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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 201

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 375/19, Beschluss v. 20.11.2019, HRRS 2020 Nr. 201


BGH 1 StR 375/19 - Beschluss vom 20. November 2019 (LG Mannheim)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen)

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 8. März 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts Heidelberg verwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und davon einen Monat wegen überlanger Verfahrensdauer für vollstreckt erklärt. Zudem hatte es den Angeklagten verurteilt, ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € nebst Zinsen an die Nebenklägerin zu zahlen. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat dieses Urteil - mit Ausnahme der Adhäsionsentscheidung - wegen Mängeln in der Beweiswürdigung bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation (Beschluss vom 20. Dezember 2017 - 1 StR 408/17) aufgehoben.

Im zweiten Rechtsgang hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, davon einen Monat wegen überlanger Verfahrensdauer für vollstreckt erklärt und die Adhäsionsentscheidung aus dem Urteil im ersten Rechtsgang aufrechterhalten.

Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten gegen das nunmehr ergangene Urteil hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts nahm der Angeklagte an nicht mehr feststellbaren Zeitpunkten von Oktober 2009 bis Juni 2014 sexuelle Handlungen an der am 8. Juli 2001 geborenen Tochter seiner Lebensgefährtin T. vor oder ließ von dieser sexuelle Handlungen an sich vornehmen. Das Landgericht hat den die Tatvorwürfe bestreitenden Angeklagten aufgrund der Angaben der Nebenklägerin als überführt angesehen.

2. Die Revision des Angeklagten hat hinsichtlich der Verurteilung mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die erhobenen Verfahrensrügen nicht ankommt. Die der Verurteilung zugrundeliegende Beweiswürdigung hält auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 2019 - 1 StR 218/19 Rn. 8 mwN) sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand (§ 261 StPO). Sie wird auch den besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen nicht gerecht (vgl. dazu im Einzelnen nur BGH, Beschlüsse vom 5. April 2016 - 1 StR 53/16 Rn. 3 und vom 20. April 2017 - 2 StR 346/16 Rn. 6; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 230 ff. mwN).

a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist zunächst im Hinblick auf die - erstmals im zweiten Rechtsgang gemachten - Angaben der Nebenklägerin zur zeitlichen Einordnung der Taten in Relation zu ihrer ersten Menstruation durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Die Nebenklägerin hat angegeben, sie habe ihre erste Monatsblutung kurz vor der Klassenfahrt nach Sylt im Juni 2014 gehabt und Missbrauchshandlungen hätten nach Beginn der Menstruation nicht mehr stattgefunden. Vor dem Hintergrund der Eintragung im Tagebuch der Nebenklägerin, Beginn der Monatsblutung sei am 20. Februar 2013 gewesen, und eines dem im Wesentlichen entsprechenden Vermerks im Kalender ihrer Mutter ist das Landgericht davon ausgegangen, es habe sich bei der Blutung im Februar 2013 zunächst um ein einmaliges Ereignis gehandelt, die regelmäßige Menstruation habe erst kurz vor der Klassenfahrt im Juni 2014 eingesetzt. Diese vom Landgericht gegebene Erklärung beruht nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine bei der Kammer bestehende Sachkunde hinsichtlich eines unregelmäßigen Beginns der Menstruation (UA S. 55) reicht insoweit nicht aus, zumal die Nebenklägerin selbst nicht von einem unregelmäßigen Beginn der Regelblutung berichtet hat. Bei einem Beginn der Menstruation im Februar 2013 und unter Zugrundelegung der Angabe der Nebenklägerin, dass danach keine sexuellen Übergriffe des Angeklagten mehr stattgefunden haben, wären die festgestellten Tatzeiten in den Fällen II. 5. bis 7. der Urteilsgründe nicht zutreffend, in den Fällen II. 2. bis 4. sowie II. 8. bis 10. der Urteilsgründe zumindest fraglich.

b) Im Hinblick auf den zuvor genannten Gesichtspunkt der zeitlichen Einordnung der Taten erweist sich auch die Konstanz- und Inhaltsanalyse der Angaben der Nebenklägerin als nicht frei von rechtlichen Bedenken, da das Landgericht nicht alle für die Entscheidung relevanten Umstände erörtert.

Die Nebenklägerin hat die Taten anhand der von ihr besuchten Schulklassen zeitlich eingeordnet. Dabei fällt auf, dass sich das Ende des Tatzeitraums im Verlauf der Angaben der Nebenklägerin - zunächst gegenüber ihren Freunden und sodann gegenüber der Polizei und vor Gericht - immer weiter zeitlich nach hinten verschiebt. So hat die Nebenklägerin gegenüber dem Zeugen M. im Sommer 2014, also einem Zeitpunkt, in dem die Missbrauchshandlungen nach den Feststellungen der Strafkammer gerade erst aufgehört hatten, angegeben, die Tathandlungen seien „schon einige Zeit her“ (UA S. 17). Den Schulfreundinnen und dem Zeugen L. hat die Nebenklägerin im Januar/Februar 2015 mitgeteilt, die Übergriffe hätten sich in der 3. oder 4. Klasse, und damit in einem Zeitraum zwischen Mitte 2009 bis Mitte 2011, ereignet (UA S. 19). Bei der polizeilichen Vernehmung am 31. März 2015 hat sie angegeben, der Angeklagte habe sie von der 2. oder 3. Klasse bis ungefähr zur 5. Klasse, also bis Mitte 2012, öfter sexuell missbraucht (UA S. 24). Während die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung im ersten Rechtsgang angegeben hat, die Übergriffe hätten in der 6. oder 7. Klasse aufgehört (UA S. 28), hat sie nunmehr in der Hauptverhandlung ausgeführt, die Übergriffe hätten nach der Klassenfahrt nach Sylt am Ende der 7. Klasse, und damit im Juni 2014, nicht mehr stattgefunden.

Das Landgericht hat diese Inkonstanzen nur unzureichend gewürdigt und insbesondere nicht berücksichtigt, dass die Angaben - neben der zeitlichen Verschiebung als solcher - teilweise inhaltlich nicht zueinander passen. Es hat zudem nicht erkennbar in den Blick genommen, dass gerade die Angaben, die die Nebenklägerin im Sommer 2014 und Anfang 2015 gemacht hat, zeitlich noch in engem Zusammenhang zu dem festgestellten Ende des Tatzeitraums und auch zueinander stehen, so dass zumindest insoweit inhaltlich übereinstimmende und konstante Angaben zu erwarten gewesen wären. Die Strafkammer hat sich hinsichtlich der zeitlichen Abweichungen „insbesondere bezogen auf die polizeiliche Vernehmung“ am 31. März 2015 vielmehr damit begnügt, diese neben der allgemeinen Schwäche zu zeitlichen Zuordnungen mit einer Nervosität der Nebenklägerin bei ihren Vernehmungen zu erklären (UA S. 53).

Die dargelegten Inkonstanzen hat das Landgericht zudem nicht im Zusammenhang damit bewertet, dass es einzelne Erinnerungslücken in den Angaben der Nebenklägerin konstatiert hat (UA S. 55) und dass (auch) die Angaben der Nebenklägerin zu der Anzahl der Taten - was für sich genommen angesichts des Zeitablaufs erklärbar ist - variieren, weshalb ein Teil der angeklagten Tatvorwürfe im ersten Rechtsgang nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden war.

c) Schließlich fehlt es insgesamt an einer Gesamtwürdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sprechenden Gesichtspunkte (vgl. hierzu nur BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - 2 StR 273/17 Rn. 6 mwN).

3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung, wobei es aufgrund der Besonderheiten des Falls naheliegen dürfte, einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzuzuziehen.

II.

Die Aufhebung des Urteils einschließlich der Feststellungen entzieht auch der Kompensationsentscheidung die Grundlage. Zudem war vor diesem Hintergrund die zu Gunsten der Nebenklägerin ergangene Adhäsionsentscheidung aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - 5 StR 373/18 Rn. 7 ff. mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 406a Rn. 8).

III.

Der Senat macht von § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO Gebrauch und verweist die Sache an das Landgericht Heidelberg.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 201

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede