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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1300

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 457/21, Beschluss v. 02.02.2022, HRRS 2022 Nr. 1300


BGH 4 StR 457/21 - Beschluss vom 2. Februar 2022 (LG Dortmund)

Beweiswürdigung (beschränkte Revisibilität; Aussage gegen Aussagen: Konstanzanalyse, Inkonstanz, mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben, natürliche Gedächtnisunsicherheit, körpernahe Ereignisse, Körperpositionen bei der Haupthandlung).

§ 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Inkonstanz in den Bekundungen eines Zeugen stellt einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann. Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge insbesondere Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 31. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit sie verurteilt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Von dem Vorwurf eines weiteren schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen hat es die Angeklagte aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen die Verurteilung wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf eine Verfahrensrüge sowie auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision.

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es auf die Verfahrensbeanstandung nicht mehr ankommt.

I.

1. Nach den Feststellungen fasste die unbekleidete Angeklagte in der Badewanne das Glied des zur Tatzeit zwischen fünf und acht Jahre alten Nebenklägers an. Auf ihre Aufforderung hin machte der ebenfalls unbekleidete Nebenkläger bäuchlings auf der auf dem Rücken liegenden Angeklagten Bewegungen, indem er sich auf und ab bewegte (Fall II.2. a) der Urteilsgründe). Bei einer weiteren Gelegenheit lagen die Angeklagte und der Nebenkläger in der Badewanne erneut nackt aufeinander. Dabei nahm die Angeklagte das Glied des Nebenklägers in den Mund (Fall II.2. b) der Urteilsgründe).

Bei zwei weiteren Gelegenheiten lagen der Nebenkläger und die Angeklagte im Kinderzimmer in unterschiedlichen Positionen aufeinander. Dabei vollführte der Nebenkläger auf der auf dem Rücken liegenden Angeklagten auf deren Aufforderung hin beischlafähnliche Bewegungen. Die Angeklagte vollführte derartige Bewegungen, als der Nebenkläger auf dem Rücken unter ihr lag (Fall II.2. c) der Urteilsgründe). Bei einer weiteren Gelegenheit im Kinderzimmer erfolgte dies, als beide gänzlich nackt waren. Dabei nahm die Angeklagte zeitweise das Glied des Nebenklägers in den Mund (Tat II.2. d) der Urteilsgründe).

Im Wohnzimmer kam es ebenfalls einmal zu diesen Bewegungen in bekleidetem Zustand (Tat II.2. e) der Urteilsgründe). Bei einer weiteren Gelegenheit waren beide gänzlich unbekleidet. Dabei fasste die Angeklagte das entblößte Glied des Nebenklägers mit der Hand an (Tat II.2. f) der Urteilsgründe).

2. Die Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf nicht geäußert. Die Strafkammer hat ihre Überzeugung vom Hergang der Taten auf die Angaben des Nebenklägers gestützt. Vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zum Nachteil des Bruders des Nebenklägers hat das Landgericht die Angeklagte freigesprochen. Insoweit hat es die sie belastenden Angaben des Nebenklägers für nicht ausreichend erachtet. Der Bruder des Nebenklägers hat sexuelle Übergriffe der Angeklagten auf ihn in Abrede gestellt.

II.

Das Urteil war aufzuheben, soweit die Angeklagte verurteilt worden ist. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs - sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die revisionsgerichtliche Prüfung der Beweiswürdigung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. November 1998 ? 2 StR 636/97; Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 10; Beschluss vom 18. März 2021 - 4 StR 480/20 Rn. 2). In Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten beeinflussen können (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. November 1998 - 2 StR 496/98, NStZ-RR 1999, 108; Beschluss vom 23. Mai 2000 - 1 StR 156/00, NStZ 2000, 496, 497).

2. Diesen Anforderungen wird die Würdigung der Angaben des Nebenklägers nicht gerecht.

a) Die von der Strafkammer vorgenommene Konstanzanalyse ist rechtsfehlerhaft.

aa) Die Strafkammer hat die Angaben des Nebenklägers zum Kerngeschehen als „weitgehend stringent“ bewertet. Dieser hatte in der Hauptverhandlung zunächst angegeben, die Angeklagte habe seinen Penis nur in den Mund genommen. Erst auf Nachfrage hat er dann weiter erklärt, er habe seinen Penis auch in die Scheide der Angeklagten „rein“ machen sollen. Ob ganz oder wie genau, wisse er nicht mehr. Bei seiner ersten Äußerung gegenüber einer Erzieherin hatte der Nebenkläger noch angegeben, er habe mit seinem „Schniedel in ihr Loch gehen müssen“. Auch bei der ersten polizeilichen Vernehmung hatte er ausgesagt, sein „Schniedel“ sei auch „in ihrem Loch“ gewesen.

Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, dass ein zur Tatzeit kindlicher und bei der Vernehmung pubertärer Zeuge einen direkten Kontakt zwischen der Vagina und seinem Penis zwar als besonders erwähnenswert empfinden würde. Die diesbezüglichen Angaben des Nebenklägers in der Hauptverhandlung seien aber lediglich als Anzeichen einer fehlenden überschießenden Belastungstendenz zu werten. Im Übrigen hat das Landgericht hinsichtlich der geringeren Detaildichte bei der Aussage in der Hauptverhandlung im Vergleich zu früheren Angaben lediglich auf die Vielzahl von Einzelgeschehen und den zunehmenden zeitlichen Abstand verwiesen.

bb) Diese Erwägungen weisen einen durchgreifenden Erörterungsmangel auf.

(1) Eine Inkonstanz in den Bekundungen eines Zeugen stellt einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 172). Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge insbesondere Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2012 - 4 StR 305/12).

(2) Danach hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, dass der Nebenkläger das Einführen seines Penis in die Vagina seiner Mutter in der Hauptverhandlung abweichend von seinen früheren Angaben geschildert hat. Der Hinweis auf den erheblichen Zeitablauf ist angesichts des für ein Kind ungewöhnlichen und massiven Körperkontakts und damit eines - auch im Vergleich zu den übrigen Handlungen - wenig vergessensanfälligen Kerngeschehens nicht ausreichend.

b) Auch die Bewertung der entgegenstehenden Aussage des Bruders des Nebenklägers ist nicht frei von Rechtsfehlern.

aa) Der Bruder des Nebenklägers hat dessen Angaben in der Hauptverhandlung widersprochen und sexuelle Übergriffe der Angeklagten auf ihn selbst in Abrede gestellt. Dabei gab er unter anderem an, nie auf oder unter der Angeklagten gelegen oder mit ihr gebadet zu haben. Auch habe die Angeklagte nie seinen Penis berührt. Vergleichbares habe er auch in Bezug auf den Nebenkläger nicht beobachtet. Die Strafkammer hat diese Aussage zurückgewiesen und dabei unter anderem darauf abgehoben, dass der Zeuge sich an Randgeschehnisse aus dem Zusammenleben mit dem Nebenkläger und der Angeklagten (zweitweise Fremdunterbringung des Nebenklägers etc.) nicht zu erinnern vermochte (UA 40). Demgegenüber sei „auffällig“, dass der Zeuge die von dem Nebenkläger beschriebenen Geschehnisse (Tatgeschehen) äußerst eindeutig und klar verneint habe (UA 41). Auch sei zu bedenken, dass es möglich sein könne, dass er das der Angeklagten vorgeworfene Verhalten als „normal“ empfunden habe und sich dieses für ihn gar nicht als erinnerungswürdig darstellte (UA 40 f.).

bb) Diese Erwägungen lassen außer Acht, dass es sich bei den von dem Nebenkläger geschilderten und daraufhin der Angeklagten zur Last gelegten sexuellen Übergriffen auf den Zeugen wie auch auf den Nebenkläger selbst um gravierende und wenig vergessensanfällige Geschehnisse handelte. Erinnerungsunsicherheiten in Bezug auf nicht tatbezogenen Randgeschehnisse haben insoweit nur eine beschränkte Aussagekraft. Dass die Verneinung von Übergriffen durch den Zeugen demgegenüber „äußerst eindeutig und klar“ war, zeigt für sich genommen keinen aussagekritischen Gesichtspunkt auf. Denn dies könnte auch darauf beruhen, dass eine solche Erinnerung bei dem Zeugen nicht existiert. Die weitere Erwägung der Strafkammer, der Zeuge könnte die Übergriffe als „normal“ empfunden haben, entbehrt jeder Grundlage.

cc) Durchgreifenden Bedenken begegnet ferner die Bewertung eines möglichen Falschaussagemotivs des Bruders des Nebenklägers, da das Tatgericht eine naheliegende andere Erklärung nicht in den Blick nimmt.

Das Landgericht hat ein mögliches Motiv des Bruders dafür, die Angaben des Nebenklägers durch eine kategorische Verneinung der geschilderten Umstände in Zweifel zu ziehen, darin gesehen, sich die Möglichkeit zur Rückkehr aus der Fremdunterbringung in den mütterlichen Haushalt zu erhalten. Jedoch kann der vom Zeugen mehrfach geäußerte Wunsch, zur Mutter zurückzukehren, auf unterschiedlichen Umständen beruhen und stellt sich als ambivalentes Beweisanzeichen dar. Bei dieser Sachlage hätte das Landgericht erörtern müssen, dass der Rückkehrwille des Bruders auch gegen das Vorliegen der Missbrauchstaten zu seinem Nachteil sprechen kann.

dd) Durch die rechtsfehlerhafte Bewertung der Angaben des Bruders als insgesamt nicht tragfähig hat sich das Landgericht auch den Blick darauf verstellt, dass jedenfalls die erörterungsbedürftige Möglichkeit besteht, dass der Nebenkläger hinsichtlich der Tatvorwürfe zum Nachteil seines Bruders unwahre Angaben gemacht hat.

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass auf der rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung die Verurteilung der Angeklagten beruht. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1300

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede