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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 371

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 332/19, Beschluss v. 23.01.2020, HRRS 2020 Nr. 371


BGH 3 StR 332/19 - Beschluss vom 23. Januar 2020 (LG Koblenz)

Eingeschränkte Schuldfähigkeit (Prüfung schuldfähigkeitsrelevanter Kriterien; Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei hochgradigen Affekten); Totschlag (strafschärfende Berücksichtigung der Tatintensität).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 212 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die Tatintensität darf dem Täter (hier: eines Totschlags) nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 21. Februar 2019 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt; von der Anordnung ihrer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Dagegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hatte die Angeklagte für eine Suchttherapie ein Zimmer in einer Klinik bezogen. In der Tatnacht legte sie sich mit ihrem vier Monate alten Sohn in das gemeinsame Bett. Als sie sich ihm zuwandte, lächelte er sie an. „Bei diesem Anblick kamen bei der Angeklagten unvermittelt die Erinnerungen an die (als traumatisches Erlebnis empfundene) Zeugung des Kindes und den Kindsvater hoch"; „ihr wurde übel“. Um den Anblick „nicht weiter ertragen zu müssen“, stand sie auf, nahm ihren Sohn aus dem Bett und schlug ihn mit seinem Hinterkopf im sicheren Wissen um die tödliche Wirkung dreimal wuchtig gegen eine Tischkante. Infolge der Gewalteinwirkung erlitt das Kind ein Schädel-Hirn-Trauma mit drei Schädelbrüchen am Hinterkopf und einem ausgeprägten Hirnödem. Die Verletzungen führten innerhalb der nachfolgenden halben Stunde zum Tod.

II.

1. Der Strafausspruch und das Absehen von der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Der Strafausspruch erweist sich als zum Nachteil der Angeklagten rechtsfehlerhaft, soweit das Landgericht bei der Strafrahmenwahl und der Strafzumessung im engeren Sinne die Art der Tatausführung uneingeschränkt als Strafschärfungsgrund gewertet hat, indem es die Tötung „durch drei separate, massive Gewalteinwirkungen“ und die darin „zu Tage getretene erhöhte kriminelle Energie“ zu Lasten der Angeklagten in die Abwägung eingestellt hat. Denn zugleich hat es nicht ausschließen können, dass sich die Angeklagte bei Tatbegehung infolge eines Affekts in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB befand.

aa) Die Tatintensität darf einem Täter nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (s. BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 2002 - 5 StR 365/02, NStZ-RR 2003, 104, 105; vom 31. Januar 2012 - 3 StR 453/11, NStZ-RR 2012, 169 mwN; MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl., § 212 Rn. 88).

Damit, ob der Angeklagten die „drei separate(n), massive(n) Gewalteinwirkungen“ trotz der Umstände, die ihre nicht ausschließbar verminderte Schuldfähigkeit begründen, im vollen Umfang vorwerfbar sind, setzt sich das Urteil nicht auseinander. Nach der Beurteilung des Schwurgerichts könnte ihr Vorgehen Ausdruck einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit gewesen sein.

bb) Der Strafausspruch beruht auf dem Rechtsfehler (s. § 337 Abs. 1 StPO), weil nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht der Art der Tatausführung und der darin zum Ausdruck gekommenen „erhöhten kriminellen Energie“ ein zu großes Gewicht beigemessen hat und anderenfalls auf eine mildere Strafe erkannt hätte.

b) Das Absehen von der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil die Urteilsausführungen zum fehlenden symptomatischen Zusammenhang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB denjenigen zur Auswirkung des - sachverständig diagnostizierten - „Abhängigkeitssyndrom(s) von verschiedenen psychotropen Substanzen, schwerpunktmäßig Amphetamin, gegenwärtig in Vollremission (ICD 10 F19.202)" auf die Affekttat widersprechen.

aa) Das Landgericht hat die Anordnung der Maßregel mit folgender Begründung abgelehnt: Zwar habe die Angeklagte einen Hang zum übermäßigen Konsum berauschender Mittel. Die Tötung ihres Sohnes stehe jedoch in keinem symptomatischen Zusammenhang mit dem Hang. Hierfür sei es zwar ausreichend, dass der Hang neben anderen Umständen zur Tat beigetragen habe. Dies sei „hier aber gerade nicht der Fall“. Der Suchtdruck, unter dem die Angeklagte den ganzen Tag gestanden habe, begründe keinen solchen Zusammenhang; er habe „nicht mit dazu beigetragen“, dass die Angeklagte diese Tat begangen habe (UA S. 35).

Demgegenüber hat das Schwurgericht bei der Prüfung der für und gegen einen schuldfähigkeitsrelevanten Affekt sprechenden „Kriterien von Saß & Salger“ (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 21. August 1996 - 2 StR 212/96, BGHR StGB § 20 Affekt 9; BeckOK StGB/Eschelbach, § 20 Rn. 36 ff.; Schäfer/Sander/ van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 988 ff.; LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 20 Rn. 133 ff.) der Suchterkrankung Bedeutung in zweierlei Hinsicht beigemessen, und zwar sowohl im Hinblick auf das eine Affekttat indizierende Merkmal des „charakteristischen Affektaufbaus“ als auch auf dasjenige der „psychopathologischen Disposition“ der Täterpersönlichkeit. Zu dem „charakteristischen Affektaufbau“ sei es unter anderem deshalb gekommen, weil die Angeklagte infolge ihrer Rauschmittelabhängigkeit bereits den ganzen Tag unter Suchtdruck gestanden und damit einhergehend unter innerer Unruhe gelitten habe. Die „psychopathologische Disposition“ ihrer Persönlichkeit sei insbesondere auch in dem Abhängigkeitssyndrom begründet (s. UA S. 31 f.).

Der aufgezeigte Widerspruch - die fehlende Mitursächlichkeit des Hangs für die Affekttat einerseits (§ 64 StGB) sowie die Mitursächlichkeit der Suchterkrankung für den sich in der konkreten Tatsituation auf die Tatschuld auswirkenden Affekt andererseits (§ 21 StGB) - wird in den weiteren Urteilsgründen nicht aufgelöst. Die Darlegungen zu dem fehlenden symptomatischen Zusammenhang leiden daher an einem sachlich-rechtlichen Mangel.

bb) Das Urteil beruht auch auf diesem Rechtsfehler. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Schwurgericht ohne den Widerspruch einen symptomatischen Zusammenhang im Sinne des § 64 StGB und die weiteren Voraussetzungen der Vorschrift bejaht hätte.

2. Im Übrigen hat die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils keinen der Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler ergeben.

III.

Der Rechtsfolgenausspruch unterliegt somit der Aufhebung. In diesem Umfang bedarf die Sache - wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 und 3 StPO) - erneuter Verhandlung und Entscheidung. Auch nach Zurückverweisung der Sache auf die Revision der Angeklagten kommt die Nachholung der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Betracht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Die Beschwerdeführerin hat die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht von ihrem Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Juni 2018 - 4 StR 187/18, juris Rn. 5; vom 11. Dezember 2018 - 3 StR 378/18, juris Rn. 24).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 371

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 159; StV 2021, 29

Bearbeiter: Christian Becker