HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2005
6. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

473. BGH GSSt 2/04 - Beschluss vom 27. April 2005 (LG Essen; LG Detmold)

Divergenzvorlage; Entziehung der Fahrerlaubnis; Sicherheit des Straßenverkehrs; allgemeine Kriminalitätsbekämpfung; Ungeeignetheit zum Führen vom Kraftfahrzeugen (Wertung aufgrund konkreter Umstände; Vorleben des Täters; Prognose; eigene Sachkunde des Tatrichters; Beweisanträge; Aufklärungspflicht); Prognoseentscheidung.

§ 69 Abs. 1 StGB; § 132 GVG; § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO; § 3 Abs. 1 StVG

1. § 69 StGB bezweckt den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs. Die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs (§ 69 Abs. 1 Satz 1 Variante 2 StGB) setzt daher voraus, dass die Anlasstat tragfähige Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen. (BGHSt)

2. § 69 StGB dient nicht der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung und hat mithin nicht den Zweck, den Missbrauch der Fahrerlaubnis zu verhindern, wenn sich dieser - ohne Verkehrssicherheitsbelange in irgendeiner Weise zu berühren - ausschließlich auf andere Rechtsgüter nachteilig auswirkt. Allgemeiner Rechtsgüterschutz kann allenfalls ein wünschenswerter Nebeneffekt sein, ist jedoch nicht Ziel von § 69 StGB. (Bearbeiter)

3. Der Strafrichter nimmt bei Anwendung des § 69 StGB der Sache nach die Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde wahr. Deshalb ist für die Auslegung des Begriffs der Ungeeignetheit in § 69 StGB der Zweck der Vorschrift des § 3 Abs. 1 StVG über die Entziehung der Fahrerlaubnis beachtlich, der darin besteht, die Allgemeinheit vor Kraftfahrzeugführern zu schützen, die für andere Verkehrsteilnehmer eine Gefahr bilden. (Bearbeiter)

4. Der Tatrichter muss sich für die Entziehung der Fahrerlaubnis bei einer Zusammenhangstat die Überzeugung verschaffen, dass der Täter bereit ist, sich zur Erreichung seiner kriminellen Ziele über die im Verkehr gebotene Sorgfalt und Rücksichtnahme hinwegzusetzen. Dies ist anhand konkreter Umstände festzustellen, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben. Dabei sind auch Umstände aus dem Vorleben des Täters oder seiner Tatvorbereitung in die Beurteilung einzubeziehen, sofern sich daraus tragfähige Schlüsse auf eine mögliche Gefährdung der Verkehrssicherheit im Zusammenhang mit der Anlasstat ziehen lassen. Dafür kann es genügen, dass der Täter im Zusammenhang mit der Tat naheliegend mit einer Situation gerechnet hat oder rechnen musste, in der es zu einer Gefährdung oder Beeinträchtigung des Verkehrs kommen konnte. (Bearbeiter)

5. Eine Prognose, dass der Täter mit Wahrscheinlichkeit auch künftig Zusammenhangstaten begehen und dabei tatsächlich die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigen werde, ist nicht zu verlangen. (Bearbeiter)

6. Auch ein Täter, der durch die Begehung schwerwiegender oder wiederholter Straftaten zweifellos charakterliche Mängel offenbart hat, stellt nicht zwangsläufig zugleich eine Gefahr für die Verkehrssicherheit dar. So liegt dies bei der bloßen Nutzung eines Kraftfahrzeugs zur Suche nach Tatobjekten oder Tatopfern ebenso wenig nahe wie in den Fällen, in denen der Täter im Fahrzeug Rauschgift, Diebesgut oder Schmuggelware lediglich möglichst unauffällig transportiert. (Bearbeiter)

7. Indem das Gesetz den Tatrichter bei der Prüfung, ob verkehrssicherheitsrelevante charakterliche Mängel des Täters zutage getreten sind, auf die ohnehin von ihm zur Schuld- und Straffrage aufzuklärenden und zu bewertenden Umstände "aus der Tat" verweist, weist es ihm für die Fahreignungsbeurteilung grundsätzlich auch die eigene Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) zu. Deshalb können etwaige Beweisanträge auf sachverständige Begutachtung zur charakterlichen Fahreignung regelmäßig mit dieser Begründung zurückgewiesen werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

423. BGH 1 StR 37/05 - Urteil vom 11. Mai 2005 (LG Bayreuth)

BGHSt; nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (Beurteilung eines Therapieabbruchs; Anfor-

derungen an die Darlegung mangelnder Therapiewilligkeit; erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit: individuelle Prognose; erforderlicher Hand zu erheblichen Straftaten; neue Tatsachen im Sinne des § 66b StGB); Anforderung an die Begutachtung gemäß § 275a Abs. 4 Satz 1 StPO (keine zwingende Begutachtung durch zwei Fachärzte mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung).

Art. 5 EMRK; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 66b Abs. 1 StGB; § 66 StGB; § 275a Abs. 4 StPO

1. Die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie können zwar grundsätzlich neue Tatsachen sein, die erst nach der Verurteilung und vor Ende des Vollzuges erkennbar werden und auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, reichen aber für sich allein nicht aus, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen. (BGHSt)

2. Die Prüfung des Merkmals des Hanges zu erheblichen Straftaten (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) ist auch im Rahmen der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht entbehrlich. (BGHSt)

3. Aus § 275a Abs. 4 Satz 1 StPO ergibt sich nicht zwingend, dass mit der Begutachtung jeweils zwei Fachärzte mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung beauftragt werden müssen. (BGHSt)

4. Umstände, die für den ersten Tatrichter erkennbar waren, scheiden als neue Tatsachen im Sinne des § 66b StGB aus. Durch deren Nichtberücksichtigung entstandene Rechtsfehler können durch die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht korrigiert werden. Die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung zielt auch nicht darauf ab, die Frage einer späteren Unterbringung länger als bisher offen zu halten. (Bearbeiter)

5. Im Rahmen der Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs verbietet sich eine abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung (vgl. BVerfGE 109, 190, 242). Auch wenn bestimmte Persönlichkeitsstörungen von vornherein ein hohes Rückfallrisiko beinhalten, entbindet dies nicht von einer individuellen Gefährlichkeitsprognose. (Bearbeiter)


Entscheidung

434. BGH 4 StR 95/05 - Beschluss vom 5. April 2005 (LG Bielefeld)

(Schwerer) sexueller Missbrauch von Kindern (Rechtsgut der ungestörten Gesamtentwicklung des Kindes; besondere Strafmilderung bei Tatbegehung in einem Liebesverhältnis); Strafzumessung (Berücksichtigung generalpräventiver Erwägungen).

§ 176 StGB; § 176a StGB; § 46 StGB

Zwar können generalpräventive Erwägungen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch bei der Bestimmung der Höhe der Strafe im Rahmen der Schuld zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 1 Generalprävention 4). Der Tatrichter darf aber die Strafe aus Gründen der Abschreckung potentieller Täter nur dann höher bestimmen, als sie sonst ausgefallen wäre, wenn eine gemeinschaftsgefährliche Zunahme solcher oder ähnlicher Taten, wie sie zur Aburteilung stehen, festgestellt worden ist (vgl. BGHR aaO Generalprävention 7 m.w.N.). Dabei ist nicht in erster Linie auf den Deliktstyp als solchen abzustellen, weil damit der Strafgrund als solcher gegen den Angeklagten gewendet würde, was unter dem Gesichtspunkt des Doppelverwertungsverbots des § 46 Abs. 3 StGB Bedenken begegnet. Vielmehr ist auf die jeweiligen konkreten Umstände, die das Tatbild kennzeichnen, Bedacht zu nehmen. Hat die Tat hiernach Ausnahmecharakter, so lässt dies generalpräventive Erwägungen eher nicht zu.