbot in seiner Grundausprägung ein Phänomen des deutschsprachigen Rechtsraums ist, dem forensisch offenbar der Ansatz des schweizerischen Bundesgerichtes Pate stand. Näher nachgegangen wird dem freilich nicht mehr.

Von Lindeiner unternimmt nun einen erfolgreichen eigenen Begründungsversuch. Im fünften Kapitel zeigt er, dass auf der Ebene der Handlungsnorm, also der materiellen Auslegung des Grundrechts, im Willkürverbot eine überzeugende subjektivrechtliche Gewährleistung der Rechtsanwendungsgleichheit liegt (vgl. S. 117-138). Vermittelt über die Grundsätze der Methodenlehre und über die schon vom Gesetzgeber über das "einfache Gesetzesrecht" vorgenommene Gleichheitsdifferenzierung in Form von bestimmten Tatbeständen und Rechtsfolgen wird gezeigt, dass eine falsche Rechtsanwendung für sich genommen - ohne Vergleich zu weiteren Urteilen oder Vergleichsgruppen - den Anspruch auf eine gesetzmäßige und damit gleiche Behandlung verletzt: Eine nach den Grundsätzen der Methodenlehre falsche Entscheidung negiert die Gleichheitsentscheidung des Gesetzgebers und verletzt so den von ihr Betroffenen. Einzelne Einwände gegen eine Erfassung der Rechtsanwendungsgleichheit (etwa das "Robinson-Problem") lehnt von Lindeiner danach überzeugend ab.

Er verkennt nun jedoch nicht, dass die Rechtsanwendungsgleichheit kaum "in Reinform" durch das BVerfG geprüft werden kann. Er begeht aber nicht den in der Diskussion gemachten Fehler - mit entsprechenden Auffassungen setzt er sich im fünften und sechsten Kapitel auseinander -, die Rechtsanwendungsgleichheit deshalb als eigentlichen Ansatzpunkt für das Willkürverbot wieder zu verwerfen. Vielmehr prüft und begründet er im sechsten Kapitel insbesondere mit der wohlbegründeten Differenzierung zwischen verfassungs- bzw. materiellrechtlicher Handlungsnorm und der verfassungsgerichtlichen Prüfungsnorm, weshalb eine eingeschränkte Kontrolle durch das BVerfG im Ergebnis möglich und mit der Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit vereinbar ist (vgl. S. 139-194). Von Lindeiner erörtert dabei materielle und funktionale Gründe für die Beschränkung der Rechtsanwendungsgleichheitsprüfung durch das BVerfG, nach der nicht jede falsche Rechtsanwendung, sondern nur eine willkürlich falsche Rechtsanwendung eine verfassungsgerichtlich revisible Verletzung darstellt. Hier geht er insbesondere auf die Problematik einer Überschneidung von verfassungsgerichtlichem und einfachrechtlichem Rechtsmaßstab ein. Ebenso erörtert er treffend, inwiefern sich diese Prüfungskompetenz mit den Zuständigkeiten der Fachgerichtsbarkeiten vereinbaren lässt (S. 162 ff.).

Im Rahmen dieses Kapitels ist von Lindeiner bestrebt, die auch von ihm als vage erkannten Kriterien des BVerfG ("tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit"; "schlechthin unvertretbar"; "bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich") für das zur falschen Rechtsanwendung hinzutretende spezifische Willkürelement zu konkretisieren (S. 172-183). Er schlägt vor, sich in erster Linie an der Verfehlung des einfachen Rechts und ergänzend zentral an den Grundsätzen der Methodenlehre zu orientieren. Die Eingriffsintensität einer Maßnahme verwirft er als Kriterium; die Evidenz bei der Prüfung einer Verfassungsbeschwerde soll als ermessensleitender Gesichtspunkt hingegen zu beachten sein. Ebenfalls noch in diesem Kapitel entwickelt von Lindeiner den Grundansatz, wie richterliche Willkür zu prüfen ist, wenn gerade keine gesetzliche Regelung das richterliche Vorgehen vorherbestimmt (S. 184 ff.). Im Anschluss an das BVerfG soll sich die gebotene Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG an derjenigen orientieren, die beim Gesetzgeber erfolgt (Stichwort: "Schumannsche Formel") und dabei die "neue Formel" (BVerfGE 55, 72 ff., vgl. S. 35 ff.) auch gegenüber der Rechtsprechung als differenzierteres Prüfungsprogramm zum Tragen kommen (S. 184-193).

Das siebente Kapitel fragt nun nachträglich, ob auch andere Verfassungsnormen einen vielleicht leistungsfähigeren und überzeugenderen Ansatz für ein Willkürverbot beinhalten. Dieser eher kurz gehaltene Abschnitt (S. 195-218) handelt das Rechtsstaatsprinzip (gedacht in Verbindung mit der Elfes-Konstruktion über Art. 2 I GG), die klassischen Abwehrrechte, Art. 1 I GG und die Verfahrensgarantien des Grundgesetzes (einschließlich des fairen Verfahrens) ab. Von Lindeiner gesteht hier dem Rechtsstaatsgebot seinerseits zu, dass es für die Entwicklung eines Willkürverbots zur Verfügung steht. Er bezweifelt aber, dass dieser Weg - gerade auch infolge der subjektiven Konstruktion über Art. 2 I GG - zu einer klareren Form des Willkürverbots führen könnte. Die übrigen Abwehrgrundrechte können für von Lindeiner die Rechtsanwendungsgleichheit nicht aus sich heraus so als spezifisches, verfassungsgerichtlich revisibles Verfassungsrecht erfassen, dass ein allgemeines Willkürverbot darauf gestützt werden könnte. Schließlich will er die Menschenwürde nicht zur kleinen Münze machen (S. 213 f.) und er zeigt, dass die Verfahrensgarantien von ihrer Reichweite keinen Ersatz für ein an Art. 3 Abs. 1 GG ansetzendes Willkürverbot sein können.

Der Arbeit ist ein Anhang beigefügt, der alle veröffentlichten Senats- und Kammerentscheidung bis einschließ-

lich 2000 angibt und statistisch auswertet, in denen Willkür bejaht worden ist.

III. Die gut zu lesende Dissertation von Lindeiners erhellt einen Großteil der so unklaren wie erforderlichen Willkürkontrolle durch das BVerfG. Schön zeigt von Lindeiner, dass die Rechtsanwendungsgleichheit als ausschlaggebender Ansatz für eine Willkürkontrolle durch das BVerfG gemäß Art. 3 Abs. 1 GG tauglich ist. Von Lindeiner gibt eine im Ganzen stimmige Erklärung, die zeigt, weshalb die Alternativen der Reduktion schon des materiellrechtlichen, fachgerichtlichen Maßstabes auf ein Willkürverbot und der Verwerfung einer verfassungsgerichtlichen Willkürkontrolle nicht überzeugen können. Leider muss man freilich konstatieren, dass auch von Lindeiner nicht möglich gemacht hat, was wohl auch unmöglich ist: Die Vagheit des Willkürkriteriums konnte von Lindeiner nicht beseitigen, wenngleich er mit dem Blick auf die Methodenlehre jedenfalls das Argumentationspotential bereichert haben sollte. Die Willkürprüfung muss weiterhin als allenfalls wenig bestimmt gelten. Wahrscheinlich sind aber tatsächlich allein die heute zitierten Wertungsgebote ("tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit"; "schlechthin unvertretbar") möglich, über deren Einlösung am Fall man oft streiten kann: Schon die bei einer relativen Gleichheitsgarantie nicht gänzlich zu eliminierenden Bezüge zu streitigen Gerechtigkeitsvorstellungen (vgl. nur S. 103 f.: Differenzierungskriterien der Gleichheitsgarantie selbst sind zunächst unbestimmt) sprechen hierfür; mit der funktional begründeten Herabsetzung des Kontrollmaßstabes steht auch der vergleichsweise scharfe Gesetzesmaßstab nicht mehr zur Verfügung. Die Wertungsgebote fungieren aber als Selbstdisziplinierung und als bedeutsame Darlegungsobliegenheit für das BVerfG. Die Fachgerichte wiederum können sich "schützen", indem sie schon die für die Prüfung des BVerfG überhaupt konstitutiven Verstöße gegen das einfache Recht vermeiden oder eine methodengerechte Prüfung streitiger Rechtsfragen demonstrieren. Angesichts der institutionellen Legitimation des BVerfG und der Wertungskontrolle seiner Entscheidungen durch eine öffentliche Kritik wird daher die kaum besser mögliche aber zur Wahrung der Rechtsanwendungsgleichheit sinnvolle Willkürkontrolle gemäß Art. 3 Abs. 1 GG zu befürworten sein. Aus Sicht des Rezensenten ist lediglich zu ergänzen, dass die richtige und wichtige Differenzierung nach Handlungsmaßstab und Kontrollmaßstab dabei nicht dazu verführen darf, die fachgerichtlichen Prüfungen des "einfachen Rechts" nur noch nach vergröberten Willkürmaßstäben durchzuführen (vgl. schon Gaede HRRS 2005, 319, 325 ff. m.w.N. zu Art. 101 I 2 GG): Die Fachgerichte haben das - gerade auch wegen Art. 3 Abs. 1 GG! - in seiner eigenen Dignität nicht herabzuwürdigende "einfachrechtliche Gesetzesrecht" einschränkungslos zu wahren. Ein Rückzug auf das, was das BVerfG noch prüfen kann, darf nicht erfolgen. Sollten sich derartige fachgerichtliche Auffassungen im Zusammenhang mit falschen Rechtsanwendungen objektivieren, müssen gerade diese eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts im Sinne der hier besprochenen Willkür bedeuten, weil hier schon die unabgeschwächte, grundrechtsgegründete Bindung der Fachgerichte an das (Verfassungs-)Recht selbst verkannt wäre.

IV. Von Lindeiner ist eine lesenswerte und die Zusammenhänge bestens erhellende Abhandlung gelungen. Sie vermittelt eine große Zahl an Einsichten und sie bietet der Rechtsprechung des BVerfG eine tragfähige Begründung, die es in dieser Form zuvor noch nicht gegeben hat, obgleich von Lindeiner natürlich partiell an frühere Literaturansätze (vgl. etwa die Bezugnahme auf Paul Kirchhof auf S. 129) anschließt. Dass die "Willkürlichkeit der Willkürkontrolle" weiter eine Quelle zahlreicher Auseinandersetzungen und Erörterungen bleiben wird, schmälert den Wert der prägnanten Abhandlung nicht. Vielmehr hat von Lindeiner gezeigt, dass es sinnvoll ist, sich den nötigen Detailauseinandersetzungen juristisch zu stellen: Von Lindeiner hat mit seiner Arbeit demonstriert, dass die Intuition, im Rechtsstaat dürfe es keine Willkür geben, eine verfassungsdogmatische tragfähige Begründung über Art. 3 Abs. 1 GG erfährt und durch eine Willkürkontrolle des BVerfG effektiviert werden kann.

Karsten Gaede , Hamburg/Karlsruhe

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