HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2002
3. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 5 StR 130/01 - Urteil vom 23. Januar 2002 (LG Berlin)

BGHR; BGHSt; Besetzungsmängel in der Person eines später durch einen Ergänzungsrichter abgelösten Richters (Nichtanwendung des absoluten Revisionsgrundes; Verhandlungsunfähigkeit des Schöffen); Feststellung der Verhinderung eines Schöffen (Überprüfung nicht nur auf Willkür); Verwertbarkeit von früheren Zeugenaussagen nach Auskunftsverweigerung bei Fragen der Verteidigung (kritische Beweiswürdigung); Nemo-tenetur-Grundsatz; Selbstbelastungsfreiheit; Belastungszeuge; Aufklärungsrüge; Faires Verfahren; Bedeutung der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren; Bestechlichkeit (Bestimmtheit der Diensthandlung)

§ 55 Abs. 1; § 338 Nr. 1 StPO; § 192 Abs. 2 und Abs. 3 GVG; Art. 14 Abs. 3 Buchst. e IPbürgR; Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK: § 244 Abs. 2 StPO

1. Auf Besetzungsmängel in der Person eines später durch einen Ergänzungsrichter abgelösten Richters ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO nicht anwendbar. (BGHSt)

2. Die Feststellung der Verhinderung eines Schöffen durch den Strafkammervorsitzenden mit der Folge des Eintritts des Ergänzungsschöffen ist vom Revisionsgericht nicht [Original! Widerspruch zum Text S. 3.] nur auf Willkür zu überprüfen (Ergänzung von BGHSt 35, 366). (BGHSt)

3. Hat ein Zeuge, dem nach § 55 StPO ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zugebilligt wird, berechtigterweise die Beantwortung von Fragen der Verteidigung verweigert, bleiben seine übrigen Angaben bei gebotener kritischer Würdigung seines Aussageverhaltens verwertbar. (BGHSt)

4. Das Fragerecht des Angeklagten und des Verteidigers (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK; Art. 14 Abs. 3 Buchst. e IPbürgR) muss dem Schutz des Zeugen vor erzwungener Selbstbelastung ("nemo tenetur se ipsum accusare"; Art. 14 Abs. 3 Buchst. g IPbürgR; vgl. dazu BVerfGE 38, 105, 113; BGHSt 42, 139, 151 ff. m.w.N.) nachstehen. (Bearbeiter)

5. Zur Bedeutung der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 4 StR 392/01 - Beschluss v. 22. Januar 2002 (LG Saarbrücken)

BGHR; Auferlegung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers (vom Zulassungsgrund abweichende Verurteilung des Angeklagten); Rechtsgüter der unterlassenen Hilfeleistung; Erstattungspflicht

§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO; § 472 Abs. 1 StPO; § 323c StGB

1. Dem Angeklagten sind nach Maßgabe des § 472 Abs. 1 StPO die notwendigen Auslagen des nach § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO zugelassenen Nebenklägers auch dann aufzuerlegen, wenn er aufgrund desselben Sachverhalts, der zur Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Totschlags führte, stattdessen wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt wird. (BGHR)

2. Maßgeblich für die Frage, ob die Verurteilung wegen einer Tat erfolgt ist, die den Nebenkläger im Sinne des § 472 Abs. 1 Satz 1 StPO "betrifft", ist in den Fällen des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO vielmehr, ob die Verurteilung eine strafbare Handlung ahndet, die sich gegen den Getöteten als Träger eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes richtete (BGH NJW 1960, 1311, 1312). (Bearbeiter)

3. Der Auffassung, bei einer Verurteilung nach § 323 c StGB entfalle die Erstattungspflicht, weil diese Vorschrift allein dem allgemeinen Interesse daran diene, daß bei Unglücksfällen geholfen werde, vermag der Senat nicht zu folgen. (Bearbeiter)

4. Geschützte Rechtsgüter des § 323c StGB sind nach nunmehr herrschender Meinung jedenfalls auch die bei einem Unglücksfall gefährdeten Individualrechtsgüter des in Not Geratenen. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 467/01 - Urteil vom 22. Januar 2002 (LG Traunstein)

Bandenmäßiges unerlaubtes Handeltreiben und bandenmäßige Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge; Aufklärungsrüge (Amtsermittlungspflicht); Beweisantrag; Anforderungen an die Zulässigkeit der Verfahrensrüge (freie Methodenwahl des Sachverständigen)

§ 30a Abs. 1 BtMG; §§ 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO; §§ 72, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Das vom Sachverständigen anzuwendende Untersuchungsverfahren muss zur Wahrung des § 344 Abs. 2 StPO nicht näher bezeichnet werden (vgl. BGHSt 39, 49, 52). Ein Sachverständiger hat in eigener Verantwortung über seine Untersuchungsmethoden und den Umfang seiner Erhebungen zu entscheiden (BGHSt 44, 26, 33; BGH NStZ 1999, 630 632), und ggf. auf nach dem Stand der Wissenschaft besser geeignete - alternative - Untersuchungsmethoden auch anderer Fachrichtungen hinzuweisen. Solche - unvorhersehbaren - Details der Vorbereitung eines grundsätzlich als Beweismittel geeigneten Sachverständigengutachtens muss die Revisionsbegründung auch dann nicht vortragen, wenn vor der Anwendung bestimmter Untersuchungsmethoden aus Rechtsgründen noch ergänzende Gerichtsbeschlüsse erforderlich sein sollten.


Entscheidung

BGH 5 StR 584/01 - Urteil vom 23. Januar 2002 (LG Berlin)

Verfahrensrüge; Gelegenheit zur Untersuchung (medizinischer Sachverständiger)

§ 246a Satz 2 StPO

Dem Sachverständigen, der den Angeklagten nicht schon früher untersucht hat, ist zu solcher Untersuchung vor der Hauptverhandlung Gelegenheit zu geben. Trotz des Wortlautes wird § 246a Satz 2 StPO einhellig dahin verstanden, daß in den genannten Fällen dem Sachverständigen Gelegenheit zur Untersuchung gegeben werden muß (vgl. BGHSt 9, 1; BGHR StPO § 246a Satz 1 Untersuchung 1).


Entscheidung

BGH 1 StR 367/01 - Urteil vom 22. November 2001 (LG Regensburg)

Erstreckung des Ausschluss des Angeklagten von der Vernehmung eines Zeugen auf alle mit der Vernehmung zusammenhängenden Verfahrensvorgänge (Vorhalte); Anwesenheit; Augenschein: Absehen von der Vereidigung (Begründung); Bedeutungslosigkeit; Sachverständiger (Hinzuziehung zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen); Hang (Anordnung von Sicherungsverwahrung; Selbstverständlichkeit bei der Durchführung gewichtiger Straftaten)

§ 247 StPO; § 61 Nr. 1 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 4 StPO; § 261 StPO; § 72 StPO; § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB

1. Der Ausschluss des Angeklagten von der Vernehmung eines Zeugen erstreckt sich auf alle mit der Vernehmung zusammenhängende Verfahrensvorgänge, wie z. B. auch Vorhalte (vgl. zu Vorhalten aus einer Urkunde BGH NStZ 2001, 262). Anderes gilt für einen darüber hinaus gehenden Vorgang mit selbständiger verfahrensrechtlicher Bedeutung, wie z.B. der Einnahme eines Augenscheins.

2. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit bedarf es nur dann, wenn die Eigenart des Einzelfalls eine außergewöhnliche Sachkunde erfordert. Die Entscheidung, ob ein solcher Fall gegeben ist, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Das Revisionsgericht hat sich bei seiner Nachprüfung darauf zu beschränken, ob der Tatrichter die durch die Gegebenheiten des Einzelfalls seinem Ermessen gezogenen rechtlichen Grenzen eingehalten hat (BGH NStZ 1987, 182).

3. Eine "sture Selbstverständlichkeit bei der Durchführung gewichtiger Straftaten" spricht nicht gegen eine intensive Neigung zu Rechtsbrüchen im Sinne eines eingeschliffenen Verhaltensmusters.