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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2005
6. Jahrgang
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1. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken. (BGHSt)
2. Nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde liegt, ist der Rechtsmittelberechtigte, der nach § 35 a Satz 1 StPO über ein Rechtsmittel zu belehren ist, stets auch darüber zu belehren, dass er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte Belehrung). Das gilt auch dann, wenn die Absprache einen Rechtsmittelverzicht nicht zum Gegenstand hatte. (BGHSt)
3. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht qualifiziert belehrt worden ist. (BGHSt)
4. Qualifizierte Belehrung bedeutet, dass der Betroffene vom Gericht ausdrücklich dahin zu belehren ist, dass er ungeachtet der Urteilsabsprache und ungeachtet der Empfehlung der übrigen Verfahrensbeteiligten, auch seines Verteidigers, in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen. Er ist darauf hinzuweisen, dass ihn eine - etwa im Rahmen einer Urteilsabsprache abgegebene - Ankündigung, kein Rechtsmittel einzulegen, weder rechtlich noch auch sonst bindet, dass er also nach wie vor frei ist, gleichwohl Rechtsmittel einzulegen. (Bearbeiter)
5. Ist die gebotene qualifizierte Belehrung unterblieben und ist deshalb der Rechtsmittelverzicht des Betroffenen nicht wirksam erfolgt, kann der Betroffene noch Rechtsmittel einlegen, allerdings nur innerhalb der Rechtsmitteleinlegungsfrist. (Bearbeiter)
6. Der Große Senat für Strafsachen erachtet Urteilsabsprachen grundsätzlich für zulässig und für mit der geltenden Strafprozessordnung vereinbar, soweit die BGHSt 43, 195 zusammengestellten und in der vorliegenden Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen präzisierten Grenzen beachtet werden. (Bearbeiter)
7. Der Große Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit
auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen. (Bearbeiter)
1. Zur Prüfung der Angemessenheit einer Rechtsfolge durch das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1 a StPO. (BGHR)
2. § 354 Abs. 1 a StPO ist auch bei der fehlerhaften Berücksichtigung einer Verfahrensverzögerung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK anwendbar. (BGHR)
3. Bei der Strafzumessung im Rahmen einer neuen Hauptverhandlung nach Teilaufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht können Tatumstände berücksichtigt werden, ohne dass es einer erneuten förmlichen Feststellung bedarf, soweit der Schuldspruch und damit auch die ihn tragenden Feststellungen aus dem teilweise aufgehobenen Urteil rechtskräftig feststehen. Es genügt, wenn die zugrunde zu legenden Tatumstände den Verfahrenbeteiligten in irgendeiner Form bekannt gemacht, etwa mündlich erörtert werden. (Bearbeiter)
4. Ob eine Rechtsfolge als angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1 a StPO angesehen werden kann, hat das Revisionsgericht auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, insbesondere aller nach § 46 StGB für die Strafzumessung erheblichen Umstände zu beurteilen. Maßgeblich ist dabei, ob das Revisionsgericht selbst die verhängte Strafe trotz des Rechtsfehlers bei ihrer Zumessung im Ergebnis für angemessen erachtet, selbst wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Tatrichter ohne den Fehler auf dieselbe Strafe erkannt hätte. Denn auf die hypothetische Frage, wie der Tatrichter ohne den fraglichen Rechtsfehler entschieden hätte, kommt es gerade nicht an. (Bearbeiter)
5. Eine kurzfristig auftretende Störung des Verfahrensablaufs begründet keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, wenn die Störung unvermeidbar war, etwa weil üblicherweise hinreichende Vorkehrungen zu ihrer Vermeidung getroffen worden waren. (Bearbeiter)
6. Eine auf die Revision erfolgende Zurückweisung kann dann eine rechtsstaatswidrige Verzögerung sein, wenn sie Folge erheblicher, kaum verständlicher Rechtsfehler ist, die der Vornahme einer verzögernder Handlung gleichstehen (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 22). (Bearbeiter)
1. Auch im Rahmen der vorrangigen Verpflichtung zur Wahrheitsermittlung ist auf die Achtung der menschlichen Würde eines Zeugen Bedacht zu nehmen. Beweiserhebungen zu dessen Privat- und Intimleben sind nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unerlässlichkeit statthaft. Dies ist bei der Leitung eines Sachverständigen ebenso zu berücksichtigen wie bei der Zulassung von Fragen und bei der Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme. (BGHR)
2. Aussagetüchtigkeit bedeutet die Fähigkeit eines Menschen zu einer richtigen und vollständigen Aussage. Der Richter, der glaubt, hierüber ohne sachverständige Hilfe nicht befinden zu können, ist freilich in seiner Entscheidung frei, ob er einen Psychiater oder einen Psychologen beauftragt (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 4 m. w. N.). Psychiatrische Beratung wird aber nur dann angezeigt sein, wenn die Zeugentüchtigkeit dadurch in Frage gestellt ist, dass der Zeuge an einer geistigen Erkrankung leidet oder sonst Hinweise darauf vorliegen, dass die Zeugentüchtigkeit durch aktuelle psychopathologische Ursachen beschränkt sein kann (vgl. BGH StV 2002, 293 m.w.N.). (Bearbeiter)
1. Bei der Beweiswürdigung zur Frage der Glaubwürdigkeit - vor allem bei sehr jungen kindlichen Tatopfern - dürfen nicht als erwiesen angesehene gewichtige weitere Beschuldigungen nicht so behandelt werden, als beträfen sie nur unbedeutendes, die Glaubwürdigkeit im übrigen nicht berührendes Randgeschehen (BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 7; BGH NStZ 1996, 98; BGH NStZ-RR 1999, 13, 14).
2. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muss er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, dass der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewusst falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257). Dies gilt besonders, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung nicht gefolgt wird (vgl. BGHSt 44, 153, 159; BGH StV 2002, 470).
Als Anhörungsrüge nach § 356 a StPO ist ein Rechtsbehelf unzulässig, wenn nicht mitgeteilt und glaubhaft gemacht wird, wann der Antragsteller von der behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs Kenntnis erlangt hat. Denn im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtskraft der Revisionsentscheidung kann nicht hingenommen werden, dass der Antragsteller die für die Zulässigkeit des Antrags notwendigen Angaben erst im weiteren Verfahren vorträgt.
1. Geben Äußerungen des Vorsitzenden im Rahmen eines Gesprächs über eine verfahrensbeendende Absprache Anlass zu der Sorge, er könnte in einer für die Urteilsfindung wesentlichen Frage in seiner Entscheidung nicht mehr frei sein, so sind die Regelungen der StPO über die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit vorrangig gegenüber einer späteren Revisionsrüge, die Fairness des Verfahrens sei wegen möglicher Voreingenommenheit des Richters verletzt.
2. Die Einwendung, Ablehnungsgesuche lägen bei im Zusammenhang mit Vorgesprächen geäußerten Strafvorstellungen des Tatgerichts nicht nahe, kann jedenfalls dann keine Abweichung begründen, wenn beanstandete Äußerungen zur Herbeiführung einer Urteilsabsprache die Voraussetzungen des § 136 a Abs. 1 Satz 3 StPO erfüllen.
1. Das Verfahrensrecht kennt keine Präklusion von Beweisvorbringen auf Grund Zeitablaufs. Das Gericht ist vielmehr gemäß § 246 Abs. 1 StPO verpflichtet, bis zum Beginn der Urteilsverkündung Beweisanträge entgegenzunehmen und darüber zu entscheiden, auch wenn die Urteilsberatung bereits abgeschlossen und der neue Termin lediglich für die Verkündung des Urteils vorgesehen ist (st. Rspr., vgl. BGHSt 16, 389, 391; 21, 118, 123, 124 m.w.N.).
2. Mit der Verlesung der Beweisanträge der Staatsanwaltschaft, deren Erörterung in der Hauptverhandlung und der Ankündigung, über die Beweisanträge zu beraten, tritt das Gericht konkludent in die Beweisaufnahme wieder ein. Eine entgegenstehende, im Protokoll niedergelegte Auffassung der Vorsitzenden ist unbeachtlich (vgl. BGH NStZ 2004, 505, 507 m.w.N.).
3. Die Entscheidung darüber, ob ein Beweisantrag als Haupt- oder Hilfsantrag gestellt werden soll, liegt allein beim Antragsteller. Das Gericht hat insoweit keine Bestimmungs- oder Gestaltungsrechte und kann demgemäß einen Beweisantrag nicht eigenmächtig in einen Hilfsbeweisantrag "umwandeln" (vgl. BGH NStZ 1984, 372).
Allein der Umstand, dass ein Urteil auf eine Revision hin aufgehoben und die Sache neu verhandelt wird, begründet regelmäßig keine rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerung, sondern ist gerade Ausfluss der Verfahrensgestaltung durch die Strafprozessordnung, die die Nachprüfung einer Verurteilung in Rechtsmittelverfahren vorsieht. Etwas anderes mag gelten, wenn die Zurückverweisung Folge erheblicher, kaum verständlicher Rechtsfehler ist (obiter).
Wird die Wirksamkeit einer Revisionsrücknahme von einem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen, so ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Sache des Revisionsgerichts, hierüber eine feststellende Erklärung zu treffen (vgl. nur BGH NStZ 2001, 104). Zwar wird die Auffassung vertreten, dass bis zum Eingang der Akten beim Rechtsmittelgericht insoweit die Zuständigkeit des judex a quo gegeben ist. Ob dies auch dann gelten kann, wenn von einem Verfahrensbeteiligten die Wirksamkeit der Rücknahme bereits in Zweifel gezogen worden war, mag dahinstehen. Jedenfalls ist das Rechtsmittelgericht nach einer Entscheidung durch den judex a quo und bei Fortbestehen des Streites zur abschließenden Entscheidung über die Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme berufen.
Grundsätze zur Einholung anthropologischer Identitätsgutachten anhand von Lichtbildern einer Raumüberwachungskamera.
1. Es besteht keine Verpflichtung des Gerichts aus § 265 StPO, bei einer zugelassenen Anklage wegen Mordes gesondert darauf hinzuweisen, dass neben der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe die Feststellung der "besonderen Schwere der Schuld" (§ 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) in Betracht kommen könnte.
2. Die Grundsätze fairen Verfahrens, die gebieten, einen Angeklagten vor einer überraschenden Entscheidung zu schützen, erfordern jedenfalls dann keinen ausdrücklichen Hinweis an den Angeklagten, dass die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld in Betracht kommt, wenn dem Angeklagten bereits durch die Anklage bewusst war, dass eine Verurteilung wegen Mordes in Betracht kommt. 3. Stützt der Tatrichter die Verurteilung des Angeklagten auf unterschiedliche Sachverhaltsvarianten, so müssen sämtliche angenommenen Alternativen die Verurteilung tragen.
Die Neufassung der Vorschriften über die Vereidigung hat nichts daran geändert, dass auf Grund der Prozessleitungsbefugnis des Vorsitzenden dieser zunächst allein im Wege einer Anordnung, zu der ihn § 238 Abs. 1 StPO ermächtigt, darüber entscheidet, ob ein Zeuge nach seiner Vernehmung zu vereidigen ist oder unvereidigt bleibt.
Es gilt der Grundsatz, dass das Tatgericht bei freisprechenden Urteilen zunächst die Umstände feststellen muss, die es für erwiesen hält und dazu die Begründung so abzufassen hat, dass dem Revisionsgericht eine Überprüfung ermöglicht wird (BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 5). Diese Maßstäbe dürfen jedoch nicht schematisch angewandt werden. Dies gilt insbesondere, wenn weitere Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen nicht möglich sind (BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 12).
1. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit auch von kindlichen Zeugen und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ist grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur dann, wenn Besonderheiten des Einzelfalls eine Sachkunde erfordern, die ein Richter - auch mit spezifischen forensischen Erfahrungen - normalerweise nicht hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO Sachkunde 4, 6, 12).
2. Zu einem Einzelfall kumulativ begründeter spezifischer Besonderheiten des Einzelfalles.
§§ 17 bis 17 b GVG sind entsprechend anwendbar auf Rechtswegstreitigkeiten zwischen dem Bußgeldverfahren, das weitgehend dem Strafverfahren nachgebildet ist (vgl. § 46 Abs. 1 OWiG), und der streitigen Zivilgerichtsbarkeit, auch wenn beide Gerichtsbarkeiten Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind.
Auch § 33a StPO eröffnet dem Obergericht nicht die Möglichkeit der sachlichen Überprüfung unanfechtbarer Entscheidungen. Das rechtliche Gehör hat vielmehr gemäß § 33 a StPO das Gericht nachzuholen, das den nicht anfechtbaren Beschluss erlassen hat.