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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1256

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 355/22, Beschluss v. 18.10.2022, HRRS 2022 Nr. 1256


BGH 6 StR 355/22 - Beschluss vom 18. Oktober 2022 (LG Halle)

Mord; gefährliche Körperverletzung; Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen, verminderte Schuldfähigkeit (Darlegungsanforderungen bei Anschluss an Beurteilung eines Sachverständigen: Wiedergabe wesentlicher Anknüpfungspunkte und Darlegungen; Tatintensität: „extreme Vernichtungsabsicht“, „Overkill“); Benennung des Angeklagten im Urteil.

§ 211 StGB; § 224 Abs. 1 StGB; § 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 157 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wenn sich das Tatgericht darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.).

2. Nimmt das Tatgericht an, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung erheblich vermindert war (§ 21 StGB), so hat es zu berücksichtigen, dass eine Tatintensität („extreme Vernichtungsabsicht“; „Overkill“) einem Täter nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden darf, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt.

3. Es erschwert die Lesbarkeit eines Strafurteils, wenn der (einzige) Angeklagte durchgehend mit seinen Vor- und Zunamen und nicht mit seiner korrekten gesetzlichen Bezeichnung (vgl. § 157 StPO) benannt wird.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 7. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben diejenigen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes und tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt sowie seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine auf die Sachbeschwerde gestützte Revision hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Nach den Feststellungen hielt sich der unbestrafte und bis zur Tat psychotisch nicht auffällige Angeklagte aus Angst vor einem erneuten behördlichen Abschiebungsversuch in der Nacht auf den 24. Oktober 2021 in der Wohnung seines Nachbarn J. auf. Er nahm - als Folge einer psychotisch verzerrten Wahrnehmung - dabei an, dass er von diesem und zwei weiteren ihm bekannten Personen geschlagen und „sexuell missbraucht“ worden sei, nachdem ihm J. unbemerkt „eine Substanz“ in sein Getränk gemischt habe. Er verließ deshalb noch in derselben Nacht verzweifelt die Wohnung.

Der vorher eher ruhige Angeklagte wirkte in den nächsten Tagen „wie ein gebrochener Mann“ (UA S. 7) und gebärdete sich wie ein „Wahnsinniger, indem er häufig weinte, auf Gott und sich selbst schimpfte“ und sich selbst schlug. Ferner äußerte er: „Ich soll sie töten!“ (UA S. 7). Bekannten gegenüber klagte er ferner über Schmerzen am Gesäß, wobei im Genital- und Analbereich auch durch einen konsultierten Urologen keine Verletzungen festgestellt werden konnten. In ihm reifte in den Tagen „nach dem vermeintlichen Verletzungsgeschehen“ der Entschluss, J. als „Hauptverursacher“ zu töten.

Der auf Anraten eines Bekannten unternommene Versuch, eine Strafanzeige zu erstatten, schlug fehl, weil ein Dolmetscher für eine polizeiliche Vernehmung nicht zur Verfügung stand. Nachdem der Angeklagte aber auf einer Anzeigenaufnahme bestanden hatte, wurde ein Termin für den Nachmittag des 28. Oktober 2021 vereinbart. Wenige Stunden vor diesem äußerte der Angeklagte gegenüber einem Bekannten, dass er nicht mehr länger warten könne, und begab sich in die Wohnung des J., um sich an diesem für „die erlittene Schmach“ zu rächen. Dort versetzte er diesem - bei sicher erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit - mit den zwei mitgeführten Küchenmessern 30 Stiche in Tötungsabsicht, woran J. kurz darauf verstarb. Einen weiteren Anwesenden verletzte der Angeklagte mit den Messern ebenfalls, um diesen davon abzuhalten, einzuschreiten.

Nach der Tat setzte sich der Angeklagte vor die Haustür des Mehrfamilienhauses, gestand gegenüber eintreffenden Polizeibeamten die Tat und steckte sich seine blutverschmierten Hände in den Mund mit dem Bemerken, er trinke J. s Blut.

Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als Mord, begangen aus niedrigen Beweggründen, und als tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung gewertet. Die sachverständig beratene Strafkammer hat eine „sicher“ erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit wegen einer „paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie“ angenommen, die das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfülle. Für eine Aufhebung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, insbesondere lägen keine Hinweise darauf vor, dass der Angeklagte die Tat „aufgrund einer Fremdsteuerung durch Stimmen oder ähnliche psychologische Fehlwahrnehmungen“ begangen haben könnte. Dieser Einschätzung der psychologischen Sachverständigen hat sich das Landgericht ohne nähere Begründung ebenso angeschlossen, wie deren Annahme, dass bei Fortdauer des unbehandelten Zustandes des Angeklagten auch künftig Gewalttaten von diesem zu erwarten seien.

2. Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Urteilsgründe sind zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten in sich widersprüchlich und lückenhaft.

a) Zunächst tragen die Urteilsgründe - worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hinweist - nicht die Annahme, die Voraussetzungen des § 20 StGB seien sicher ausgeschlossen. Der Schuld- und der Strafausspruch können deshalb keinen Bestand haben.

aa) Wenn sich das Tatgericht - wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2019 - 2 StR 505/18, NStZ-RR 2019, 134, 135 mwN). Dies gilt auch in Fällen einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie. Diese führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (vgl. LK-StGB/Cirener, 13. Aufl., § 63 Rn. 56, 74 mwN.). Erforderlich ist vielmehr stets die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung und eine konkretisierende Darlegung des Einflusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 21. Oktober 2020 - 2 StR 83/20, NStZ-RR 2021, 69, 70; vom 10. November 2021 - 2 StR 173/21; Beschluss vom 15. September 2016 - 4 StR 400/16).

bb) Daran fehlt es hier. Die Strafkammer beschränkt sich auf die Mitteilung der aus den erhobenen Befunden gezogenen Schlüsse, teilt aber die zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen der Sachverständigen nicht mit. Das Landgericht hat ferner einen entscheidungserheblichen Widerspruch in den im angefochtenen Urteil wiedergegebenen Ausführungen der psychologischen Sachverständigen zur maßgeblichen Frage, ob der Angeklagte zur Tatzeit in der Lage war, sich entsprechend seiner Unrechtseinsicht rechtmäßig zu verhalten, nicht aufgelöst. Einerseits teilt das Landgericht ausdrücklich die Wertung der Sachverständigen, eine aufgehobene Schuldfähigkeit komme nur in - hier nicht vorliegenden - Fällen von „Stimmenhören oder ähnlich gelagerter Fremdsteuerung“ in Betracht. Andererseits geht die Strafkammer davon aus, dass sich die paranoid-halluzinatorische Schizophrenie bei dem Angeklagten in Form von „Stimmenhören und dem Sehen seiner im Iran lebenden Eltern oder einer Frau mit einem schwarzen Gesicht“ (UA S. 4) auswirkt. Vor diesem Hintergrund und eingedenk der festgestellten Äußerung des Angeklagten im Vorfeld zur Tat („Ich soll sie töten!“) ist die angenommene Schuldfähigkeit nicht rechtsfehlerfrei belegt.

b) Die Urteilsgründe ergeben aus den vorstehend benannten Gründen auch nicht rechtsfehlerfrei, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat erheblich vermindert im Sinne von § 21 StGB war. Auch insoweit fehlt es an einer nachvollziehbaren Darlegung der wesentlichen Anknüpfungstatsachen. Dies entzieht der Maßregelanordnung die Grundlage, die deshalb ebenfalls keinen Bestand haben kann.

3. Somit unterliegen der Schuld- und damit der Strafausspruch sowie der Maßregelausspruch der Aufhebung. Die Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten können ebenfalls nicht aufrechterhalten werden; das neue Tatgericht wird insoweit - naheliegend unter Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen - neue Feststellungen zu treffen haben. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen beruhen hingegen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung und sind von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen insoweit sind möglich, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

4. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Das neue Tatgericht wird bei der Bewertung der Schuldfähigkeit des Angeklagten noch näher als bisher geschehen Entwicklung und Entstehung eines möglichen Krankheitsbildes des Angeklagten in den Blick zu nehmen und ausdrücklich zu würdigen haben, ob die Geschehnisse in der Nacht auf den 24. Oktober 2021 einen realen Hintergrund gehabt haben könnten.

b) Sollte das neue Tatgericht erneut annehmen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung erheblich vermindert war (§ 21 StGB), wird zu berücksichtigen sein, dass eine Tatintensität („extreme Vernichtungsabsicht“; „Overkill“) einem Täter nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden darf, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2020 - 3 StR 332/19, NStZ 2021, 159 mwN).

c) Es erschwert die Lesbarkeit eines Strafurteils, wenn der (einzige) Angeklagte durchgehend mit seinen Vor- und Zunamen und nicht mit seiner korrekten gesetzlichen Bezeichnung (vgl. § 157 StPO) benannt wird.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1256

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi