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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1120

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 255/21, Beschluss v. 07.09.2021, HRRS 2021 Nr. 1120


BGH 1 StR 255/21 - Beschluss vom 7. September 2021 (LG München I)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Berücksichtigung verfahrensfremder Taten).

§ 63 Satz 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nicht verfahrensgegenständliche Taten dürfen bei der Gefährlichkeitsprognose nach § 63 Satz 1 StGB nur dann berücksichtigt werden, wenn sie ihrerseits in einem Zusammenhang mit der Erkrankung des Täters stehen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 18. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf der Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte leidet - primär - unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Daneben bestehen ein Abhängigkeitssyndrom von Cannabis oder synthetischen Cannabinoiden sowie ein schädlicher Gebrauch von verschiedenen Substanzen und eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Dabei kann der Konsum von Cannabis oder synthetischen Cannabinoiden beim Angeklagten nicht ausschließbar zu einer Exazerbation der Symptomatik der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie führen.

Am 2. April 2020 gegen 9.30 Uhr hielt sich der Angeklagte in der Fußgängerzone in M. auf. Er schälte bei einem Mülleimer eine Orange und sprach auf Arabisch laut vor sich hin. Der uniformierte Polizeibeamte K., der als Kontaktbeamter unterwegs war, sprach den Angeklagten an, ob alles in Ordnung sei. Der Angeklagte reagierte aggressiv, gestikulierte und schrie, was der Zeuge wolle. Dann ging er wortlos auf den Zeugen K. zu. Dieser forderte den Angeklagten auf, stehen zu bleiben, und versuchte, ihn mit ausgestreckten Armen von sich fernzuhalten. Dies gelang nicht; vielmehr ging der Angeklagte mit Fäusten und Fußtritten auf den Zeugen los und traf ihn mit den Fäusten mehrfach am Oberkörper. Schließlich packte er den Zeugen an der Uniformjacke, so dass beide zu Boden gingen. Erst mit Hilfe eines unbeteiligten Passanten gelang es, den Angeklagten zu überwältigen und auf dem Boden zu fixieren. Der Zeuge K. erlitt eine Prellung und eine blutende Verletzung am linken Knie, Schürfwunden an der linken Hand sowie eine Verstauchung des rechten Sprunggelenks.

Der Angeklagte handelte zur Tatzeit aufgrund eines akut paranoid-halluzinatorischen Syndroms mit starker affektiver Beteiligung im Rahmen der bestehenden paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie; seine Steuerungsfähigkeit war infolgedessen aufgehoben. Er ist seit dem 25. Januar 2021 einstweilig untergebracht.

II.

1. Der Maßregelausspruch hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Daneben muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 2. September 2020 - 1 StR 273/20 Rn. 11; vom 6. August 2020 - 1 StR 93/20 Rn. 10 und vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14 Rn. 14; je mwN).

b) Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil zur Gefährlichkeitsprognose nicht.

aa) Bei der Gefährlichkeitsprognose gemäß § 63 Satz 1 StGB hat das Landgericht insbesondere berücksichtigt, dass der Angeklagte bereits mehrfach vorbestraft ist - darunter auch einschlägig mit Aggressionsdelikten - und auf die Eintragungen im Bundeszentralregister unter Nummern 1. und 2. verwiesen. Bei den Feststellungen zur Person hat das Landgericht insoweit ausgeführt, dass der Angeklagte durch das Amtsgericht München am 6. Februar 2017 wegen Bedrohung und Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen und am 14. September 2017 wegen Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit drei tateinheitlichen Fällen der versuchten Nötigung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung verurteilt wurde.

Nicht verfahrensgegenständliche Taten dürfen bei der Gefährlichkeitsprognose jedoch nur dann berücksichtigt werden, wenn sie ihrerseits in einem Zusammenhang mit der Erkrankung des Täters stehen (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 9. März 2021 - 1 StR 15/21 Rn. 7; vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20 Rn. 20 und vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 371/20 Rn. 18; je mwN). Zu diesem symptomatischen Zusammenhang hat das Landgericht keine Feststellungen getroffen. Überdies fehlt es an einer Darstellung der den Verurteilungen durch das Amtsgericht München zugrunde liegenden Sachverhalten. Vor diesem Hintergrund ist die Einbeziehung der Vortaten in die Prognose rechtsfehlerhaft.

bb) Rechtlichen Bedenken begegnet zudem die Bewertung des Gewichts der Anlasstat im Rahmen der Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten. Das Landgericht geht davon aus, der Angeklagte sei für die Allgemeinheit gefährlich, da sich die verfahrensgegenständliche Tat - und auch die zukünftig zu erwartenden Taten - gegen eine aus der Sicht des Angeklagten beliebige Person gerichtet habe, die dem Angeklagten zufällig in der Fußgängerzone begegnet sei.

Diese Erwägung schöpft den festgestellten Sachverhalt allerdings nur unzureichend aus. So bleibt außer Betracht, dass es sich bei der Ansprache durch einen uniformierten Polizeibeamten um eine Ausnahmesituation, nicht jedoch um ein alltägliches Geschehen handelte (vgl. auch BGH, Beschluss vom 6. August 2020 - 1 StR 93/20 Rn. 14). Ebenso wird nicht erörtert, dass der Angeklagte nur rudimentär die deutsche Sprache versteht (UA S. 26, 30 und 33), was möglicherweise dazu geführt haben könnte, dass er die Situation insgesamt missdeutete.

2. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann daher nicht bestehen bleiben. Auch der Freispruch unterliegt der Aufhebung (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Februar 2021 - 4 StR 429/20 Rn. 15 und vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20 Rn. 22; je mwN). Die Sache bedarf somit neuer Verhandlung und Entscheidung, naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen.

3. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Dabei wird das neue Tatgericht auch die bisherige Entwicklung des Angeklagten in der einstweiligen Unterbringung näher in den Blick zu nehmen und darzustellen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1120

Externe Fundstellen: StV 2022, 295

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede