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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1018

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 36/22, Beschluss v. 25.05.2022, HRRS 2022 Nr. 1018


BGH 4 StR 36/22 - Beschluss vom 25. Mai 2022 (LG Bielefeld)

Erlaubnistatbestandsirrtum (Voraussetzungen; Unterbringungsanordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus); Notwehrexzess (Voraussetzungen: keine Putativnotwehr, nicht schon jedes Angstgefühl, Affekt nicht die alleinige Ursache für die Überschreitung der Grenze der Notwehr; Unterbringung nach § 63 StGB; Notwehrprovokation: schuldhafte Provokation, Einschränkung des Notwehrrechts); gefährliche Körperverletzung.

§ 224 StGB; § 32 StGB; § 16 StGB; § 33 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Ausschluss des Vorsatzes führender Erlaubnistatbestandsirrtum liegt vor, wenn der Angegriffene sich irrig Umstände vorstellt, die - wenn sie vorlägen - einen anerkannten Rechtfertigungsgrund begründen würden. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum kommt daher in Betracht, wenn der Angegriffene irrig annimmt, angegriffen zu werden, weiterhin, wenn er zu einem objektiv nicht erforderlichen Verteidigungsmittel greift, weil er irrig annimmt, der bereits laufende Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten eines weiteren Angreifers verstärkt werden, und das gewählte Verteidigungsmittel in der von ihm angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre.

2. Das Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums steht einer Unterbringungsanordnung nach § 63 StGB nicht entgegen, wenn der Irrtum Folge des krankhaften, zur Schuldunfähigkeit des Täters führenden Zustands ist.

3. Voraussetzung für den Notwehrexzess gemäß § 33 StGB ist das Bestehen einer objektiv gegebenen Notwehrlage; auf Fälle der sogenannten Putativnotwehr ist die Vorschrift des § 33 StGB nicht anwendbar. Überschritt der Angeklagte die Grenzen zulässiger Verteidigung aus krankheitsbedingt übersteigerter Furcht, so ist eine Strafbefreiung nach § 33 StGB möglich, wenngleich dies einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht entgegen steht. Allerdings erfüllt nicht schon „jedes Angstgefühl“ das Merkmal der Furcht im Sinne des § 33 StGB; vielmehr muss ein durch das Gefühl des Bedrohtseins verursachter Störungsgrad vorliegen, bei dem der Täter das Geschehen nur noch in erheblich reduziertem Maße verarbeiten kann. Die Annahme eines entschuldigenden Notwehrexzesses kommt auch in Betracht, wenn der in § 33 StGB genannte (asthenische) Affekt nicht die alleinige oder auch nur überwiegende Ursache für die Überschreitung der Grenzen der Notwehr gewesen ist; es genügt vielmehr, dass er ? neben anderen gefühlsmäßigen Regungen ? für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war.

4. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Täter, der den Angriff auf sich leichtfertig provoziert hat, von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen darf. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur dann, wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt. Die Einschränkung des Notwehrrechts setzt aber ein Verhalten voraus, das „von Rechts wegen vorwerfbar“ ist- Erforderlich ist eine schuldhafte Provokation, die vorliegt, wenn der Täter weiß oder wissen muss, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 1. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die ausgeführte Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte „jedenfalls seit einigen Jahren“ an einer paranoiden Schizophrenie. Zuletzt lebte er in einem Waldgebiet, das insbesondere von Hundehaltern genutzt wird, die dort ihre Hunde ausführen.

Der Angeklagte, der sich vor Hunden fürchtet, ärgerte sich, wenn Hundehalter trotz bestehenden Leinenzwangs ihre Hunde unangeleint ausführten. Es kam dabei häufig zu verbalen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der Angeklagte die Hundehalter bedrohte. Vor diesem Hintergrund kam es zu folgenden beiden Anlasstaten:

a) Am 8. Oktober 2020 begegnete der Angeklagte bei einem Spaziergang dem Geschädigten D. und seiner Ehefrau, die einen ihrer beiden Hunde kurz vor Erreichen ihres Hauses ableinten. Der Angeklagte sah dies und forderte die Eheleute D. barsch auf, den Hund wieder anzuleinen. Anschließend sprühte er Tierabwehrspray in Richtung des Tieres. Der Geschädigte D. trat daraufhin auf den Angeklagten zu und forderte ihn auf, dies zu unterlassen. Nunmehr sprühte der Angeklagte Tierabwehrspray in Richtung des Geschädigten, der daraufhin zurückwich; sodann schlug der Angeklagte, der sich von dem Geschädigten bedroht fühlte, mit einem Stock gegen Kopf und Schulter des Geschädigten; anschließend entfernte er sich mit dem Bemerken, dieser solle ihn künftig nicht mehr mit seinen Hunden belästigen. Der Geschädigte trug eine Augenrötung, eine Schwellung am Hals sowie eine Schulterprellung davon (Tat II.1. der Urteilsgründe).

b) Am 17. November 2020 saß der Angeklagte auf einem Baumstamm, während der Geschädigte G., der drei Hunde an Schleppleinen im Wald ausführte, an ihm vorüberging. Der Angeklagte geriet darüber in Verärgerung und forderte den Geschädigten G. auf, die Hunde „wegzunehmen“. Sodann zog er Tierabwehrspray aus seiner Tasche und sprühte damit in Richtung eines der Hunde, der rund zwei Meter vom Angeklagten entfernt war und keine Anstalten machte, sich ihm zu nähern. Über den Einsatz des Tierabwehrsprays empört forderte der Zeuge G. den Angeklagten lautstark auf, das Sprühen zu unterlassen; dabei lief er zügig auf den sich erhebenden Angeklagten zu und stoppte erst unmittelbar vor ihm, so dass die Oberkörper der beiden Männer sich leicht berührten. Nunmehr zog der Angeklagte, der sich von dem Geschädigten bedroht fühlte, ein Messer mit einer rund zehn Zentimeter langen, nach vorne spitz zulaufenden Klinge aus seiner Hosentasche und versetzte dem Geschädigten unvermittelt einen Stich in die rechte Brust; dabei nahm er dessen Tod zumindest billigend in Kauf. Der Geschädigte ergriff die Flucht, blieb nach einigen Metern stehen und fotografierte den Angeklagten mit seinem Mobiltelefon. Der hierüber verärgerte Angeklagte verfolgte den ? lebensgefährlich verletzten ? Geschädigten bis zu seinem Fahrzeug, forderte ihn zum Verlassen des Fahrzeugs auf und drohte, ihn umzubringen. Sodann entfernte er sich. Die Stichverletzung führte zu einer Rippendurchtrennung sowie zur Verletzung von Milz und Zwerchfell; der Geschädigte konnte durch eine sofortige Notoperation gerettet werden (Tat II.2. der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat die verfahrensgegenständlichen Taten rechtlich jeweils als gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB (Tat II.1. der Urteilsgründe) bzw. § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB (Tat II.2. der Urteilsgründe) gewertet und angenommen, dass der Angeklagte vom Versuch des Totschlags zum Nachteil des Geschädigten G. strafbefreiend zurückgetreten sei. Sachverständig beraten ist das Landgericht von einer krankheitsbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) ausgegangen, weil der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung und der damit verbundenen erhöhten aggressiv-impulsiven Handlungsbereitschaft „vor dem Hintergrund einer emotionalen und affektiven Labilisierung in Gestalt einer Desaktualisierungsschwäche“ nur eingeschränkt befähigt gewesen sei, auf rationale Kognitionen und Steuerungsmechanismen zurückzugreifen bzw. aufkommende fremdaggressive Handlungsimpulse zu unterdrücken. Da von dem Angeklagten höchstwahrscheinlich auch in Zukunft den Anlassdelikten vergleichbare Taten zu erwarten seien, hat es seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.

II.

Die Schuldsprüche halten sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht im Fall II.1. der Urteilsgründe einen Erlaubnistatbestandsirrtum verneint hat, sind nicht tragfähig.

a) Das Landgericht hat angenommen, dass die Tat zum Nachteil des Geschädigten D. weder durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sei noch ein „Schuldausschließungsgrund in Gestalt eines Erlaubnistatbestandsirrtums“ vorliege. Der Geschädigte habe den Angeklagten weder angegriffen noch habe dieser sich irrig einen Sachverhalt vorgestellt, bei dessen Vorliegen sein Handeln gerechtfertigt gewesen wäre. Er habe das Geschehen vielmehr lediglich krankheitsbedingt „fehlinterpretiert“; ein solcher Irrtum wäre einem „geistig Gesunden“ nicht unterlaufen und sei daher rechtlich unbeachtlich.

b) Zwar begegnet die tatgerichtliche Annahme, es habe keine Notwehrlage bestanden, weil der Geschädigte den Angeklagten nicht körperlich angegriffen habe, sondern vor ihm zurückgewichen sei, keinen Bedenken. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht das Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums verneint hat, lassen jedoch einen Rechtsfehler erkennen.

aa) Ein analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Ausschluss des Vorsatzes führender Erlaubnistatbestandsirrtum (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 3 StR 199/15, NStZ 2016, 333, 334; Urteil vom 10. Februar 2000 - 4 StR 558/99, BGHSt 45, 378, 384; Urteil vom 6. Juni 1952 - 1 StR 708/51, BGHSt 3, 105, 106 f.) liegt vor, wenn der Angegriffene sich irrig Umstände vorstellt, die - wenn sie vorlägen - einen anerkannten Rechtfertigungsgrund begründen würden. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum kommt daher in Betracht, wenn der Angegriffene irrig annimmt, angegriffen zu werden, weiterhin, wenn er zu einem objektiv nicht erforderlichen Verteidigungsmittel greift, weil er irrig annimmt, der bereits laufende Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten eines weiteren Angreifers verstärkt werden, und das gewählte Verteidigungsmittel in der von ihm angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2019 ? 4 StR 166/19, NStZ 2020, 725; Urteil vom 27. September 2012 ? 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 141).

bb) Zwar ist das Landgericht im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass das Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums einer Unterbringungsanordnung nach § 63 StGB nicht entgegen steht, wenn der Irrtum Folge des krankhaften, zur Schuldunfähigkeit des Täters führenden Zustands ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 1957 ? 5 StR 199/57, BGHSt 10, 355; vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 1991 ? 3 StR 148/91 Rn. 9). Es hat jedoch nicht bedacht, dass (auch) ein - krankheitsbedingter - Irrtum über das Vorliegen einer Notwehrlage die Strafbarkeit wegen vorsätzlichen Handelns entfallen lässt. Daher durfte nicht offenbleiben, welche ? krankheitsbedingte ? Fehlvorstellung der Situation der sich durch den Geschädigten „bedroht“ fühlende Angeklagte unterlag. Zwar könnte seine abschließende Äußerung, der Geschädigte solle ihn nicht mehr mit den Hunden belästigen, gegen die Annahme sprechen, der Angeklagte könne sich vorgestellt haben, von dem Geschädigten angegriffen zu werden. Dies versteht sich jedoch angesichts des festgestellten Krankheitsbilds und der damit einhergehenden „feindlich-bedrohlichen Umweltwahrnehmung“ nicht von selbst und bedarf daher umfassender tatgerichtlicher Bewertung.

2. Auch der Schuldspruch im Fall II.2. der Urteilsgründe hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat angenommen, dass die Tat zum Nachteil des Geschädigten G. nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt sei. Zwar habe der Angeklagte mit Verteidigungswillen gehandelt, um einen unmittelbar bevorstehenden Angriff des Geschädigten abzuwehren. Der Messereinsatz gegen dessen Oberkörper sei aber nicht geboten gewesen, weil sein Notwehrrecht aufgrund seines Vorverhaltens aus sozialethischen Gründen eingeschränkt und er jedenfalls verpflichtet gewesen sei, den Messereinsatz vorher anzudrohen.

b) Diese Erwägungen greifen zu kurz. Das Landgericht hätte sich unter Berücksichtigung der weiteren Feststellungen zum Krankheitsbild des Angeklagten und seiner krankheitsbedingten „allgemein feindlich-bedrohlichen Umweltwahrnehmung“ zu der Prüfung veranlasst sehen müssen, ob der Angeklagte die Grenzen der Notwehr aus Furcht (§ 33 StGB) überschritten und daher wegen eines Notwehrexzesses ohne Schuld gehandelt haben könnte.

aa) Voraussetzung ist das Bestehen einer objektiv gegebenen Notwehrlage; auf Fälle der sogenannten Putativnotwehr ist die Vorschrift des § 33 StGB nicht anwendbar (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2003 - 4 StR 267/02, NStZ 2003, 599, 600; Urteil vom 24. Oktober 2001 - 3 StR 272/01, NStZ 2002, 141; Urteil vom 18. April 2002 - 3 StR 503/01, NStZRR 2002, 203, 204). Überschritt der Angeklagte die Grenzen zulässiger Verteidigung aus krankheitsbedingt übersteigerter Furcht, so ist eine Strafbefreiung nach § 33 StGB möglich, wenngleich dies einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht entgegen steht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2003 - 1 StR 327/03, NStZ-RR 2004, 10). Allerdings erfüllt nicht schon „jedes Angstgefühl“ das Merkmal der Furcht im Sinne des § 33 StGB; vielmehr muss ein durch das Gefühl des Bedrohtseins verursachter Störungsgrad vorliegen, bei dem der Täter das Geschehen nur noch in erheblich reduziertem Maße verarbeiten kann (vgl. BGH, Urteil vom 30. Mai 1996 ? 4 StR 109/96 Rn. 12; Beschluss vom 9. Oktober 1998 ? 2 StR 443/98, NStZ?RR 1999, 264; Urteil vom 3. Juni 2015 ? 2 StR 473/14 Rn. 21). Die Annahme eines entschuldigenden Notwehrexzesses kommt auch in Betracht, wenn der in § 33 StGB genannte (asthenische) Affekt nicht die alleinige oder auch nur überwiegende Ursache für die Überschreitung der Grenzen der Notwehr gewesen ist; es genügt vielmehr, dass er ? neben anderen gefühlsmäßigen Regungen ? für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1998 ? 1 StR 779/97 Rn. 10).

bb) An der erforderlichen Prüfung des § 33 StGB fehlt es. Bei dieser Sachlage kommt es nicht mehr darauf an, dass auch die Annahme einer sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts des Angeklagten rechtlich nicht unbedenklich ist.

Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Täter, der den Angriff auf sich leichtfertig provoziert hat, von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen darf. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur dann, wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2019 - 4 StR 456/18 Rn. 6 mwN). Die Einschränkung des Notwehrrechts setzt aber ein Verhalten voraus, das „von Rechts wegen vorwerfbar“ ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, NJW 1996, 2315, 2316; Urteil vom 14. Juni 1972 - 2 StR 679/71, BGHSt 24, 356, 359; siehe auch Urteil vom 3. Juni 2015 ? 2 StR 473/14 Rn. 16). Erforderlich ist eine schuldhafte Provokation, die vorliegt, wenn der Täter weiß oder wissen muss, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2019 - 4 StR 456/18 Rn. 7; Urteil vom 19. November 1992 - 4 StR 464/92; Beschluss vom 10. November 2010 - 2 StR 483/10, NStZ-RR 2011, 74, 75; Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 StR 208/18, StraFo 2019, 34, 35). Dies versteht sich angesichts des festgestellten Krankheitsbilds des Angeklagten, der die „Wahl der Mittel zur von ihm angestrebten Durchsetzung“ seiner Interessen „krankheitsbedingt“ nicht kontrollieren kann, nicht von selbst und hätte daher näherer Erörterung bedurft.

3. Diese Rechtsfehler führen zur Aufhebung der Schuld- und Strafaussprüche mit den zugrundeliegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) und ziehen die Aufhebung der Unterbringungsanordnung nach sich. Diese könnte hier auch deshalb nicht bestehen bleiben, weil eine (möglicherweise) unter den Voraussetzungen des § 33 StGB begangene Tat nicht ohne nähere Prüfung als symptomatisch für eine krankheitsbedingte Gefährlichkeit angesehen werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2003 - 1 StR 327/03, NStZ-RR 2004, 10, 11; Beschluss vom 29. Mai 1991 - 3 StR 148/91, NStZ 1991, 528).

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht (erneut) zu der Überzeugung gelangen, dass der Angeklagte jeweils mit Verteidigungswillen gehandelt hat, wird dies in den Urteilsgründen im Einzelnen widerspruchsfrei darzulegen und tragfähig zu belegen sein. Weiterhin wird auch die Frage der Steuerungsfähigkeit erneut zu prüfen und dabei zu beachten sein, dass es dabei entscheidend auf die motivationale Steuerungsfähigkeit, also die Fähigkeit des Täters ankommt, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Mai 2022 ? 5 StR 99/22 Rn. 10). Die Erwägung, die Wahl der Mittel entziehe sich „krankheitsbedingt der Kontrolle des Angeklagten“, weckt Zweifel daran, ob er tatsächlich zu einer wenn auch eingeschränkten Verhaltenssteuerung in der Lage ist.

Schließlich wird zu bedenken sein, dass dem Angeklagten der Umstand, dass er (auch) aus Verärgerung über den Verstoß gegen die Leinenpflicht handelte, nicht ohne Abstriche als Strafschärfungsgrund („Akt der Selbstjustiz“) zur Last gelegt werden darf, ohne die auf seiner Erkrankung beruhenden Einschränkungen (§ 21 StGB) zu berücksichtigen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1018

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede