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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1174

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 183/15, Urteil v. 05.11.2015, HRRS 2015 Nr. 1174


BGH 4 StR 183/15 - Urteil vom 5. November 2015 (LG Paderborn)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit: Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung; Umgang mit widersprüchlichen Beweismitteln: Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die tatrichterliche Beweiswürdigung kann ihrer Natur nach nicht erschöpfend in dem Sinne sein, dass alle irgendwie denkbaren Gesichtspunkte und Würdigungsvarianten in den Urteilsgründen ausdrücklich abgehandelt werden. Dies ist von Rechts wegen auch nicht zu verlangen. Aus einzelnen Lücken kann daher nicht ohne Weiteres abgeleitet werden, der Tatrichter habe nach den sonstigen Urteilsfeststellungen auf der Hand liegende Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 50). Lückenhaft ist eine Beweiswürdigung vielmehr namentlich dann, wenn sie wesentliche Feststellungen nicht erörtert.

2. Bei der Prüfung, ob eine solche Lücke vorliegt, ist es jedoch nicht Sache des Revisionsgerichts, Mutmaßungen darüber anzustellen, ob weitere Beweismittel zur Aufklärung der Tatvorwürfe zur Verfügung gestanden hätten oder weitere Beweise erhoben und im Urteil lediglich nicht gewürdigt worden sind. Vielmehr ist es Sache der Staatsanwaltschaft, entweder durch Erhebung einer Aufklärungsrüge geltend zu machen, dass das Landgericht weitere mögliche Beweise zur Erforschung des Sachverhalts unter Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO nicht erhoben hat, oder zu beanstanden, dass es hierzu erhobene Beweise nicht in seine Würdigung einbezogen und daher zu seiner Überzeugungsbildung den Inbegriff der Hauptverhandlung nicht ausgeschöpft hat (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 88 f.).

3. Bei einem Widerspruch zwischen mehreren Erkenntnisquellen hat das Gericht ohne Rücksicht auf deren Art und Zahl darüber zu befinden, in welchen von ihnen die Wahrheit ihren Ausdruck gefunden hat. Stehen sich Bekundungen eines - insbesondere einzigen - Zeugen und des Angeklagten unvereinbar gegenüber, darf das Gericht allerdings den Bekundungen dieses Zeugen nicht etwa deshalb, weil er (gegebenenfalls) Geschädigter ist, ein schon im Ansatz ausschlaggebend höheres Gewicht beimessen als den Angaben des Angeklagten. Maßgebend ist der innere Wert einer Aussage, also deren Glaubhaftigkeit (vgl. BGH NStZ 2004, 635 f.).

4. Bei deren Prüfung darf und muss der Tatrichter gegebenenfalls aber auch berücksichtigen, ob der Zeuge schon andere zu Unrecht der Begehung von Straftaten bezichtigt hat vgl. BGH NStZ 2002, 495). Zwar ist in solchen Fällen eine sorgfältige Beweiswürdigung geboten; der Tatrichter ist aber aus Rechtsgründen nicht gehindert, auch aufgrund solcher Umstände in Teilen der Aussage des Belastungszeugen zu glauben, obwohl er ihr in anderen Teilen nicht.

Entscheidungstenor

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 9. Dezember 2014 wird verworfen.

2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten liegt zur Last, am 4. Februar 2013 in P. B. vergewaltigt zu haben.

2. Die Strafkammer hat hierzu im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

B. feierte am Abend des 3. Februar 2013 mit Kameraden der britischen Armee im Unteroffiziersheim der N. -Kaserne und später in einer Diskothek in P. Dort lernte sie den Angeklagten kennen. Gegen 4.30 Uhr suchte sie mit ihm die Damentoilette auf, wo sie sich „küssten und streichelten“, bis sie von einer Angestellten der Diskothek aus der Toilette verwiesen wurden. Vor 5 Uhr verließen beide die Diskothek. Etwa um 6.45 Uhr erfolgte auf einem ca. 2,9 km von der Diskothek entfernten Weg „ein sexueller Angriff“ auf die Zeugin B. .

3. Das Landgericht vermochte sich von der Täterschaft des die Tatbegehung bestreitenden Angeklagten nicht zu überzeugen. Zwar folgte es den Angaben von B. zum Tatgeschehen, zumal ein auf dem Weg zur Schule befindlicher Zeuge gesehen hat, wie ein Mann vor einer unbekleideten Frau stand und weglief, als er ihn bemerkte, ihn anschließend die weinende Zeugin B. um Hilfe bat und kurze Zeit später eingetroffene Polizeibeamte die nur mit Jeans und einem BH bekleidete B. auffanden, an deren gesamten Körper Blutergüsse festgestellt wurden. Auch stellt die Strafkammer die „Wahrnehmungs- und Speicherfähigkeit“ der Zeugin trotz deren Alkoholisierung nicht in Frage und vermag bei ihr ein Falschbelastungsmotiv nicht zu erkennen. Hinsichtlich der Belastung des Angeklagten als Täter hält sie die Zeugin indes für „persönlich unglaubwürdig“. Dafür sei entscheidend, dass sie „in der Vergangenheit bereits dreimal andere Personen wegen, zum Teil erheblicher Straftaten falsch bezichtigt“ habe. Zudem habe die Zeugin in der Hauptverhandlung „mindestens zweimal objektiv falsche Tatsachen“ geschildert, zum einen zu einem Streit mit ihren Kameraden in der Diskothek, zum anderen zu ihrem Alkoholkonsum seit Februar 2013. Es bestünden daher „ernstliche Zweifel an der Täterschaft gerade des Angeklagten“.

4. Gegen die Würdigung der Beweise wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrem auf die Sachrüge gestützten Rechtsmittel.

II.

Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision hat keinen Erfolg.

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Seine Schlussfolgerungen müssen nur möglich sein (BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2008 - 2 BvR 2067/07, Rn. 43); das Revisionsgericht hat die tatrichterliche Überzeugungsbildung sogar dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise näherliegend gewesen wäre (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13 mwN).

2. Daran gemessen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden. Sie beruht auf einer ausreichenden Gesamtschau der maßgeblichen objektiven und subjektiven Tatumstände.

a) Die Beweiswürdigung ist insbesondere nicht lückenhaft.

aa) Die tatrichterliche Beweiswürdigung kann ihrer Natur nach nicht erschöpfend in dem Sinne sein, dass alle irgendwie denkbaren Gesichtspunkte und Würdigungsvarianten in den Urteilsgründen ausdrücklich abgehandelt werden. Dies ist von Rechts wegen auch nicht zu verlangen. Aus einzelnen Lücken kann daher nicht ohne Weiteres abgeleitet werden, der Tatrichter habe nach den sonstigen Urteilsfeststellungen auf der Hand liegende Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht (BGH, Urteile vom 28. Oktober 2010 - 4 StR 285/10, NStZ-RR 2011, 50; vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13). Lückenhaft ist eine Beweiswürdigung vielmehr namentlich dann, wenn sie wesentliche Feststellungen nicht erörtert. Bei der Prüfung, ob eine solche Lücke vorliegt, ist es jedoch nicht Sache des Revisionsgerichts, Mutmaßungen darüber anzustellen, ob weitere Beweismittel zur Aufklärung der Tatvorwürfe zur Verfügung gestanden hätten oder weitere Beweise erhoben und im Urteil lediglich nicht gewürdigt worden sind. Schon gar nicht kann das Revisionsgericht aufgrund derartiger Mutmaßungen das Urteil auf die Sachrüge hin aufheben. Vielmehr ist es in solchen Fällen Sache der Staatsanwaltschaft, entweder durch Erhebung einer Aufklärungsrüge geltend zu machen, dass das Landgericht weitere mögliche Beweise zur Erforschung des Sachverhalts unter Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO nicht erhoben hat, oder zu beanstanden, dass es hierzu erhobene Beweise nicht in seine Würdigung einbezogen und daher zu seiner Überzeugungsbildung den Inbegriff der Hauptverhandlung nicht ausgeschöpft hat (BGH, Urteile vom 28. Oktober 2010 - 3 StR 317/10, NStZ-RR 2011, 88 f.; vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13).

bb) Auf dieser Grundlage haben die Beanstandungen der Revisionsführerin zur Lückenhaftigkeit der tatrichterlichen Beweiswürdigung keinen Erfolg.

Sie erschöpfen sich zum einen in Hinweisen auf nicht oder unzureichend getroffene Feststellungen etwa zu dem von der Zeugin B. behaupteten Einbruch der Zeugin Bo. sowie zu den Beschuldigungen der Zeugin B. gegen die Zeugin C. und den Zeugen H. Weder hierzu noch zu der Beanstandung, dass (nähere) Feststellungen zu dem Geschehen auf der Toilette und zu der Frage fehlen, ob und gegebenenfalls wie dabei DNA - deren Mitverursachung durch den Angeklagten indes lediglich nicht auszuschließen war - an die Bekleidungsstücke der Zeugin B. (u.a. BH, Slip) gelangt sein könnte, hat die Staatsanwaltschaft keine Verfahrensrügen erhoben. Soweit sie zum anderen geltend macht, einzelne Feststellungen der Strafkammer seien nicht von den erhobenen Beweisen getragen, sind diese Beanstandungen aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 30. Juni 2015 dargelegten Gründen erfolglos.

b) Die Beweiswürdigung in dem landgerichtlichen Urteil enthält auch keine einen Rechtsfehler darstellende Widersprüche.

Ein solcher die Sachrüge begründender Widerspruch kann nicht allein darin liegen, dass einzelne Beweismittel miteinander Unvereinbares ergeben haben. Ebenso wenig kann ein Widerspruch darin gesehen werden, dass das Gericht einer Zeugenaussage folgt, aber hieraus nicht die von der Staatsanwaltschaft gezogene Schlussfolgerung ziehen will (vgl. BGH, Urteile vom 16. Mai 2013 - 3 StR 45/13, StraFo 2013, 339; vom 4. April 2013 - 3 StR 37/13, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 64; vom 20. September 2012 - 3 StR 158/12, NStZ-RR 2013, 89; vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13).

Vor dem Hintergrund, dass mehrere Zeugen den „Beziehungskonflikt“ zwischen der Zeugin B. und dem Zeugen A. geschildert haben, stellt es daher keinen die Beweiswürdigung aus Rechtsgründen in Frage stellenden Widerspruch dar, dass die Zeugin B. auf die Zeugin H. eifersüchtig war, obwohl unter den britischen Soldaten bekannt war, dass die Zeugin H. lesbisch sei.

c) Schließlich hat das Landgericht weder die gebotene Gesamtwürdigung der für und gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände unterlassen oder rechtsfehlerhaft vorgenommen, noch hat es überspannte Anforderungen an die entsprechende Überzeugungsbildung gestellt.

Eine Gesamtwürdigung hat die Strafkammer vielmehr ausdrücklich vorgenommen. Sie hat aber auch angesichts der von ihr nicht verkannten, den Angeklagten belastenden Umstände weder naheliegende andere Deutungsmöglichkeiten außer Acht gelassen, noch bloße Schlussfolgerungen zur Begründung von Zweifeln an der Täterschaft des Angeklagten angeführt, für die es nach der Beweisaufnahme entweder keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt oder die als eher fernliegend zu betrachten sind. Vielmehr hat sie ihre Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten auf insofern bestehende Zweifel an der Richtigkeit der Aussage der Zeugin B. gestützt.

Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Denn bei einem Widerspruch zwischen mehreren Erkenntnisquellen hat das Gericht ohne Rücksicht auf deren Art und Zahl darüber zu befinden, in welchen von ihnen die Wahrheit ihren Ausdruck gefunden hat. Stehen sich Bekundungen eines - insbesondere einzigen - Zeugen und des Angeklagten unvereinbar gegenüber, darf das Gericht allerdings den Bekundungen dieses Zeugen nicht etwa deshalb, weil er (gegebenenfalls) Geschädigter ist, ein schon im Ansatz ausschlaggebend höheres Gewicht beimessen als den Angaben des Angeklagten. Maßgebend ist der innere Wert einer Aussage, also deren Glaubhaftigkeit (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 379/03, NStZ 2004, 635 f.). Bei deren Prüfung darf und muss der Tatrichter gegebenenfalls aber auch berücksichtigen, ob der Zeuge schon andere zu Unrecht der Begehung von Straftaten bezichtigt hat (vgl. § 68a Abs. 2 Satz 2 StPO; BGH, Beschluss vom 12. März 2002 - 1 StR 557/01, NStZ 2002, 495). Zwar ist in solchen Fällen eine sorgfältige Beweiswürdigung geboten; der Tatrichter ist aber aus Rechtsgründen nicht gehindert, auch aufgrund solcher Umstände in Teilen der Aussage des Belastungszeugen zu glauben, obwohl er ihr in anderen Teilen nicht folgt (allgemein hierzu: BGH, Beschlüsse vom 3. September 2013 - 1 StR 206/13; vom 25. Oktober 2010 - 1 StR 369/10; vom 29. Juli 2003 - 4 StR 253/03 jeweils mwN). Dass bei der Strafkammer auf dieser Grundlage Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten verblieben sind, obwohl sie von einer Vergewaltigung der Zeugin überzeugt ist, weist keinen Rechtsfehler auf. Die Erwägung, „dass die Zeugin auf der Suche nach ihren Kameraden allein durch P. geirrt ist und dann von einem unbekannten Täter attackiert wurde“, ergänzt lediglich die Ausführungen zu den bereits für sich zu dem Freispruch des Angeklagten führenden Zweifeln der Strafkammer an der Richtigkeit der Aussage der Zeugin B. zu dessen Täterschaft. Anders als die Staatsanwaltschaft meint, stützt das Tatgericht damit den Freispruch des Angeklagten nicht nur auf eine denktheoretische Möglichkeit, sondern auf das Ergebnis ihrer Glaubhaftigkeitsprüfung, zumal die Tatbegehung durch einen Dritten nicht lediglich denkbar, sondern aufgrund der nicht auf den Angeklagten zutreffenden Täterbeschreibung des Schülers (Regenjacke, schwarze Kapuze) durch tatsächliche Anhaltspunkte gestützt ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1174

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2016, 54

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede