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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1192

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 408/16, Beschluss v. 26.10.2016, HRRS 2016 Nr. 1192


BGH 4 StR 408/16 - Beschluss vom 26. Oktober 2016 (LG Frankenthal)

Maßregelentscheidung (Begriff des Hangs); Verbot der Schlechterstellung (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt).

§ 64 StGB; § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienender Beschaffungstaten. Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus. Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist.

2. Bei der Maßregelentscheidung ist zu berücksichtigen, ob bei dem grundsätzlich therapiebereiten Angeklagten die Bereitschaft, sich auf eine Behandlung im Rahmen der Unterbringung nach § 64 StGB einzulassen, durch therapeutische Maßnahmen im Maßregelvollzug geweckt werden kann.

3. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht einer Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht entgegen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 30. Mai 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit bewaffnetem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und mit unerlaubtem Besitz einer Schusswaffe und Munition zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die nicht ausgeführte Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils hat keinen Bestand, soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB abgesehen worden ist.

1. Nach den Feststellungen erwarb der Angeklagte, der täglich 2 bis 3 Gramm Amphetamin konsumierte, 500 Gramm Amphetamin, das zum weit überwiegenden Teil zum gewinnbringenden Weiterverkauf, im Übrigen zum Eigenverbrauch bestimmt war. Ausweislich des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen, dem sich das Landgericht angeschlossen hat, ist beim Angeklagten aufgrund des jahrelangen Betäubungsmittelkonsums von einer Polytoxikomanie bezogen auf die Leitsubstanzen Cannabis und Amphetamin auszugehen. Im Rahmen der Strafzumessung hat die Strafkammer strafmildernd berücksichtigt, dass die Begehung der Tat auch auf das Bedürfnis des Angeklagten zur Erlangung finanzieller Mittel zur Finanzierung seiner eigenen Betäubungsmittelabhängigkeit zurückzuführen war und der Angeklagte nunmehr den Drogenkonsum als Ursache für seine Straffälligkeit erkannt hat.

Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat das Landgericht abgelehnt, weil ein Hang nicht sicher vorliege. Beim Angeklagten könne weder ein ausgeprägter Depravationszustand festgestellt werden, noch sei die Gesundheit des Angeklagten oder dessen körperliche oder intellektuelle Leistungsfähigkeit durch die dauerhafte Einnahme von Amphetamin und Cannabis erheblich beeinträchtigt worden. Im Übrigen fehle es an der hinreichenden Erfolgsaussicht einer Therapie, weil der Angeklagte, der einsichtig und therapiebereit sei und eine Therapie nach § 35 BtMG anstrebe, eine Maßregel nach § 64 StGB vehement ablehne, da er sich der langen räumlichen Trennung von seiner Mutter nicht gewachsen fühle.

2. Diese Ausführungen belegen, dass die Strafkammer ihrer Maßregelentscheidung einen zu engen Begriff des Hangs und damit einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hat.

Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113; vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12, RuP 2013, 34 f.). Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienender Beschaffungstaten (vgl. BGH, Beschluss vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15 Rn. 5; Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO; vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12 aaO; vom 12. April 2012 - 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271; vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198 f.). Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO; vom 6. September 2007 - 4 StR 318/07, NStZ-RR 2008, 8).

3. Den Ausführungen zur fehlenden Erfolgsaussicht der Maßregel begegnen ebenfalls durchgreifende rechtliche Bedenken. Zum einen hat es die Strafkammer versäumt, sich wie geboten mit der Frage zu befassen, ob bei dem grundsätzlich therapiebereiten Angeklagten die Bereitschaft, sich auf eine Behandlung im Rahmen der Unterbringung nach § 64 StGB einzulassen, durch therapeutische Maßnahmen im Maßregelvollzug geweckt werden kann (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 25. April 2013 - 5 StR 104/13, NStZ-RR 2013, 239, 240; vom 22. September 2010 - 2 StR 268/10, NStZ-RR 2011, 203; vom 5. Mai 2009 - 4 StR 99/09, NStZ-RR 2009, 277). Zum anderen sind die von der Strafkammer in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen zu der vom Angeklagten befürchteten räumlichen Trennung von seiner Mutter angesichts der verhängten Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten und der Regelung zur Vollstreckung der Maßregel in § 67 Abs. 1 und 2 StGB schon im Ansatz nicht nachvollziehbar.

4. Die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt, deren Voraussetzungen nach den bislang getroffenen Feststellungen nicht fernliegen, bedarf daher einer neuen tatrichterlichen Prüfung und Entscheidung. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht einer Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1192

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner