HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2005
6. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

636. BGH 2 StR 9/05 - Urteil vom 1. Juli 2005 (LG Wiesbaden)

Entscheidung über die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Zeitpunkt der Anordnung; Zeitpunkt der Mitteilung; Rechtsmittel; Erkennbarkeit von Tatsachen); Rückwirkungsverbot; Recht auf Freiheit und Sicherheit [redaktioneller Hinweis].

§ 66b StGB; § 275a StPO; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 5 Abs. 1 EMRK

1. Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung scheidet nicht allein deswegen aus, weil der Verurteilte nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil wieder auf freien Fuß gelangt ist. Erforderlich ist in diesem Fall aber, dass dem Verurteilten zuvor mitgeteilt wurde, dass die Staatsanwaltschaft prüft, ob eine nachträgliche Anordnung der Maßregel in Betracht kommt und der entsprechende Maßregelantrag der Staatsanwaltschaft vor der Haftentlassung gestellt wurde. (BGHSt)

2. Die Revision ist auch dann das statthafte Rechtsmittel gegen eine Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, wenn das Landgericht unter Verstoß gegen § 275 a StPO nicht durch Urteil, sondern ohne Hauptverhandlung durch Beschluß entschieden hat. (BGHSt)

3. Tatsachen im Sinne von § 66b Abs. 1 StGB sind nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe erkennbar geworden sind. Umstände, die für den ersten Tatrichter erkennbar waren, scheiden daher als neue Tatsachen aus (vgl. BGH 1 StR 37/05 - Urteil vom 11. Mai 2005). Die Tatsachen brauchen jedoch nicht zwingend erst in dieser Zeit entstanden zu sein. (Bearbeiter)


Entscheidung

634. BGH 2 StR 120/05 - Urteil vom 8. Juli 2005 (LG Marburg)

BGHSt; Gesamtstrafenbildung; vorbehaltene Sicherungsverwahrung (Verhältnis zur Sicherungsverwahrung; Hang; Gefährlichkeitsprognose); ne bis in idem (Strafklageverbrauch; Doppelbestrafungsverbot); Rückwirkungsverbot; Vertrauensschutz.

§ 55 Abs. 1 StGB; § 66 a Abs. 1 StGB; Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 66 StGB

1. Es ist nicht zulässig, Einzelstrafen, die schon zur Bildung einer Gesamtstrafe in einem noch nicht rechtskräftigen anderen Urteil gedient haben, in eine weitere Gesamtstrafe einzubeziehen, auch wenn sie für sich genommen rechtskräftig sind. (BGHSt)

2. Der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt die Feststellung eines Hangs i.S.v. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraus. Lediglich die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit muss nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar sein. (BGHSt)

3. § 66 a StGB und § 66 StGB stehen in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander. Erst wenn die für § 66 StGB erforderliche Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, kommt eine Vorbehaltsanordnung nach § 66 a StGB in Betracht. (BGHSt)

4. Die Annahme eines Hangs zu erheblichen Straftaten im Sinne von § 66 StGB setzt die Feststellung eines eingeschliffenen inneren Zustands voraus, der den Täter immer wieder neue Straftaten begehen lässt (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 1). (Bearbeiter)

5. Hangtätereigenschaft und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit sind keine identischen Merkmale. Der Hang ist nur ein wesentliches Kriterium der Gefährlichkeitsprognose. Als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet er einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Die Gefährlichkeitsprognose schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der Täter in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten enthalten kann oder nicht. (Bearbeiter).


Entscheidung

655. BGH 3 StR 216/05 - Beschluss vom 14. Juli 2005 (LG Wuppertal)

BGHSt; Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (erneute Anordnung; Auswirkungen auf den Maßregelvollzug; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).

§ 63 StGB

1. Zur erneuten Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wenn sich der Angeklagte oder Beschuldigte zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits aufgrund eines früheren Urteils im Vollzug dieser Maßregel befindet. (BGHSt)

2. Die wiederholte Anordnung der Unterbringung eines Angeklagten bzw. Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus ist zulässig, wenn das erneute Erkenntnis Auswirkungen auf Ausgestaltung oder Dauer des Maßregelvollzuges haben kann. Steht dagegen nicht zu erwarten, dass der Maßregelvollzug durch die erneute Anordnung der Unterbringung in maßgeblicher Weise beeinflusst würde, so ist diese zur Besserung und Sicherung des Beschuldigten nicht geeignet und erforderlich, so dass sie nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterbleiben muss. (Bearbeiter)


Entscheidung

681. BGH 4 StR 184/05 - Urteil vom 19. Juli 2005 (LG Saarbrücken)

Erörterungsmängel bei der Ablehnung einer Sicherungsverwahrung (Zeitpunkt und Grundlagen der Gefährlichkeitsprognose); unwirksame Beschränkung des Rechtsmittels auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung (Zusammenhang von Haftdauer und Gefährlichkeitsprognose).

§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 344 Abs. 1 StPO

Grundlage der Gefährlichkeitsprognose sind ausschließlich die Verhältnisse zur Zeit der Hauptverhandlung, nicht der Entlassung aus der sich anschließenden Strafhaft. Denkbare, aber nur erhoffte positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug bleiben der obligatorischen Prüfung vor dessen Ende, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (§ 67 c Abs. 1 StGB), vorbehalten. Nur wenn in der Hauptverhandlung festgestellt wird, dass die unter den bisherigen Lebensverhältnissen an sich gegebene Gefährlichkeit nach dem Strafvollzug nicht mehr bestehen werde oder dass sie durch weniger einschneidende und sicher ausführbare Maßnahmen behoben werden kann, ist die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ausgeschlossen.


Entscheidung

692. BGH 5 StR 140/05 - Urteil vom 16. Juni 2005 (LG Berlin)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (grundsätzlich keine analoge Anwendung auf die Spielsucht; verminderte Schuldfähigkeit); Mittäterschaft.

§ 64 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 21 StGB

1. Pathologisches Spielen oder Spielsucht stellt für sich genommen keine die Schuldfähigkeit erheblich einschränkende oder ausschließende krankhafte seelische Störung oder schwere andere seelische Abartigkeit dar (BGH NJW 2005, 230, 231 zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Nur wenn die Spielsucht zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen führt oder der Täter bei Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelitten hat, kann ausnahmsweise eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen sein (BGH aaO S. 231 f.; BGH NStZ 2005, 281, 282).

2. Eine analoge Anwendung des § 64 StGB auf den Fall der Spielsucht kommt nicht in Betracht (vgl. BGH NJW 2005, 230, 231). Dies gilt nicht nur, wenn die Analogie zur Vermeidung schwerer wiegender Maßregeln im Ergebnis dem Angeklagten zugute kommen soll, sondern erst recht, wenn sie sich zu Lasten des Angeklagten auswirken würde.


Entscheidung

698. BGH 5 StR 227/05 - Beschluss vom 12. Juli 2005 (LG Berlin)

Gesamtstrafenbildung (Entfallen der Zäsurwirkung bei der Geldstrafe).

§ 55 StGB; § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB

Die Zäsurwirkung einer auf Geldstrafe lautenden Verurteilung entfällt nicht allein deswegen, weil auf Geldstrafe nach § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gesondert erkannt werden soll (vgl. BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Zäsurwirkung 9). Nur dann, wenn eine Verurteilung durch Vollstreckung der erkannten Strafe erledigt ist, entfaltet sie keine Zäsurwirkung mehr (vgl. BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Zäsurwirkung 3).


Entscheidung

661. BGH 1 StR 149/05 - Urteil vom 29. Juni 2005 (LG München)

Strafzumessung (gerechter Schuldausgleich; Revisibilität; gesteigerte Darlegungspflichten bei Strafen an der unteren und oberen Grenze des Zulässigen; Untersuchungshaft).

§ 46 StGB; § 54 StGB

Ein Eingriff des Revisionsgerichts in die tatrichterliche Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen (BGHSt 34, 345, 349). Diese Grundsätze gelten auch für die Bildung der Gesamtstrafe (BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 5). An die Begründung der Strafhöhe sind allerdings umso größere Anforderungen zu stellen, je mehr sich die Strafe der unteren oder oberen Grenze des Zulässigen nähert. So ist auch die Gesamtstrafenbildung dann eingehend zu begründen, wenn die Einsatzstrafe nur geringfügig überschritten wird (BGHSt 24, 268, 271).