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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1131

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 64/22, Beschluss v. 19.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1131


BGH 4 StR 64/22 - Beschluss vom 19. Juli 2022 (LG Frankenthal (Pfalz))

Verständigung (Informationspflicht: außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen, erfolglose Verständigungsbemühungen, Beruhen des Urteils, kein entscheidungserhebliches Auswirken auf das Prozessverhalten des Angeklagten, nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 337 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 27. Juli 2021, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den im Übrigen freigesprochenen Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln, und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zudem hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und Einziehungsentscheidungen getroffen. Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit zwei Verfahrensbeanstandungen und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

I.

Der Angeklagte beanstandet zu Recht die Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO.

1. Der Rüge liegt - soweit für die Entscheidung von Bedeutung - folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Nach dem zweiten Hauptverhandlungstag am 19. Januar 2021 kamen die Berufsrichter der Strafkammer, die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger der vier Angeklagten zu einem nichtöffentlichen Gespräch zusammen. Die Verfahrensbeteiligten wurden hierbei vom Gericht nach ihren Strafmaßvorstellungen im Falle einer geständigen Einlassung der Angeklagten befragt. Die Vertreter der Staatsanwaltschaft teilten mit, dass nach ihrer Auffassung bei allen Angeklagten auch im Falle eines Geständnisses im Sinne der Anklage Strafen von vier Jahren und mehr erforderlich blieben. Jedenfalls habe der Angeklagte W. mit der niedrigsten Strafe zu rechnen, weil er nicht wegen bandenmäßigen Handels angeklagt sei. Wegen der rechtlichen Einordnung sei man nicht festgelegt; solange die Strafhöhen stimmten, sei aus ihrer Sicht zu vernachlässigen, „wie das Kind heiße“. Sodann bat der Vorsitzende die Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger, ihre „Schmerzgrenzen“ mitzuteilen. Dies geschah jeweils, wobei ein Verteidiger des Angeklagten M. G. erklärte, dass er für seinen Mandanten eine Bewährungstrafe anstrebe und davon ausgehe, es liege keine Bandentat vor. Dieser Vorstellung trat die Vertreterin der Staatsanwaltschaft sofort entgegen. Der Vorsitzende stellte schließlich fest, dass eine Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten wohl nicht zu erreichen sei und forderte dazu auf, sich Gedanken zu machen, ob man nicht doch noch weiter aufeinander zugehen könne. Ansonsten sei eine sehr lange Beweisaufnahme mit einer Vielzahl von Zeugen und Terminen zu erwarten.

Über diese Unterredung machte der Vorsitzende der Strafkammer in der Hauptverhandlung keine Mitteilung.

2. Die zulässig erhobene Rüge ist begründet.

a) Der Vorsitzende der Strafkammer hat die sich aus § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO ergebende Pflicht zur Information über außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen verletzt, indem er das - von der Revision unwidersprochen vorgetragene - Gespräch vom 19. Januar 2021 und seinen wesentlichen Inhalt in der weiteren Hauptverhandlung nicht mitgeteilt hat. Denn die Unterredung, bei der von allen Beteiligten eine Verbindung zwischen einem möglichen Geständnis der Angeklagten und dem jeweiligen Verfahrensergebnis hergestellt wurde, war ein Gespräch, das die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand hatte (vgl. hierzu BVerfGE 133, 168 Rn. 85; BGH, Beschluss vom 23. September 2021 - 1 StR 43/21 Rn. 16; Beschluss vom 2. Juni 2021 - 1 StR 44/21 Rn. 9).

Die Informationspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO ist auch bei erfolglosen Verständigungsbemühungen zu beachten (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 StR 209/21 Rn. 5; Urteil vom 18. November 2020 - 2 StR 317/19 Rn. 45). Sie gehört zu den vom Gesetzgeber zur Absicherung des Verständigungsverfahrens normierten Transparenz- und Dokumentationsregeln, durch die gewährleistet werden soll, dass Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung stets in öffentlicher Hauptverhandlung zur Sprache kommen, so dass für informelles und unkontrollierbares Verhalten unter Umgehung der strafprozessualen Grundsätze kein Raum verbleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 StR 209/21 Rn. 5; Beschluss vom 15. Januar 2015 ? 1 StR 315/14, BGHSt 60, 150 Rn. 14).

b) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht (§ 337 StPO).

Das Beruhen des Urteils auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO kann im Einzelfall nur ausgeschlossen werden, wenn die Gesetzesverletzung sich einerseits nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann und mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht andererseits der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und diese nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461 Rn. 39; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 StR 209/21 Rn. 7 mwN).

Der Senat vermag schon nicht sicher auszuschließen, dass sich der geständige Angeklagte, auf dessen Angaben die Strafkammer ihre Überzeugung weitgehend gestützt hat, bei einer gesetzeskonformen Unterrichtung durch das Gericht effektiver als geschehen hätte verteidigen können. Zudem liegt ein gravierender die Kontrollfunktion berührender Transparenzmangel vor. Der Gesprächsinhalt lässt es zumindest nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass die nicht offenbarte Unterredung auf eine gesetzeswidrige informelle Absprache - auch zum Schuldspruch - abzielte.

II.

Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Kostenentscheidung ist angesichts der Aufhebung des Urteils und der ausgesprochenen Zurückverweisung der Sache gegenstandslos (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2021 - 1 StR 242/20 Rn. 21; Beschluss vom 22. Oktober 2019 - 1 StR 271/19 Rn. 18).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1131

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede