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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 681

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 443/24, Beschluss v. 03.12.2024, HRRS 2025 Nr. 681


BGH 5 StR 443/24 - Beschluss vom 3. Dezember 2024 (LG Kiel)

Unterbringung (Verwertung früherer Straftaten bei der Gefährlichkeitsprognose; Gesamtwürdigung).

§ 63 StGB; § 66 StGB

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 20. März 2024 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Die Gefährlichkeitsprognose zeigt keine den Angeklagten belastenden Rechtsfehler auf.

Insbesondere ist es nach Ansicht des Senats nicht zu beanstanden, dass das Landgericht bei der erforderlichen umfassenden Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat einen gewalttätigen Übergriff auf einen Mitschüler im Jahr 2017 berücksichtigt hat. Die psychiatrische Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass der Umstand früherer Gewalttätigkeiten und eine bestehende Neigung zur Gewaltanwendung, wenn sich der Angeklagte unverstanden oder „geärgert“ fühle, schon losgelöst von der seit 2019 sicher zu diagnostizierenden Schizophrenie prognostisch ungünstig sei. Derart dissoziale und Gewalt fördernde Verhaltensweisen hätten sich bereits vor dem Ausbruch der Erkrankung gezeigt. Unter dem Einfluss der Störung gerate er in einen Zustand hochgradiger affektiver Erregung, bei dem er in Ermangelung funktionaler Konfliktlösungsstrategien über kein anderes Mittel verfüge als die von ihm als solche empfundenen Herabwürdigungen oder seinen Ärger mit Gewalt zu kompensieren.

Diese Ausführungen belegen, dass die beschriebene Neigung zu Gewalt einen individuell bedeutsamen Bedingungsfaktor für die Gefährlichkeit des Angeklagten darstellt, zu dem die Störung gefährlichkeitserhöhend hinzutritt (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 30. Mai 2024 - 5 StR 390/23 mwN, NStZ-RR 2024, 239 f.; vom 15. August 2023 - 5 StR 302/23 Rn. 15; vom 13. August 2024 - 4 StR 301/24, NStZ-RR 2024, 337, 339). Hier verhält es sich zudem so, dass die aus der Störung resultierende Gefährlichkeit so eng mit der schon zuvor bestehenden Neigung verknüpft ist, dass eine davon losgelöste Beurteilung den Erfordernissen einer umfassenden Gesamtwürdigung nicht gerecht würde (vgl. hierzu: BGH, Beschluss vom 23. April 2024 - 4 StR 8/24, NStZ-RR 2024, 305 f.).

Vielmehr sind die - die hierfür erforderlichen Anknüpfungstatsachen vermittelnden - psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen auf eine vollständige Persönlichkeitsanamnese angewiesen, die die Kenntnis aller wesentlichen Einzelheiten aus dem Vorleben des Betroffenen voraussetzt. Dürften dabei frühere Straftaten nicht verwertet werden, käme es unter Umständen zu lückenhaften Ergebnissen, die wissenschaftlich nicht überzeugen können und daher als Grundlage für die Überzeugungsbildung ausscheiden (BT-Drucks. 18/11933 S. 29, 30 zu § 52 Abs. 1 BZRG).

Um eine solche Gefahr zu vermeiden und eine verlässliche wissenschaftliche Grundlage für Gutachten über den Geisteszustand zu gewährleisten, hat der Gesetzgeber durch die Vorschrift des § 50 Nr. 2 BZRG aF Ausnahmen vom Verwertungsverbot für getilgte Vorstrafen geschaffen (Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. VI/1550, S. 23). Diese Ausnahmen hat er durch die Neufassung des § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG deutlich erweitert. Zum Sinn und Zweck dieser Ausweitung wird in den Gesetzesmaterialien ausgeführt, dass den Gutachterinnen und Gutachtern für ihre Gutachtenerstellung im Rahmen der §§ 20, 21, 63, 64, 66, 66a, 66b StGB über die Schuldfähigkeit und Gefährlichkeit der Betroffenen eine vollständige Persönlichkeitsanamnese ermöglicht werden solle, zu der häufig die wesentlichen Einzelheiten aus dem Vorleben der Betroffenen gehören (BT-Drucks. 18/11933 aaO).

Diesem Zweck - eine möglichst zuverlässige Tatsachenbasis für die Beurteilung der Gefährlichkeit zu schaffen - würde es aber widerstreiten, wollte man individuell bedeutsame Bedingungsfaktoren für die zu erwartende Delinquenz deswegen unbeachtet lassen, weil sie sich aus nicht von der Störung beeinflusstem Vorverhalten ergeben (so aber BGH, Beschlüsse vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22; vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20; vom 15. Mai 2023 - 6 StR 146/23, NStZ-RR 2023, 201 f.; für die Zulässigkeit einer nicht tragenden Heranziehung Urteil vom 20. Dezember 2023 - 2 StR 359/23; Beschluss vom 22. Juli 2020 - 1 StR 176/20; vgl. demgegenüber Beschlüsse vom 30. Mai 2024 - 5 StR 390/23 mwN, NStZ-RR 2024, 239 f.; vom 15. August 2023 - 5 StR 302/23; vom 13. August 2024 - 4 StR 301/24, NStZ-RR 2024, 337, 339).

Hier kommt es indes darauf nicht an. Denn die Strafkammer hat die Erwartung „ungebremster Gewalthandlungen“ - wie es sich etwa bei dem Übergriff 2017, aber auch bei einigen Anlasstaten gezeigt habe - mit der hochgradigen Erregbarkeit begründet, die sie aber auch als „symptomatisch für die bei dem Angeklagten dauerhaft vorhandene und fortbestehende Störung“ bewertet hat. Dies veranschaulicht, dass der Rückgriff auf die Tat im Jahr 2017 nur beispielhaften Charakter hatte, sich die ungünstige Prognose auf Umstände stützt, die auch aus den Anlasstaten und der Störung im Sinne des § 20 StGB abgeleitet werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 681

Bearbeiter: Christian Becker