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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 860

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 80/19, Urteil v. 18.07.2019, HRRS 2019 Nr. 860


BGH 4 StR 80/19 - Urteil vom 18. Juli 2019 (LG Halle)

Wirksame Beschränkung der Revision auf den Strafausspruch (Maßregelanordnung) Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen eines Hanges; Feststellung einer psychischen Betäubungsmittelabhängigkeit).

§ 344 StPO; § 64 Satz 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienenden Beschaffungstaten. Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus. Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist.

2. Die Feststellung einer zu Beschaffungsdelikten führenden psychischen Betäubungsmittelabhängigkeit trägt die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 StGB, ohne dass es auf den Grad oder die Ausprägung der Abhängigkeit im Einzelnen näher ankommt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 18. September 2018 im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz verbotener tragbarer Gegenstände, einer halbautomatischen Schusswaffe, von Schusswaffen, einer vollautomatischen Schusswaffe sowie von Patronenmunition, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln, wegen ungenehmigten Erwerbs der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz einer halbautomatischen Schusswaffe, einer vollautomatischen Schusswaffe, einer Schusswaffe, eines wesentlichen Teils einer Schusswaffe, eines Schalldämpfers, verbotener tragbarer Gegenstände sowie von Patronenmunition und in Tateinheit mit Verschaffen von Falschgeld sowie wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in acht Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass zwei Jahre und neun Monate der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel zu vollstrecken sind.

Mit ihrer auf diesen Beschwerdepunkt beschränkten Revision, die auf zwei Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützt ist und vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt.

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg. Einer Erörterung der Verfahrensbeschwerden bedarf es daher nicht.

I.

1. Nach den Feststellungen mietete der Angeklagte ab Ende 2016 unter Verwendung falscher Personalien eine Vielzahl von Wohnungen an, um dort zur Befriedigung seines Eigenkonsums und zur gewinnbringenden Veräußerung Cannabis anzubauen, bereits abgeerntete Cannabispflanzen zu lagern und deren Verkauf abzuwickeln. Anfang des Jahres 2018 erwarb der Angeklagte zudem unter anderem eine Reihe von Waffen nebst Munition sowie mehrere falsche 20 und 50 Euro-Scheine in der Absicht, diese als echt in Verkehr zu bringen.

Bei polizeilichen Durchsuchungen am 27. Februar 2018 wurden in zwei Wohnungen jeweils professionell eingerichtete Cannabisplantagen vorgefunden. Während in einer Wohnung teils gelagert, teils noch nicht abgeerntet 13,8 Kilogramm Cannabis mit einem THC-Gehalt von mindestens 1.169 Gramm vorhanden waren, war in der zweiten Wohnung mit dem Anbau noch nicht begonnen worden. Die für die Pflanzung erforderlichen Cannabispflanzen, die der Angeklagte bei einem Lieferanten in Österreich bestellt hatte, waren ihm per Post von W. nach Deutschland zugeschickt worden, konnten vom Angeklagten aber infolge seiner Festnahme nicht mehr entgegengenommen werden. In einer weiteren Wohnung lagerten gut 3,4 Kilogramm Cannabis mit einem Wirkstoffanteil von 423,22 Gramm THC. Der Angeklagte verwahrte ferner in einer von ihm ebenfalls unter Aliaspersonalien angemieteten Garage insgesamt 601,29 Gramm zum Verkauf bestimmten Cannabis mit einem THC-Gehalt von 76,9 Gramm, ein Butterflymesser sowie ein doppelseitig angeschliffenes Springmesser, die beide jeweils zur Absicherung seiner Drogengeschäfte dienten, und mehrere Schusswaffen nebst Munition, darunter eine funktionsfähige Maschinenpistole. In einer weiteren angemieteten Garage fanden sich verschiedene Waffen, Waffenteile und Munition, unter anderem drei Schusswaffen, zwei Handgranaten sowie jeweils zwei weitere Handgranatenkörper und Originalzünder von Handgranaten. Des Weiteren wurde bei den Durchsuchungen an unterschiedlichen Stellen das vom Angeklagten Anfang des Jahres 2018 erworbene Falschgeld - 22 unechte 50 Euro- und neun unechte 20 Euro-Noten - aufgefunden. Schließlich befuhr der Angeklagte im Zeitraum vom 27. September 2017 bis 22. Januar 2018 in acht Fällen mit verschiedenen Kraftfahrzeugen öffentliche Straßen, obwohl er - wie er wusste - nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis war.

Der Angeklagte, der im Alter von 14 Jahren mit dem Marihuanakonsum begonnen hatte, rauchte etwa ab dem 17. Lebensjahr regelmäßig bis zu 3 Gramm Marihuana pro Tag. Ende Dezember 2015 verringerte er nach der Geburt seines Sohnes den Konsum und nahm in der Folgezeit täglich ca. 1 bis 1,5 Gramm Marihuana zu sich. Bei dieser Menge verspürte er regelmäßig einen vermehrten Suchtdruck. Nach seiner Inhaftierung litt er infolge der Abstinenz zunächst an Schlaflosigkeit und Gereiztheit.

2. Die Strafkammer ist - sachverständig beraten - auf der Grundlage der als glaubhaft erachteten Angaben des Angeklagten zu seinem Konsumverhalten von einer Cannabisabhängigkeit des Angeklagten (ICD-10: F12.2) ausgegangen und hat einen Hang zum übermäßigen Cannabiskonsum im Sinne des § 64 StGB bejaht. Weil nach Auffassung des Landgerichts auch die anderen Unterbringungsvoraussetzungen vorliegen, hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unter teilweisem Vorwegvollzug der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe angeordnet.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Maßregelanordnung nach § 64 StGB beschränkt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der Rechtsmittelangriff wegen der sich aus der Zweispurigkeit des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems ergebenden prinzipiellen Unabhängigkeit von Strafe und Maßregel innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs grundsätzlich auf die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB beschränkt werden, sofern nicht im Einzelfall eine untrennbare Wechselwirkung zum Strafausspruch besteht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92; BGHSt 38, 362). Für den Ausnahmefall eines vom Tatrichter im konkreten Fall hergestellten inneren Zusammenhangs zwischen Maßregelanordnung und anderen Entscheidungsteilen bieten die Gründe des angefochtenen Urteils indes keinen Anhalt.

III.

Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Recht die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB. Denn die Strafkammer hat die Annahme eines Hangs des Angeklagten, Cannabis im Übermaß zu konsumieren, im Rahmen der Beweiswürdigung nicht tragfähig begründet.

1. Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113; vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12, RuP 2013, 34 f.). Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienenden Beschaffungstaten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. September 2018 - 4 StR 276/18, StV 2019, 261; vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15 Rn. 5; Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO; vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12 aaO; vom 12. April 2012 - 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271). Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16 Rn. 6; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO; vom 6. September 2007 - 4 StR 318/07, NStZ-RR 2008, 8).

2. Die Strafkammer ist zwar im rechtlichen Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass die Feststellung einer zu Beschaffungsdelikten führenden psychischen Betäubungsmittelabhängigkeit die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 StGB trägt, ohne dass es auf den Grad oder die Ausprägung der Abhängigkeit im Einzelnen näher ankommt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. September 2013 - 1 StR 456/13 Rn. 7; vom 18. September 2013 - 1 StR 382/13, BGHR StGB § 64 Satz 1 Hang 1; Urteil vom 31. Oktober 2001 - 2 StR 296/01, NStZ 2002, 142; van Gemmeren in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 64 Rn. 23; Schöch in LK-StGB, 12. Aufl., § 64 Rn. 45). Die beweiswürdigenden Erwägungen des Landgerichts, die der Annahme einer Cannabisabhängigkeit des Angeklagten zugrunde liegen, halten aber unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20 f.; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 337 Rn. 26 ff. mwN) einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Sie erweisen sich als lückenhaft.

Das Landgericht hat sich den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, die auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten zu seinem Konsumverhalten eine Cannabisabhängigkeit nach ICD10: F12.2 festgestellt hat. Der gutachterlichen Bewertung liegt unter anderem die Schilderung des Angeklagten zugrunde, Cannabis regelmäßig in täglichen Mengen von ca. 1 bis 1,5 Gramm konsumiert zu haben. Diese Konsumangaben des Angeklagten hat die Strafkammer trotz der Ergebnisse der chemisch-toxikologischen Untersuchung einer dem Angeklagten abgenommenen Haarprobe als glaubhaft erachtet. Ausweislich der in der Hauptverhandlung verlesenen schriftlichen Gutachten hat die chemisch-toxikologische Untersuchung der 6,5 cm langen Haarprobe des Angeklagten für den Zeitraum von sechs bis sieben Monaten vor der Probenentnahme lediglich eine vergleichsweise niedrige THC-Konzentration von 0,02 ng/mg ergeben. Die Abbauprodukte Hydroxy-THC und THC-Carbonsäure hätten nicht nachgewiesen werden können. Durch diesen Befund werde zwar der häufige Kontakt mit Haschisch oder Marihuana, nicht aber ein aktiver Konsum von Cannabis mit der erforderlichen Sicherheit belegt. Zur rechtsmedizinischen Bewertung des Ergebnisses der chemisch-toxikologischen Untersuchung hat die hierzu gehörte Sachverständige dargelegt, dass bei einem regelmäßigen Cannabiskonsum in dem vom Angeklagten behaupteten Umfang in seinen Haaren eine höhere THC-Konzentration als tatsächlich ermittelt hätte festgestellt werden müssen.

Diese gutachterliche Einschätzung der rechtsmedizinischen Sachverständigen steht, was den Cannabiskonsum des Angeklagten in den Monaten vor der Abnahme der Haarprobe betrifft, den Konsumangaben des Angeklagten diametral entgegen und ist mit deren Bewertung als glaubhaft nicht in Einklang zu bringen. Die Strafkammer hat die Unvereinbarkeit der mitgeteilten Beweisergebnisse in ihren weiteren Ausführungen zur Beweiswürdigung nicht nachvollziehbar ausgeräumt. Soweit sie in diesem Zusammenhang Erwägungen zu dem indiziell für einen längerfristigen Drogenkonsum sprechenden persönlichen Werdegang des Angeklagten anstellt, sind diese schon denkgesetzlich nicht geeignet, den Gegensatz zwischen den widersprechenden Beweisergebnissen zum Umfang des Cannabiskonsums des Angeklagten in den Monaten vor seiner Festnahme auszuräumen.

3. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB sowie die hieran anknüpfende Entscheidung über den teilweisen Vorwegvollzug der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe haben daher keinen Bestand.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 860

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 275

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner