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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 925

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 206/13, Beschluss v. 03.09.2013, HRRS 2013 Nr. 925


BGH 1 StR 206/13 - Beschluss vom 3. September 2013 (LG Regensburg)

Beweiswürdigung (teilweise Verwertung von Zeugenaussagen; Belastungszeugen; in dubio pro reo; Widersprüche).

§ 261 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.).

2. Glaubt das Gericht in Teilen der Aussage des Belastungszeugen, obwohl es ihr in anderen Teilen nicht folgt, bedarf dies regelmäßig einer besonderen Begründung (vgl. BGHSt 44, 153).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 11. Dezember 2012 mit den Feststellungen aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO).

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Regensburg zurückverwiesen.

Gründe

Die Strafkammer hat den Angeklagten wegen 20 tatmehrheitlicher Fälle der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung zweier Geldstrafen aus früheren Urteilen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt.

Die auf die Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrüge nicht mehr bedarf.

I.

1. Nach den Feststellungen der Strafkammer fuhr der Angeklagte, ohne im Besitz einer entsprechenden Erlaubnis zu sein, bei jeweils zehn Gelegenheiten im Oktober und November 2010 mit dem PKW von Cham nach Tschechien und erwarb dort jeweils mindestens zehn Gramm Metamphetamin, die er nach Deutschland einführte. Das Metamphetamin war, wie der Angeklagte wusste, jeweils von zumindest durchschnittlicher Qualität im oberen Bereich mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 50 % Metamphetaminbase.

In einem Fall brachte der Angeklagte im November 2010 zusätzlich mindestens zehn Gramm Heroin nach Deutschland mit. Das Heroin war, womit der Angeklagte auch rechnete, von zumindest durchschnittlicher Qualität mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10 % Heroinhydrochlorid.

2. Die Strafkammer stützt ihre Feststellungen zum Tatgeschehen maßgeblich auf die Angaben des Zeugen I. .

a) Der Zeuge I. ist im Verlauf des Verfahrens insgesamt dreimal vernommen worden.

In der ersten, polizeilichen Vernehmung hat er angegeben, der Angeklagte habe nach seinem Einzug in die auch von ihm - I. - bewohnte Wohnung in Cham im Zeitraum von November 2010 bis Februar 2011 alle zwei Tage Beschaffungsfahrten nach Tschechien unternommen. Pro Fahrt habe der Angeklagte jeweils - wie die Kammer aus den Angaben des seinerzeitigen Vernehmungsbeamten referiert - "20 bis 30 Gramm" bzw. - wie es im späteren Urteilsverlauf heißt - "10 bis 20 Gramm" Metamphetamin nach Deutschland verbracht. Die Gesamtmenge habe ca. ein Kilogramm betragen.

In der Hauptverhandlung hat der Zeuge I. den Beginn der Beschaffungsfahrten durch den Angeklagten bereits auf Oktober 2010 datiert. In den ersten zwei bis drei Wochen habe der Angeklagte täglich, danach alle zwei Tage Rauschgift aus Tschechien geholt. Die eingeführten Einzelmengen hätten jeweils zwei bis zehn Gramm Metamphetamin betragen, die Menge habe variiert. Er selbst habe das Rauschgift "in 85 % der Fälle" gesehen. Insgesamt habe der Angeklagte ca. ein Kilogramm Metamphetamin eingeführt; allerdings umfasse diese Gesamtmenge auch Einfuhren nach dem 1. März 2011.

Im Verlauf der Hauptverhandlung erneut einvernommen, hat der Zeuge schließlich angegeben, er habe das eingeführte Rauschgift nur "manchmal" gesehen. Er habe den Angeklagten dreimal beim Wiegen beobachtet; das Ergebnis sei nie im dreistelligen Bereich gewesen. Einmal habe er 23 Gramm von der Waage abgelesen. Der Angeklagte habe im Oktober 2010 "sicher 10 Fahrten" und im November "sicher mindestens ebenso viele Fahrten wie im Oktober" durchgeführt. Die monatlich eingeführte Menge hat der Zeuge mit einem "halben Päckchen Meersalz" umschrieben und sie visualisiert, indem er mit den Händen eine gehäufte Menge geformt hat. Jedenfalls habe die Gesamtmenge ein Kilogramm betragen, jedoch resultiere diese Menge aus Beschaffungsfahrten bis Juli 2011.

b) Die Strafkammer hat die Angaben des Zeugen als überwiegend glaubhaft erachtet und hierzu im Wesentlichen wie folgt ausgeführt:

Widersprüchliche Angaben des Zeugen in den einzelnen Vernehmungen, vor allem zur Häufigkeit der Fahrten und zur Menge des eingeführten Rauschgifts, seien nicht gravierend.

Die Begehung der festgestellten Taten - wegen der übrigen der ursprünglich angeklagten sechzig Taten zwischen November 2010 und Februar 2011 ist eine Verfahrensbeschränkung erfolgt und durch die Erhebung einer Nachtragsanklage sind zehn Taten im Monat Oktober 2010 zum Verfahrensgegenstand gemacht worden - sei dem Angeklagten ungeachtet seiner damaligen, durch die Angaben der Arbeitgeber und einen Dienstplan belegten Berufstätigkeit in Baiersbronn möglich gewesen.

Zur Mengenberechnung: Das von I. während der Hauptverhandlung visualisierte Volumen eines "halben Päckchens Meersalz" entspreche einer monatlichen Einfuhrmenge von ca. 200 Gramm, bei einem Sicherheitsabschlag von 50 % ca. 100 Gramm. Auch die angegebene Gesamtmenge von einem Kilogramm, die sich nach seiner - während der Hauptverhandlung korrigierten - Aussage auf die Monate Oktober 2010 bis längstens Juli 2011 beziehe, spreche für eine monatliche Einfuhrmenge von 100 Gramm. Durch deren "möglichst gleichmäßige" Verteilung auf zehn Fahrten je Monat ergäben sich Einzelmengen von jeweils zehn Gramm. Diese Verteilung stelle die für den Angeklagten "günstigste Variante" dar.

Die von I. in der Hauptverhandlung zunächst angegebenen geringeren Einzelmengen von zwei bis zehn Gramm pro Fahrt schlössen höhere Mengen nicht aus, weil der Zeuge auch von "variierenden" Mengen gesprochen habe. Auch sei es unwirtschaftlich und mit einem unverhältnismäßig hohen Risiko behaftet, zum Erwerb von "Kleinstmengen deutlich unterhalb von 10 Gramm" nach Tschechien zu fahren. Gegen die Annahme besonders hoher oder besonders geringer Einfuhrmengen spreche auch, dass der Zeuge I. keinen dreistelligen Wert auf der Feinwaage beobachtet habe; für eine Mindestmenge von zehn Gramm spreche indes der einmalig abgelesene Einzelwert von 23 Gramm. "Zu Gunsten des Angeklagten" sei daher jeweils von zehn Gramm auszugehen.

Nicht tragfähig, weil sachverständig widerlegt, seien die Angaben des Zeugen zum Umfang des Eigenkonsums des Angeklagten. Mit dem planvollen Vorgehen des Angeklagten sei der von dem Zeugen geschilderte massive Konsum nicht vereinbar. Ebenfalls nicht glaubhaft seien die Angaben des Zeugen zu angeblichen Hintermännern des Angeklagten und dessen Weiterveräußerungsgeschäften.

II.

Die Beweiswürdigung weist durchgreifende Rechtsfehler auf.

Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - 1 StR 400/11; vom 14. Dezember 2011 - 1 StR 501/11, NStZ-RR 2012, 148 mwN).

An diesen Grundsätzen gemessen, hält die Beweiswürdigung der Strafkammer sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie ist insgesamt lückenhaft (nachfolgend 1. a), hinsichtlich der Feststellungen zur Häufigkeit der Beschaffungsfahrten (nachfolgend 1. b) und zu den Einfuhrmengen (nachfolgend 2.) lückenhaft und nicht nachvollziehbar.

1. Da die Beschuldigung des Angeklagten im Kern allein auf der Aussage des Zeugen I. aufbaute, bedurfte diese einer besonders sorgfältigen Prüfung, und mussten die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Strafkammer alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen konnten, erkannt und in ihre Überlegungen einbezogen hatte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. April 1997 - 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; vom 22. April 1987 - 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1). Glaubt das Gericht in Teilen der Aussage des Belastungszeugen, obwohl es ihr in anderen Teilen nicht folgt, bedarf dies regelmäßig einer besonderen Begründung (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 3 StR 96/03, NStZ-RR 2003, 332; Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153). Daran gemessen, bleibt die Beweiswürdigung insgesamt lückenhaft.

a) Die Strafkammer hat zum einen nicht dargelegt, weshalb sie dem Zeugen hinsichtlich des von ihm bezeugten Kernvorwurfs Glauben geschenkt hat, obwohl andere Inhalte seiner Aussage - namentlich zum Eigenkonsum des Angeklagten - objektiv widerlegt waren, und sie die Angaben zu den Hintermännern des Angeklagten und deren Weiterveräußerungsgeschäften ebenfalls nicht glaubhaft fand.

b) Vor allem aber hat sie nicht in den Blick genommen, dass die Angaben des Zeugen I. zur Häufigkeit der Beschaffungsfahrten mit den übrigen Feststellungen nicht zu vereinbaren sind.

Der von der Strafkammer festgestellte Dienstplan des Angeklagten weist für Oktober 2010 zwölf und für November 2010 elf arbeitsfreie Tage aus. Unter ihrer Prämisse, Beschaffungsfahrten seien nur an dienstfreien Tagen möglich gewesen, sind die festgestellten Abwesenheitszeiten des Angeklagten weder mit der Behauptung des Zeugen I., der Angeklagte habe beginnend bereits im Oktober 2010 über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen tägliche und anschließend jeden zweiten Tag Beschaffungsfahrten von Cham nach Tschechien durchgeführt, noch mit seiner Angabe, der Angeklagte habe beginnend im November 2010 alle zwei Tage Einfuhrfahrten unternommen, zu vereinbaren.

Danach hat der Zeuge I. den Angeklagten auf der Grundlage der Feststellungen überschießend belastet, bevor er in der zweiten Vernehmung in der Hauptverhandlung nur noch zehn Fahrten pro Monat behauptet hat. Mit diesem Umstand hätte sich die Strafkammer auseinandersetzen müssen. Dieser Erörterungspflicht genügt sie durch die Wertung, die Angaben des Zeugen I. würden "allenfalls geringfügige Restunstimmigkeiten" aufweisen, die nicht geeignet seien, die "Richtigkeit der übrigen Angaben in Frage zu stellen", nicht. Dies lässt vielmehr besorgen, dass sie die Unvereinbarkeit der früheren belastenden Angaben des Zeugen I. mit den Feststellungen nicht in den Blick genommen und eine sich daraus möglicherweise ergebende Belastungstendenz nicht in Erwägung gezogen hat.

Auch im Übrigen bleiben die Widersprüche in den Angaben des Zeugen I. unerörtert. So soll der Angeklagte einerseits im Oktober über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen zunächst täglich, anschließend alle zwei Tage nach Tschechien gefahren sein, andererseits soll er im November bei einem allenfalls zweitägigen Fahrtrhythmus "sicher mindestens ebenso viele" Fahrten wie im Oktober durchgeführt haben.

2. Schließlich weist auch die Beweiswürdigung zu den Einfuhrmengen durchgreifende Rechtsfehler auf.

a) Zunächst fehlt es an der erforderlichen Auseinandersetzung mit den Unterschieden in den Angaben des Zeugen zu Einfuhrmengen, dazu, in wie viel Fällen er die eingeführten Mengen gesehen hat und zum Zeitraum, indem die Gesamtmenge beschafft worden sein soll. Soweit die Strafkammer "quantitative Abweichungen" damit erklärt, dass bei der zweiten Vernehmung in der Hauptverhandlung vom Zeugen verlässlichere und detailliertere Angaben gefordert worden seien als bei den anderen Vernehmungen, genügt dies der Erörterungspflicht nicht. Denn inwieweit die Angabe, er habe die eingeführte Menge "manchmal" gesehen, detaillierter sein soll als die Angabe, er habe die eingeführte Menge in 85 % der Fälle gesehen, erschließt sich nicht und wird von der Strafkammer auch nicht erhellt. Gleiches gilt für die unterschiedlichen Mengen- und Zeitraumangaben.

b) Zudem ist nicht nachvollziehbar, dass die Strafkammer aus der Bekundung des Zeugen I., er habe bei keinem der von ihm beobachteten Wiegevorgänge ein dreistelliges Ergebnis wahrgenommen, ableitet, der Angeklagte habe nicht nur keine besonders hohen, sondern auch keine besonders niedrigen Mengen eingeführt. Zwar hält es die Strafkammer für "durchaus denkbar, dass der Angeklagte theoretisch eine Fahrt mit einer Menge von 91 Gramm Crystal Speed [...] und neun weitere monatliche Fahrten mit je lediglich einem Gramm Crystal Speed" durchgeführt hat. Die Möglichkeit eines geringeren Gefälles zwischen den jeweiligen Einfuhrmengen erörtert sie jedoch nicht. Diese Möglichkeit lag aber (mit der Folge der Erörterungsbedürftigkeit, vgl. BGH, Urteil vom 30. September 2009 - 2 StR 300/09, wistra 2010, 70 mwN) schon deshalb nahe, weil sich der Zeuge I. an mindestens ein Wiegeergebnis von 23 Gramm erinnerte, und weil die Strafkammer bei der Würdigung seiner Angaben selbst davon ausgegangen ist, dass die vom Angeklagten eingeführten Mengen variierten.

c) Schließlich lassen die Ausführungen zur Feststellung der jeweils eingeführten Mengen eine fehlerhafte Anwendung des Zweifelsgrundsatzes besorgen. Denn die Annahme, eine möglichst gleichmäßige Verteilung der monatlichen Einfuhrmenge auf zehn Fahrten stelle die für den Angeklagten günstigste Variante dar, ist schon im Ansatz fehlerhaft.

Durch die Zugrundelegung gleichmäßiger Einzelmengen von zehn Gramm und einer - für sich genommen rechtsfehlerfrei festgestellten - Wirkstoffmenge von 50 % Metamphetaminbase erreichten alle Taten exakt den Grenzwert zur nicht geringen Menge (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2008 - 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89), wodurch sie als Verbrechen i. S. v. § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG zu bewerten waren. Demgegenüber hätte die naheliegende Möglichkeit eines - wenn auch nur geringfügigen - Unterschreitens des Grenzwerts bezüglich mehrerer Einzeltaten eine für den Angeklagten wesentlich günstigere Verurteilung wegen Vergehen nach § 29 Abs. 1 BtMG nach sich gezogen.

III.

Die bezeichneten Mängel führen zur Aufhebung des Urteils insgesamt; auf die Strafzumessung kam es nicht mehr an. Insoweit sieht der Senat jedoch Anlass zu dem Hinweis, dass eine straferschwerende Würdigung besonderer krimineller Energie, die ihren Ausdruck darin findet, dass der Täter "das Risiko auf sich genommen hat, durch die Einfuhr der beschafften Betäubungsmittel in das Bundesgebiet sich eines erhöhten Risikos der Aufdeckung seiner Taten anlässlich des Grenzübertritts auszusetzen", gegen das Doppelverwertungsverbot verstößt (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juli 1984 - 3 StR 183/84).

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 925

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel