HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 826
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 675/24, Beschluss v. 15.04.2025, HRRS 2025 Nr. 826
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 28. Mai 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt sowie Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); auf die Verfahrensrügen kommt es deshalb nicht an.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Der Angeklagte forderte die am 17. August 2009 geborene Nebenklägerin L., seine Stieftochter, zwischen Mai 2017 und Dezember 2018 bei drei Gelegenheiten dazu auf, seinen Penis in die Hand zu nehmen und bis zum Samenerguss zu manipulieren. Zwei der Taten ereigneten sich im „Partyraum“ des Wohnhauses (Fälle II.1 und 2 der Urteilsgründe), zu der dritten Tat kam es im Wohnzimmer des Ferienhauses, in dem der Angeklagte nach der Trennung von seiner Ehefrau lebte (Fall II.7 der Urteilsgründe). Im selben Zeitraum leckte er an einem Tag mehrmals an der unbekleideten Scheide der Nebenklägerin (Fall II.3 der Urteilsgründe). An einem weiteren Tag zog der Angeklagte ihr Nylonstrümpfe an, rieb seinen Penis an den mit den Strümpfen bekleideten Füßen und ejakulierte darauf (Fall II.5 der Urteilsgründe). Als die Nebenklägerin im Bett des Angeklagten übernachtete, bat er sie, an einem Mückenstich zu kratzen, führte ihre Hand unter der Bettdecke an seinen Penis und forderte sie zu Auf- und Abwärtsbewegungen bis zum Samenerguss auf (Fall II.6 der Urteilsgründe). Diese Vorgehensweise praktizierte der Angeklagte bei zwei Gelegenheiten auch mit seiner zweiten Stieftochter Li., der Zwillingsschwester von L. (Fälle II.8 und 9 der Urteilsgründe). Zudem führte er bei Li. zwei Finger in die Scheide ein, was er mehrfach wiederholte (Fall II.4 der Urteilsgründe).
b) Das Landgericht hat die Taten II.1 bis 3 und II.5 bis 9 der Urteilsgründe als sexuellen Missbrauch von Kindern nach § 176 Abs. 1 StGB a.F. gewertet. Hinsichtlich Fall II.4 der Urteilsgründe hat es den Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. als erfüllt angesehen. Seine Feststellungen hat es im Wesentlichen auf die als glaubhaft und erlebnisbasiert bewerteten Angaben der Nebenklägerinnen in ihren jeweiligen richterlichen audiovisuellen Vernehmungen gestützt. Der Angeklagte hat die Taten bestritten.
2. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Feststellungen entbehren - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Januar 2024 - 4 StR 428/23, Rn. 13; vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21, Rn. 10) - einer tragfähigen Beweiswürdigung.
a) Beruht die Überzeugung von der Schuld eines bestreitenden oder schweigenden Angeklagten maßgeblich auf der Aussage eines Belastungszeugen („Aussage gegen Aussage“), bedarf es einer besonders sorgfältigen Würdigung. Um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist eine Darstellung in den Urteilsgründen zu wählen, die erkennen lässt, dass alle Umstände, die die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in die Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2024 - 4 StR 197/23, Rn. 7; vom 2. November 2022 - 6 StR 281/22, Rn. 6). Dies setzt in der Regel voraus, dass die Urteilsgründe die entscheidenden Aussagen des Belastungszeugen in der Hauptverhandlung zumindest in gedrängter Form wiedergeben. Vorangegangene Angaben des Zeugen sind ebenfalls darzustellen, weil andernfalls nicht überprüfbar ist, ob eine rechtsfehlerfreie Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Februar 2024 - 6 StR 37/24, Rn. 4; vom 25. April 2023 - 4 StR 400/22, Rn. 7).
b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung nicht gerecht. Die Darstellung der Aussagegenese ist lückenhaft und erlaubt daher auch keine Überprüfung der Konstanzanalyse.
aa) Ausweislich der Urteilsgründe berichteten sich die Nebenklägerinnen Ende 2018 gegenseitig von den Übergriffen des Angeklagten. Im Sommer 2020 „offenbarte“ die Nebenklägerin L. sodann ihrer besten Freundin, dass der Angeklagte „Sexsachen“ mit ihr gemacht habe. Daraufhin wandte sich die Freundin an ihre Mutter, die mit den Nebenklägerinnen und deren Mutter sprach, was wiederum zu einem Gespräch zwischen L. und ihrer Mutter sowie zur Anzeigeerstattung führte. Im Ermittlungsverfahren wurden die Nebenklägerinnen zunächst polizeilich und schließlich richterlich vernommen, wobei die richterliche Vernehmung in Bild und Ton aufgezeichnet wurde.
bb) Als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist sich bereits, dass sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, was sich die Nebenklägerinnen Ende 2018 im Rahmen ihrer ersten Offenbarung gegenseitig von den Übergriffen des Angeklagten anvertrauten. Ohne Kenntnis dieser Angaben ist eine revisionsgerichtliche Überprüfung der Konstanzanalyse nicht möglich. Insbesondere kann nicht überprüft werden, ob es zu gegenseitigen Suggestionen kam, die sich möglicherweise auf die Angaben der Nebenklägerinnen bei ihren anschließenden Befragungen auswirkten. Zur Erörterung dieser Frage bestand nicht nur wegen des engen geschwisterlichen Verhältnisses, sondern auch deshalb Veranlassung, weil die Mädchen von der Polizei gemeinsam vernommen wurden (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2024 - 6 StR 286/24, Rn. 11).
Darüber hinaus stößt es auf durchgreifende rechtliche Bedenken, dass das Landgericht die fehlende Erwähnung der Fälle II.6 und 7 durch L. bei der polizeilichen Vernehmung damit erklärt hat, dass diese ähnlich verlaufen seien wie der Fall II.1 zugrundeliegende Vorfall. Das trifft jedoch nur auf Fall II.7 zu, der sich allein in Bezug auf den Tatort, nicht jedoch hinsichtlich des Tathergangs von Fall II.1 unterscheidet; das Tatgeschehen im Fall II.6 weist demgegenüber insoweit erhebliche Abweichungen auf.
Schließlich ist zu besorgen, dass die Strafkammer die Angaben der Zwillingsschwestern insoweit verwechselt hat, als sie „die Schilderung der beiden Vorfälle betreffend das Kratzen am Mückenstich durch L. (für) erlebnisbasiert“ gehalten hat, was weder mit deren Angaben noch den festgestellten Taten korrespondiert, die nur einen entsprechenden Vorfall zum Nachteil von L., aber zwei zum Nachteil von Li. zum Gegenstand haben.
3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Vor dem Hintergrund der schwierigen Beweissituation, nicht zuletzt wegen der gemeinsamen Vernehmung der Nebenklägerinnen durch die Polizei, liegt die Einholung von aussagepsychologischen Gutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerinnen nahe.
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 826
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede