hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 155

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 173/21, Urteil v. 10.11.2021, HRRS 2022 Nr. 155


BGH 2 StR 173/21 - Urteil vom 10. November 2021 (LG Bonn)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (mehrstufige Prüfung; Darlegung: Sachverständigengutachten, Abweichungen zwischen schriftlichem und in der Hauptverhandlung erstattetem mündlichen Sachverständigengutachten; Schizophrenie); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefahrenprognose: Darlegung, Sachverständigengutachten).

§ 20 StGB; § 63 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 12. November 2020 mit Ausnahme des Freispruchs in Fall 2 der Urteilsgründe mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch des Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit und die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der 49 Jahre alte Angeklagte leidet seit 1997 an einer inzwischen chronifizierten Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie. Daneben ist er am Gillesdela-Tourette-Syndrom erkrankt, weist eine dissoziale Persönlichkeitsstörung auf und zeigt einen schädlichen Gebrauch von psychotropen Substanzen.

Im Vordergrund seines Krankheitsbildes steht die Psychose, die sich in einer schwerwiegenden Störung seiner sozialen Interaktionen, einer formalen Denkstörung, Wahneinfällen und einer ausgeprägten Störung der „Ich-Grenzen“ manifestiert. Der Angeklagte zeigt eine deutliche Affektlabilität mit überschießenden Erregungszuständen und anhaltend verringerter Frustrationstoleranz. Mangels Krankheitseinsicht fehlt ihm die Bereitschaft, sich behandeln zu lassen. Nachdem er für längere Zeit in betreuten Wohneinrichtungen untergebracht war, wurde er im April 2019 obdachlos, verwahrloste und hielt sich vorwiegend im Bereich des B. Hauptbahnhofs auf.

b) Zu den Anlasstaten hat die Strafkammer folgende Feststellungen getroffen:

Am 7. März 2020 betrat der Angeklagte trotz bestehenden Hausverbots mit einem zuvor gekauften Becher Kaffee ein Schnellrestaurant im B. Hauptbahnhof. Als er von einer Mitarbeiterin zum Verlassen des Lokals aufgefordert wurde, reagierte er mit einem Impulsdurchbruch und schüttete der Zeugin warmen Kaffee ins Gesicht, was diese als schmerzhaft empfand und was bei ihr zu Hautrötungen führte (Fall 1).

Am 13. März 2020 hielt sich der Angeklagte auf dem Gelände des B. Hauptbahnhofs auf, wobei seine Hose heruntergerutscht war und den Blick auf seine Genitalien freigab. Er verrichtete in der Nähe der Gleise seine Notdurft und warf mehrere abgestellte Fahrräder um. Als ihn ein Sicherheitsmitarbeiter zur Ordnung anhielt, schüttelte der Angeklagte seine Hüften und rief diesem „Bastard“ zu. Dann warf er herumliegende Zementsäcke umher und begab sich ins Bahnhofsgebäude (Fall 2).

Dort angekommen, setzte er sich in die Wartehalle und rauchte trotz des geltenden Verbots eine Zigarette. Zwei Polizeibeamte forderten ihn erfolglos auf, das Rauchen zu unterlassen, nahmen ihm die Zigarette ab und verlangten von ihm, sich auszuweisen. Dieser Aufforderung kam er nicht nach, weshalb ihn die Beamten an einer Wand postierten. Daraufhin nannte er sie „Bastarde“, übergab ihnen aber seinen Personalausweis. Als sein Blick auf die in einem Holster gesicherte Dienstwaffe eines der Polizeibeamten fiel, verspürte er den Wunsch, die Waffe zu berühren oder gegebenenfalls besitzen zu wollen. Als der Angeklagte seine Hand in Richtung der Dienstwaffe führte, brachte ihn der zweite Polizeibeamte mit einem gezielten Kopfschlag zu Boden. Anschließend fesselten die Polizeibeamten den Angeklagten, der in Richtung eines Beamten äußerte: „Ich knalle dich ab!“ (Fall 3).

Am 31. März 2020 war der Angeklagte Fahrgast eines Busses in B. Während der Fahrt drehte er sich eine Zigarette und begann, sie zu rauchen. Der Busfahrer hielt das Fahrzeug an und forderte den im hinteren Wagenbereich sitzenden Angeklagten vom Fahrersitz aus auf, die Zigarette auszumachen. Weil der Angeklagte der Aufforderung nicht folgte, wies der Zeuge ihn an, den Bus zu verlassen. Als der Angeklagte auch darauf nicht reagierte, ging der Fahrer auf ihn zu. Währenddessen drückte dieser seine Zigarette auf dem Nachbarsitz aus, so dass ein Brandloch im Sitzpolster entstand. Sofort äußerte der Angeklagte „Das war ich nicht“ (Fall 4).

Am 1. April 2020 begab sich der Angeklagte zu seinem Betreuer, um sein monatliches Taschengeld abzuholen. Nachdem ihm dieser die Auszahlung verweigert hatte, verschaffte sich der Angeklagte Zugang zu dessen Büro. Als der Betreuer ihn zum Verlassen des Büros aufforderte, ergriff der Angeklagte blitzschnell das auf dem Schreibtisch liegende Mobiltelefon der Zeugin L. und verschwand damit, um es für sich zu behalten. Das Telefon konnte noch am selben Tag beim Angeklagten sichergestellt und der Zeugin zurückgegeben werden (Fall 5).

Am späten Abend des 6. April 2020 war der Angeklagte in der Umgebung des B. Hauptbahnhofs auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz unterwegs. Als er ein nahegelegenes Hotel passierte, stellte er fest, dass die Rezeption unbesetzt war. Er trat ein, schaute sich im Frühstücksraum um und steckte diverse Lebensmittel in seinen Rucksack. Im Bereich der Rezeption nahm er aus der unverschlossenen Kasse 508,61 Euro Bargeld, Münzgeldboxen, einen Taschenrechner und ein Kartenlesegerät, um all dies für sich zu verwenden. Auf einen Zettel schrieb er „A. was here“ und ließ ihn an der Rezeption zurück. Anschließend ging er durch das Hotel und stellte fest, dass eines der Zimmer nicht verschlossen war. Er begab sich hinein, um darin die Nacht zu verbringen. Erfreut über die komfortable Unterkunft duschte er sich, wusch seine Kleidung, hängte diese zum Trocknen auf und legte sich anschließend unbekleidet ins Bett. Er schlief laut schnarchend ein. Der Hoteleigentümer bemerkte am nächsten Morgen den Diebstahl und den zurückgelassenen Zettel und fand den Angeklagten schlafend im Hotelzimmer vor. Der Zeuge verständigte die Polizei, die das Diebesgut sicherstellte und den Angeklagten in Gewahrsam nahm (Fall 6).

Am frühen Nachmittag bzw. späten Abend des 7. April 2020 entwendete der Angeklagte aus zwei Kiosken Getränke und Schokoriegel von jeweils geringem Wert (Fälle 7 und 8).

Am 8. April 2020 schlenderte der Angeklagte durch B. -B. und wurde auf den Gebrauchtwagenhandel des Zeugen T. aufmerksam. Auf dem videoüberwachten und umzäunten Gelände standen größtenteils unverschlossene Fahrzeuge, bei denen der Schlüssel im Zündschloss steckte. Der Angeklagte, „der seit seiner Jugend von Autos fasziniert war“, verschaffte sich Zutritt zum Gelände, zog aus zwei unverschlossenen Fahrzeugen die jeweiligen Zündschlüssel im Wert von insgesamt etwa 70 Euro ab und steckte sie ein. Dann verließ er das Gelände mit den beiden Schlüsseln, mit denen er ausprobieren wollte, ob sich damit andere Autos der gleichen Marken öffnen ließen. Der Zeuge T., der den Angeklagten beobachtet hatte, folgte ihm und konnte ihn stellen. Die alarmierte Polizei stellte die Schlüssel beim Angeklagten sicher und gab sie dem Zeugen zurück (Fall 9).

Am Abend des 9. April 2020 war der Angeklagte in B. - G. unterwegs. Dort wurde er auf das Fahrzeug eines Pizzalieferanten aufmerksam, das vor den Geschäftsräumen abgestellt war. Als der Angeklagte den Schlüssel im Zündschloss stecken sah, fasste er den spontanen Entschluss, mit dem Auto davon zu fahren, darin zu übernachten und es vielleicht auch noch darüber hinaus zu behalten. Daher setzte er sich in den Pkw und fuhr damit etwa zweieinhalb Kilometer, bis er den Wagen auf einer Wiese an einer Hecke zum Stehen brachte. Da er Autoradio hörte und laute Geräusche von sich gab, verständigten Anwohner die Polizei. Die wenig später eintreffenden Polizeibeamten fanden den Angeklagten hinter dem Steuer des Pkw sitzend vor; sie informierten den Pizzalieferanten, der seinen Wagen abholte. Der Angeklagte wurde mit seinem Einverständnis in die L. -Klinik gebracht (Fall 10).

Am 10. April 2020 wurde der Angeklagte in die Psychiatrie aufgenommen und zwei Tage später aufgrund Beschlusses des Betreuungsgerichts nach dem PsychKG einstweilig untergebracht. Auf ärztliche Anweisung wurde der Angeklagte von anderen Patienten separiert; „aufgrund vorangegangener Zwischenfälle“ durfte das Klinikpersonal das Zimmer des Angeklagten nur in Begleitung von Sicherheitspersonal betreten. Der Angeklagte, der während des Klinikaufenthalts - insbesondere bei Grenzziehungen - immer wieder Impulsdurchbrüche hatte, richtete dabei Gewalt in erster Linie gegen Sachen. So warf er am 18. April 2021 das Stationstelefon gegen die Wand seines Zimmers. Als er am Folgetag nach dem Telefon verlangte, suchte ihn der ihm langjährig als Pfleger bekannte Zeuge G. zusammen mit zwei Sicherheitsmitarbeitern auf. Der Angeklagte stand auf, ging auf den Zeugen zu und verlangte telefonieren zu dürfen. Als der Zeuge ihm dies verweigerte, versetzte der Angeklagte diesem einen Schlag gegen das Kinn, der aber nach dem Empfinden des Zeugen eher halbherzig/schwach ausfiel und zu keinen Verletzungen führte (Fall 11).

c) Das Landgericht hat die Fälle 1 und 11 als Körperverletzung, Fall 3 als Beleidigung und Bedrohung, Fall 4 als Sachbeschädigung, Fall 5 als Diebstahl in Tateinheit mit Hausfriedensbruch und die Fälle 6 bis 10 jeweils als Diebstahl gewertet. Im Fall 2 hat es kein strafbares Verhalten gesehen.

Sachverständig beraten hat es angenommen, der Angeklagte habe „in allen Fällen der Tatbestandsverwirklichung“ ohne Schuld gehandelt, da bei ihm aufgrund der Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis „während des gesamten Tatzeitraums“ die Einsichtsfähigkeit aufgehoben gewesen sei.

d) Eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hat die Strafkammer abgelehnt, da weder die vom Angeklagten konkret begangenen noch die von ihm zu erwartenden Taten als erheblich anzusehen seien.

II.

Die Revision ist begründet.

1. Trotz des unbeschränkten Aufhebungsantrags der Staatsanwaltschaft ist die Revision angesichts der in der Revisionsbegründung konkret vorgebrachten materiellrechtlichen Einwände auf den Freispruch des Angeklagten in den Fällen 1 sowie 3 bis 11 der Urteilsgründe beschränkt. Dagegen ist der Freispruch im Fall 2 der Urteilsgründe nicht von der Anfechtung umfasst.

Nach der Revisionsbegründung richtet sich die Revision allein gegen die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei freizusprechen, weil er die Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe. Davon ist die Strafkammer aber ausschließlich in den Fällen 1 sowie 3 bis 11 der Urteilsgründe ausgegangen. Demgegenüber hat sie den Freispruch von den Vorwürfen der Beleidigung und der Erregung öffentlichen Ärgernisses in Fall 2 der Urteilsgründe mit dem Fehlen eines Strafantrags und mangelndem Vorliegen des subjektiven Tatbestands begründet. Im Hinblick auf diese abweichende Begründung des Freispruchs ist das Anfechtungsbegehren dahin auszulegen, dass die Revision nur den Freispruch in den Fällen 1 sowie 3 bis 11 der Urteilsgründe umfasst.

Die Beschränkung des Rechtsmittels ist wirksam, weil es sich um rechtliche selbständige Taten des Angeklagten handelt, die losgelöst von dem nicht angegriffenen Teil der Entscheidung rechtlich und tatsächlich selbständig geprüft werden können.

2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die fehlende Schuldunfähigkeit des Angeklagten bei den Taten begründet hat, halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Täters zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 StR 159/20 Rn. 8 mwN). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Täter eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen Unrechtseinsichtsfähigkeit oder der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Täters zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 2 StR 114/20 Rn. 9 mwN).

Wenn sich der Tatrichter - wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 5. Februar 2019 - 2 StR 505/18, NStZ-RR 2019, 134, 135 mwN). Dies gilt auch in Fällen einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie. Diese führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung und eine konkretisierende Darlegung des Einflusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 21. Oktober 2020 - 2 StR 83/20, NStZ-RR 2021, 69, 70; BGH, Beschluss vom 15. September 2016 - 4 StR 400/16 Rn. 5, BeckRS 2016, 19582).

b) Diesen Darlegungsanforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

aa) Soweit das Gericht im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgeht, bei den Taten sei die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen, sind die Ausführungen lückenhaft. Nach den Urteilsgründen hat der Sachverständige in seinem vorbereitenden schriftlichen Gutachten ausgeführt, er gehe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass während des Tatzeitraums mindestens eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen sei. Die chronifizierte schizophrene Psychose gehe mit „so erheblichen Beeinträchtigungen des psychopathologischen Befundes einher, dass für vereinzelte Tatzeitpunkte diskutiert werden könne, ob nicht sogar eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit vorgelegen habe“. In der Hauptverhandlung ist der Sachverständige schließlich zum Ergebnis gekommen, dass die Psychose „während des gesamten tatrelevanten Zeitraums zu einer vollständigen Aufhebung der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten geführt habe“, nachdem er „auf Wunsch der Kammer seine Gutachtenerstattung unter Berücksichtigung des Verlaufs der Hauptverhandlung sowie die im Gutachten noch offen gelassenen Fragen [ergänzt habe]“. Nicht offengelegt wird insofern jedoch, welche neuen Aspekte in diese abweichende Bewertung eingeflossen sind. Damit ist nicht erkennbar, inwieweit und bei welcher der Taten sich das Verhalten des Angeklagten vor, während und nach der Tat in der Hauptverhandlung anders dargestellt hat, als es der Sachverständige in seinem vorbereitenden Gutachten zugrunde gelegt hat. Die Abweichung vom vorbereitenden Gutachten hätte daher - zumal der Sachverständige in der Hauptverhandlung zunächst die darin getroffene Einschätzung ausdrücklich bestätigt hatte - näherer Darlegung bedurft (zu den Darlegungsanforderungen bei Abweichungen zwischen schriftlichem und in der Hauptverhandlung erstattetem mündlichen Sachverständigengutachten vgl. Senat, Beschluss vom 11. Februar 2016 - 2 StR 458/15, NStZ 2016, 432, 433 mwN).

bb) Es ist auch nicht nachvollziehbar dargelegt, in welcher Weise sich die festgestellte Erkrankung des Angeklagten bei den einzelnen Taten auf seine Einsichtsfähigkeit ausgewirkt hat.

(1) Bereits die vom Landgericht mehrfach verwendete Formulierung, dem Angeklagten habe „während des gesamten Tatzeitraums“ - also zwischen 7. März und 10. April 2020 - die Einsichtsfähigkeit gefehlt, lässt besorgen, dass die Strafkammer die Schuldfähigkeit abstrakt und nicht bezogen auf die einzelnen Taten geprüft hat.

(2) Zu den Auswirkungen der Psychose hat das Landgericht lediglich allgemeine Feststellungen getroffen, denen sich aber nicht ohne Weiteres entnehmen lässt, inwiefern sich diese bei den einzelnen Taten, noch dazu solchen aus unterschiedlichen Deliktsbereichen, auf die Einsichtsfähigkeit ausgewirkt haben. Soweit der Sachverständige im Rahmen seines vorbereitenden Gutachtens ausgeführt hat, der Angeklagte könne krankheitsbedingt nur ungenügend zwischen eigenem Erleben und dem Erleben anderer unterscheiden und es komme im Rahmen des psychotischen Erlebens bei ihm zu einem heillosen Durcheinander zwischen Täter- und Opferposition, wird - abgesehen davon, dass unklar bleibt, ob der Sachverständige diese Einschätzung in der Hauptverhandlung aufrechterhalten hat - nicht deutlich, auf welche Taten sich dies bezieht.

(3) Angesichts des Umstands, dass der Angeklagte nach den Feststellungen auf der Straße lebte und seinem Betreuer Vorwürfe machte, das ihm ausgezahlte Taschengeld reiche für seine Bedürfnisse nicht aus, hätte sich das Landgericht hinsichtlich der Fälle 5 bis 10 zu einer Erörterung veranlasst sehen müssen, ob die verwirklichten Eigentumsdelikte auch normalpsychologisch motiviert gewesen sein könnten. Dazu bestand schon deshalb besonderer Anlass, als der Angeklagte trotz Vorliegens der Erkrankung vor seiner Obdachlosigkeit über einen Zeitraum von rund 20 Jahren strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist und die Taten - wie das Landgericht im Rahmen der Gefahrenprognose selbst ausführt - in engem Bezug zur prekären Lebenssituation des Angeklagten stehen bzw. durch die Obdachlosigkeit mitverursacht seien.

(4) Auch hat der Angeklagte in seinem Geständnis in der Hauptverhandlung einzelnen Taten eine psychotisch unbeeinflusste, rational nachvollziehbare Motivation zugrunde gelegt. So hat er zu Fall 3 ausgeführt, er wisse nicht mehr, ob er die Dienstwaffe habe entwenden oder aufgrund seines Berührungszwangs, der nach den Feststellungen auf dem Tourette-Syndrom beruht, bloß habe anfassen wollen. Zu Fall 10 hat der Angeklagte angegeben, er habe sich vorbehalten, in dem Fahrzeug nicht bloß zu übernachten, sondern es eventuell auch darüber hinaus für sich zu behalten.

3. Auch die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Das Urteil genügt nicht den bereits unter 2.a) dargestellten Anforderungen, die an die Darlegung der das Sachverständigengutachten tragenden Begründung zu stellen sind. So lässt die Strafkammer, die bei der Gefahrenprognose dem Sachverständigen folgt, dessen Schlussfolgerung unerörtert, er könne nicht prognostizieren, ob der Angeklagte aus psychiatrischer Sicht künftig krankheitsbedingt schwerere Delikte als die verfahrensgegenständlichen Taten begehen werde. Worauf - trotz der festgestellten Anknüpfungs- und Befundtatsachen - die fehlende Möglichkeit einer Prognose beruht, bleibt dabei jedoch vollständig offen. Die Einschätzung des Sachverständigen ist damit nicht nachvollziehbar und der Nachprüfbarkeit durch das Revisionsgericht entzogen.

b) Soweit das Landgericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, der Angeklagte werde infolge des überdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden, verneint hat, sind darüber hinaus die Ausführungen bei der für die Prognose wichtigen Frage bisheriger Straffälligkeit widersprüchlich. So sind die Angaben des Sachverständigen, es sei „seit vielen Jahren immer wieder [zu] dokumentierten Gewaltanwendungen gegenüber Vertretern des Helfersystems und - seltener - auch unbeteiligten Dritten“ gekommen und der Angeklagte zeige seit der Erstmanifestation im Jahre 1997, „konstant dissoziale Verhaltensweisen“ nicht mit der Feststellung der Strafkammer in Einklang zu bringen, über die Anlasstaten hinaus lägen keine Erkenntnisse zu „etwaigen weiteren Straftaten“ vor.

4. Die Sache bedarf damit - naheliegender Weise unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen - insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 155

Externe Fundstellen: StV 2022, 277

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß