hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 679

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 166/19, Beschluss v. 21.11.2019, HRRS 2020 Nr. 679


BGH 4 StR 166/19 - Beschluss vom 21. November 2019 (LG Landau)

Notwehr (Erlaubnistatbestandsirrtum; keine Pflicht zu Hilfeersuchen gegenüber Dritten; Erforderlichkeit der Verteidigungshandlungen bei mehreren Angreifern; Einschränkung der Notwehrbefugnisse gegenüber volltrunkenen Angreifern).

§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 32 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Vorsatzausschluss führender Erlaubnistatbestandsirrtum kann gegeben sein, wenn der rechtswidrig Angegriffene zu einem objektiv nicht erforderlichen Verteidigungsmittel greift, weil er irrig annimmt, der bereits laufende Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten eines weiteren Angreifers verstärkt werden, und das gewählte Verteidigungsmittel in der von ihm angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre. Konnte der Angegriffene den Irrtum vermeiden, kommt nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB eine Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht.

2. Ein Angegriffener muss sich in der Regel nicht auf Hilfeersuchen gegenüber Dritten verweisen lassen.

3. Für die Beurteilung der (objektiven) Erforderlichkeit der Verteidigungshandlungen ist es von wesentlicher Bedeutung, wieviel Angreifern der Angeklagte tatsächlich gegenüberstand und inwieweit eine Verstärkung des Angriffs durch weitere Personen unmittelbar bevorstand.

4. Eine Einschränkung der Notwehrbefugnisse kommt unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung allenfalls bei einem volltrunkenen Angreifer in Betracht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 23. November 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt, ein Messer eingezogen und eine rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens festgestellt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Das Landgericht hat die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Am frühen Morgen des Tattages hielt sich der Angeklagte mit seiner Freundin und einer Bekannten auf dem Gehweg vor einer Diskothek auf, als sich ihnen der Nebenkläger B. annäherte und in aufdringlicher Art an die Freundin des Angeklagten heranrückte. Der Angeklagte äußerte wiederholt, man wolle in Ruhe gelassen werden und nach Hause gehen. Der Nebenkläger B. ? der sich in Begleitung zweier Freunde ? des Nebenklägers Ba. und des Zeugen Bo. ? befand, ärgerte sich über das selbstbewusste Auftreten des Angeklagten und ging nun „mit vorgeschobener Brust, aber anliegenden Armen“ in dessen Richtung. Er wollte ihn nicht schlagen, jedoch mit der Masse seines Körpers wegschieben und seine Stärke demonstrieren.

Der Zeuge Bo., der sich einige Meter entfernt mit den Türstehern der Diskothek unterhalten hatte, wurde auf das Geschehen aufmerksam und kam hinzu, um den Nebenkläger B. zu unterstützen. Der Nebenkläger Ba., der bis dahin neben der Bekannten des Angeklagten gestanden und sich passiv verhalten hatte, wollte ein Eingreifen des Zeugen Bo. in die Auseinandersetzung zwischen dem Nebenkläger B. und dem Angeklagten verhindern; er trat nach vorn in Richtung des Angeklagten, erhob seine Arme, um den auf den Angeklagten zugehenden Zeugen Bo. zurückzuhalten, und drehte sich zu dem Zeugen, so dass er dem Angeklagten den Rücken zuwandte.

Der Angeklagte sah sich nun dem auf ihn zukommenden Nebenkläger B., der sich „noch außerhalb der Armreichweite befand“, sowie den sich nähernden Bo. und Ba. gegenüber. Dabei verkannte er, dass der Nebenkläger Ba. nur schlichtend eingreifen und ihn nicht angreifen wollte. Da er nicht sicher war, ob ein Faustkampf zur Abwehr ausreichen würde, holte der Angeklagte aus seiner Hosentasche ein Taschenmesser hervor und hielt dieses mit ausgeklappter Klinge in der Faust, wobei die Klinge in Verlängerung des Handrückens nach hinten aus der Faust herausragte; von den anderen Beteiligten wurde das Messer nicht wahrgenommen.

Der Nebenkläger B. ging weiter mit angelegten Armen auf den Angeklagten zu. Nachdem der Angeklagte nochmals äußerte, dass man sie in Ruhe lassen solle, schlug er mit dem Messer in der Faust in Richtung des Nebenklägers B. Er wollte den Nebenkläger mit der Faust im Kinnbereich treffen, nahm aber zugleich billigend in Kauf, ihn mit dem Messer, dessen Einsatz er nicht angedroht hatte, zu verletzen. Während der Faustschlag den Nebenkläger verfehlte, erreichte der Angeklagte mit der Rückholbewegung seines Arms mit der Messerklinge den Hals des Nebenklägers B. und fügte ihm eine mehrere Zentimeter tiefe, quer über den Hals verlaufende Stich-Schnitt-Verletzung zu.

Der Angeklagte holte sodann zu einem weiteren Schlag in Richtung des Nebenklägers B. aus. Wiederum mit der Rückholbewegung seines Arms traf er ihn an der Brust und fügte ihm dort eine etwa 35 cm lange Stich-Schnitt-Verletzung zu. Bei der Rückholbewegung traf er mit der Messerklinge auch den Nebenkläger Ba. am Rücken unterhalb der Achselhöhle, wobei das Messer mehrere Zentimeter tief in dessen Brustkorb eindrang. Der Angeklagte hatte den Nebenkläger Ba. wahrgenommen und bewusst um sich geschlagen, um möglichst auch diesen - vermeintlichen - Angreifer zu treffen und angriffsunfähig zu verletzen. Die den Nebenklägern durch den Angeklagten zugefügten Verletzungen waren lebensgefährlich. Das Leben beider Nebenkläger konnte durch Notoperationen gerettet werden.

Sowohl der Angeklagte als auch die Nebenkläger waren zur Tatzeit erheblich alkoholisiert. Der Angeklagte hatte eine Blutalkoholkonzentration von bis zu 2,34 Promille; der Blutalkoholwert des Nebenklägers B. betrug 1,75 Promille, derjenige des Nebenklägers Ba. 1,53 Promille.

b) Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB in zwei tateinheitlichen Fällen gewürdigt. Weder im Hinblick auf den Nebenkläger B. noch in Bezug auf den Nebenkläger Ba. sei das Handeln des Angeklagten durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gewesen.

Zwar sei mit Blick auf das Geschehen zum Nachteil des Nebenklägers B. zugunsten des Angeklagten von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff auszugehen, jedoch sei seine Verteidigungshandlung nicht erforderlich gewesen. Er hätte den Einsatz des Messers androhen oder es zumindest offen und warnend hochhalten müssen; hierfür hätte ihm genügend Zeit zur Verfügung gestanden. Zudem sei sein Notwehrrecht gegenüber dem deutlich alkoholisierten Nebenkläger eingeschränkt gewesen. Eine Abwehr mit der Hand oder den Fäusten wäre hier ausreichend gewesen; sogar lautes Schreien hätte genügt, um die Türsteher der Diskothek zu einem Eingreifen zu veranlassen. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte irrig die tatsächlichen Voraussetzungen der Notwehr angenommen hätte, lägen nicht vor; eine entsprechende Einlassung habe er nicht abgegeben, sondern sich lediglich dahin eingelassen, dass er das Messer vor dessen Einsatz vorgezeigt habe.

Hinsichtlich des Nebenklägers Ba., von dem objektiv kein Angriff ausgegangen sei, fehle es bereits an einer Notwehrlage; allerdings habe sich der Angeklagte insoweit irrig eine Situation vorgestellt, in der ihm ein Notwehrrecht grundsätzlich zugestanden hätte. Aber auch gegenüber dem Nebenkläger Ba. hätte er den Einsatz des Messers androhen oder zumindest darauf hinweisen müssen, dass er ein Messer in der Hand halte.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB zum Nachteil des Geschädigten B. kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil sich die Strafkammer nicht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob sich der Angeklagte insoweit in einem Irrtum über die Erforderlichkeit der Verteidigung befand.

a) Ein analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Vorsatzausschluss führender Erlaubnistatbestandsirrtum kann gegeben sein, wenn der rechtswidrig Angegriffene zu einem objektiv nicht erforderlichen Verteidigungsmittel greift, weil er irrig annimmt, der bereits laufende Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten eines weiteren Angreifers verstärkt werden, und das gewählte Verteidigungsmittel in der von ihm angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2012 ? 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 141; Beschluss vom 1. März 2011 ? 3 StR 450/10, NStZ 2011, 630; siehe dazu auch Beschluss vom 21. August 2013 ? 1 StR 449/13, NJW 2014, 1121 Rn. 9). Konnte der Angegriffene den Irrtum vermeiden, kommt nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB eine Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 9. Mai 2001 ? 3 StR 542/00, NStZ 2001, 530 f.).

b) Nach den Feststellungen ging der Angeklagte zwar in Bezug auf den Nebenkläger B. zutreffend von dem Bestehen einer Notwehrlage aus. Doch nahm er irrig an, dass der von diesem ausgehende rechtswidrige Angriff nicht nur durch den zur „Unterstützung“ hinzukommenden Zeugen Bo., sondern auch durch den Nebenkläger Ba. eine Intensivierung erfahren würde. Danach hätte die Strafkammer auch prüfen müssen, ob sich der Angeklagte bei seinen Abwehrhandlungen zum Nachteil des Nebenklägers B. im Rahmen dessen gehalten hat, was in der von ihm angenommenen Situation zur Abwendung des Angriffs objektiv erforderlich und geboten gewesen wäre. Denn in diesem Fall beurteilte sich sein Handeln nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums. Dass die Strafkammer in Bezug auf den Nebenkläger Ba. bei der (hypothetischen) Erforderlichkeitsprüfung in Betracht gezogen hat, dass sich der Angeklagte „zwei bis drei Angreifern gegenübergesehen hatte“ (UA S. 36), vermag die fehlende Prüfung in Bezug auf den Nebenkläger B. unter den hier gegebenen Umständen nicht zu ersetzen.

3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Sofern das neue Tatgericht wieder zu der Feststellung gelangt, dass sich der Angeklagte gegenüber dem Nebenkläger B. in einer Notwehrlage befand, wird es zunächst genaue Feststellungen zur objektiven Situation („Kampflage“) im Zeitpunkt der Abwehrhandlungen zu treffen haben. Dabei wird genauer als bisher zu klären sein, welche Absichten der Zeuge Bo. verfolgte, als er sich dem Geschehen annäherte, um den Nebenkläger B. zu „unterstützen“, und welche Gefahr von ihm ausging. Denn für die Beurteilung der (objektiven) Erforderlichkeit der Verteidigungshandlungen zum Nachteil des Nebenklägers B. ist es von wesentlicher Bedeutung, wieviel Angreifern der Angeklagte tatsächlich gegenüberstand und inwieweit eine Verstärkung des von B. ausgehenden Angriffs unmittelbar bevorstand (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 ? 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39 mwN; Beschluss vom 13. April 2017 ? 4 StR 35/17, NStZ-RR 2017, 271 f.).

In diesem Zusammenhang wird das neue Tatgericht auch zu beachten haben, dass sich ein Angegriffener in der Regel nicht auf Hilfeersuchen gegenüber Dritten („Türsteher“) verweisen lassen muss (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 1979 ? 1 StR 249/79, NJW 1980, 2263; Erb in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 32 Rn. 144 mwN) und eine Einschränkung der Notwehrbefugnisse unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit der Verteidigung allenfalls bei einem volltrunkenen Angreifer in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2003 ? 1 StR 403/02, NJW 2003, 1955, 1959 f.; Erb aaO Rn. 213 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 679

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 725

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner