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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 354

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 449/20, Beschluss v. 19.01.2021, HRRS 2021 Nr. 354


BGH 4 StR 449/20 - Beschluss vom 19. Januar 2021 (LG Halle)

Urteilsgründe (Fehlen eigener Feststellungen des neuen Tatrichters nach Aufhebung eines früheren Urteils); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Darlegungsanforderungen an den symptomatischen Zusammenhang zwischen der psychotischen Erkrankung des Angeklagten und der Anlasstat; Darlegungsanforderungen bei Feststellung einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis; Gefährlichkeitsprognose).

§ 267 Abs. 1 StPO; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es ist ein sachlich-rechtlicher Mangel, wenn der neue Tatrichter keine eigenen Feststellungen trifft, sondern sein Urteil fehlerhaft auf aufgehobene Feststellungen stützt. Soweit der neue Tatrichter Feststellungen trifft, darf kein Zweifel daran gelassen werden, dass es sich um neue, eigenständig getroffene Feststellungen handelt; eine Bezugnahme auf Aktenstellen, wozu auch das frühere Urteil gehört, ist in solchen Fällen gemäß § 267 Abs. 1 StPO nicht zulässig.

2. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Wenn sich der Tatrichter darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist, damit das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind.

3. Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 22. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht Stendal zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang vom Vorwurf der versuchten schweren Brandstiftung freigesprochen und die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat mit Beschluss vom 11. März 2020 das Urteil mit den zugehörigen Feststellungen auf und verwies die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Von der Aufhebung ausgenommen waren die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die aufrechterhalten blieben.

Im zweiten Rechtsgang hat das Landgericht den Angeklagten wiederum freigesprochen und erneut seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Nach den für die jetzt zuständige Strafkammer bindenden, im ersten Rechtsgang getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen nahm der Angeklagte nach seiner Entlassung am 26. September 2018 aus einer Unterbringung nach PsychKG, die im Zusammenhang mit einer Brandlegung in seiner Wohnung erfolgte, die ihm empfohlenen Medikamente nicht ein. Am Abend des 2. Oktober 2018 entzündete er zunächst mit den Worten „Ich zünd‘ meine Bude an“ im Hausflur des Mehrfamilienhauses Zigarettenhülsen, welche die steinernen Treppenstufen nicht in Brand setzten. In seiner Wohnung im ersten Obergeschoss des Hauses entzündete er an drei Stellen im Wohnzimmer Toilettenpapierrollen und verließ die Wohnung. Zwar geriet ein Vorhang in Brand, ferner wurden der Plastikrahmen der Balkontür angesengt und die Scharniere aus den Angeln gehoben. Wegen des schnellen Einsatzes der von Nachbarn alarmierten Feuerwehr gerieten aber wesentliche Gebäudeteile nicht in Brand.

Nach den ergänzenden Feststellungen der jetzt zuständigen Strafkammer bestand das Motiv des Angeklagten für die Anlasstat in einer diffusen Unzufriedenheit mit seiner Umgebung und einer heftigen Verärgerung über das mangelnde Interesse von Nachbarn an seiner Person. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass bei erhaltener Einsichtsfähigkeit die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Anlasstat aufgrund einer hebephrenen Schizophrenie gemäß § 21 StGB sicher erheblich vermindert, möglicherweise sogar gänzlich im Sinne von § 20 StGB aufgehoben war.

II.

1. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht näher ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hat erneut keinen Bestand.

a) Die Unterbringungsanordnung hält bereits deshalb rechtlicher Prüfung nicht stand, weil das Landgericht die Reichweite der Bindungswirkung des Senatsbeschlusses vom 11. März 2020 verkannt und daher keine eigenen Feststellungen zur subjektiven Tatseite der versuchten gefährlichen Brandstiftung getroffen hat.

Es ist ein sachlich-rechtlicher Mangel, wenn der neue Tatrichter keine eigenen Feststellungen trifft, sondern sein Urteil fehlerhaft auf aufgehobene Feststellungen stützt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. März 2007 - 2 StR 62/07 [zur Teilaufhebung von Feststellungen]; Beschluss vom 29. Mai 2012 - 3 StR 156/12). Soweit der neue Tatrichter Feststellungen trifft, darf kein Zweifel daran gelassen werden, dass es sich um neue, eigenständig getroffene Feststellungen handelt; eine Bezugnahme auf Aktenstellen, wozu auch das frühere Urteil gehört, ist in solchen Fällen gemäß § 267 Abs. 1 StPO nicht zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2000 - 3 StR 24/00). Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB setzt voraus, dass der Beschuldigte eine rechtswidrige Tat begangen hat; zu dieser gehören auch die inneren Merkmale des durch die Tat verwirklichten Straftatbestands (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 14. März 1989 - 1 StR 810/88, BGHR StGB § 63 Tat 2; Beschluss vom 24. September 2013 - 2 StR 338/13).

Dies hat das Landgericht verkannt.

Der Senat erhielt nur die im ersten Rechtsgang vom Landgericht getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrecht. Hingegen waren die Feststellungen zu den subjektiven Tatumständen von der Aufhebung umfasst. Die zur Entscheidung im zweiten Rechtsgang berufene Strafkammer hatte deshalb zum Tatentschluss des Angeklagten hinsichtlich der versuchten gefährlichen Brandstiftung selbst Beweis zu erheben und eigene Feststellungen zu treffen. Stattdessen hat die Strafkammer im Anschluss an die Eingangsbemerkung, „folgende Feststellungen“ aus dem ersten Urteil seien in Rechtskraft erwachsen, dieses Urteil auch insoweit zitiert, als es darin heißt: „In der Wohnung in der ersten Etage des Mehrfamilienhauses entschied sich der Angeklagte, sein Vorhaben, seine Wohnung in Brand zu stecken, umzusetzen“. Damit hat die Strafkammer rechtsfehlerhaft die nicht mehr existenten Feststellungen zur subjektiven Tatseite als für sich bindend angesehen und keine eigenen Feststellungen getroffen. Die Anordnung der Maßregel ist daher nicht von Feststellungen zum subjektiven Tatbestand der Anlasstat getragen und kann bereits aus diesem Grund keinen Bestand haben.

b) Die Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB hält darüber hinaus einer rechtlichen Prüfung nicht stand, weil die Annahme der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit nicht nachvollziehbar dargetan und zudem der symptomatische Zusammenhang zwischen der psychotischen Erkrankung des Angeklagten und der Anlasstat bzw. früheren Taten nicht belegt ist.

aa) Die Schuldfähigkeitsbeurteilung des Landgerichts lässt eine revisionsrechtliche Prüfung, ob der Angeklagte die Anlasstat im Zustand sicher erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat, nicht zu.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Wenn sich der Tatrichter darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist, damit das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. April 2020 - 1 StR 28/20 mwN und vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 371/20).

Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat sich dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen und als Ergebnis des Gutachtens lediglich mitgeteilt, dass bei dem Angeklagten die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu steuern, zum Tatzeitpunkt aufgrund der bei ihm bestehenden Hebephrenie mit schizophrenem Residualzustand mindestens erheblich vermindert, wenn nicht gar aufgehoben gewesen sei. Jedoch werden die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen, auf die er seine Diagnose stützt, im Urteil nicht genannt. Ein Rückgriff auf das Urteil im ersten Rechtsgang ist nicht möglich, da die Feststellungen auch insoweit aufgehoben sind. Daher ist bereits das Gutachtenergebnis, auf das das Landgericht das Vorliegen des Eingangsmerkmals einer krankhaften seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB gestützt hat, nicht nachvollziehbar dargetan.

bb) Darüber hinaus ist der von der Strafkammer angenommene symptomatische Zusammenhang zwischen der psychotischen Erkrankung des Angeklagten und der Anlasstat nicht tragfähig begründet.

Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14 und vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16 mwN).

Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Feststellungen dazu, in welcher Weise die hebephrene Schizophrenie des Angeklagten Auswirkungen auf die Begehung der Anlasstat hatte, hat das Landgericht nicht getroffen. Die von der Strafkammer mitgeteilte Erwägung des Sachverständigen, bei der hebephrenen Schizophrenie stünden Defizite in der Handlungsplanung im Vordergrund und die Betroffenen seien häufig unzufrieden mit ihrer sozialen Umwelt, ist nicht geeignet, eine Beeinflussung der vom Angeklagten begangenen Tat durch dessen psychotische Erkrankung tragfähig zu belegen. Auch die Feststellung, dass der Angeklagte bei der Brandlegung eine unbestimmte, rational nicht nachvollziehbare Wut auf seine Nachbarn empfand, sagt noch nichts darüber aus, in welcher Weise sich die Erkrankung auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in dieser konkreten Situation ausgewirkt hat.

cc) Schließlich ist die Gefährlichkeitsprognose nicht tragfähig begründet.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn neben den weiteren Voraussetzungen der Maßregel eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Der gefährliche Zustand muss nicht nur in der Anlasstat seinen Ausdruck finden, sondern auch in denjenigen nicht verfahrensgegenständlichen Taten, die zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose in die Gesamtabwägung einbezogen werden. Auch diese müssen ihrerseits in einem irgendwie gearteten Zusammenhang mit der Erkrankung des Beschuldigten bzw. Angeklagten stehen (vgl. BGH, Urteile vom 8. Oktober 2020 - 4 StR 256/20; vom 21. April 1998 - 1 StR 103/98; Beschluss vom 24. Juni 2004 - 4 StR 210/04).

Im angefochtenen Urteil ist dieser symptomatische Zusammenhang zwischen der Krankheit und früheren Taten des Angeklagten nicht belegt. Das Landgericht hat jedoch zur Begründung, dass von dem Beschuldigten aufgrund seines Zustands in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, auch auf Taten des Angeklagten zwischen dem 3. August 2017 und dem 21. August 2018 verwiesen und für seine Prognose neben der Anlasstat maßgeblich sowohl die „klare Progredienz“ der Schwere dieser Taten bis zu einer Brandlegung am 21. August 2018 als auch das Spektrum dieser Taten „von Gewalttaten über Brandstiftungsdelikte bis zu sexuell grenzverletzendem Verhalten“ herangezogen. Einen Beleg, dass der Beschuldigte auch bei diesen Vorfällen aufgrund seiner Erkrankung erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit vermindert war, enthält das Urteil jedoch nicht. Die Urteilsausführungen teilen insoweit lediglich mit, dass diese Vortaten wegen der nicht ausschließbaren Aufhebung der Steuerungsfähigkeit aufgrund der dauerhaft vorliegenden Hebephrenie von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden. Diese Mitteilung des von der Staatsanwaltschaft angenommenen symptomatischen Zusammenhangs zwischen der Erkrankung des Angeklagten und den Vortaten vermag den Beleg im Urteil nicht zu ersetzen.

3. Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist auch der Freispruch des Angeklagten aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16).

4. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht desselben Landes zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 StPO). In Anbetracht des bisherigen Zeitablaufs wird sich das Landgericht um eine besonders zügige Verfahrensführung zu bemühen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 354

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 182

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner