hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 316

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 408/17, Beschluss v. 20.12.2017, HRRS 2018 Nr. 316


BGH 1 StR 408/17 - Beschluss vom 20. Dezember 2017 (LG Mannheim)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (erforderliche Darstellung im Urteil bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 24. März 2017 - mit Ausnahme der Adhäsionsentscheidungen - mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und davon einen Monat wegen überlanger Verfahrensdauer für vollstreckt erklärt. Zudem hat es den Angeklagten als Adhäsionsbeklagten verurteilt, ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € nebst Zinsen an die Adhäsionsklägerin zu zahlen.

Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen überwiegenden Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

An einem nicht feststellbaren Tag im Zeitraum von Oktober 2009 bis Mitte/Ende Dezember 2012 schob der Angeklagte der am 8. Juli 2001 geborenen Geschädigten, die beim gemeinsamen Lernen auf seinem Schoß saß, seine Hand unter die Kleidung und rieb damit an ihrer nackten Scheide, um sich sexuell zu stimulieren (Fall II.A.1. der Urteilsgründe).

Im Zeitraum von Mitte/Ende Dezember 2012 bis Juli 2014 nahm der Angeklagte an im Einzelnen nicht mehr feststellbaren Tagen - in neun Fällen - sexuelle Handlungen an der Geschädigten vor, um sich hierdurch sexuell zu erregen. An mindestens drei Tagen schob der Angeklagte im Zimmer der Geschädigten erneut seine Hand unter die Kleidung des beim Lernen auf seinem Schoß sitzenden Mädchens und rieb damit an dessen nackter Scheide (Fälle II.A.2.a). Möglicherweise Anfang 2014 legte sich der Angeklagte abends nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet im Elternschlafzimmer zu der auf dem Bett liegenden Geschädigten und fasste unter den Schlafanzug, berührte sie an ihren nackten Brüsten und rieb mit seiner Hand an ihrer nackten Scheide (Fall II.A.2.b). An einem anderen Abend zog der Angeklagte - wiederum nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet - die im Elternschlafzimmer auf dem Bett liegende Geschädigte auf sich, sodass sie bäuchlings auf ihm zu liegen kam und verlangte von ihr, vor und zurück zu rutschen; hierbei umfasste er mit seinen Händen ihre Hüfte und dirigierte so die beischlafähnlichen Bewegungen, die bei ihm zu einer Erektion führten (Fall II.A.2.c). An einem weiteren Abend verlangte der Angeklagte von der Geschädigten, seinen Penis anzufassen, nahm ihre Hand und führte diese an sein entblößtes Geschlechtsteil und bedeutete ihr, die Hand hin und her zu bewegen; als er ihre Hand losließ, zog die Geschädigte diese zurück (Fall II.A.2.d). An zwei weiteren Abenden zog der Angeklagte sich und der bäuchlings in ihrem Bett liegenden Geschädigten die Hosen hinunter und rieb seinen nackten Penis an ihrem entblößten Gesäß, bis er zum Samenerguss kam (Fälle II.A.2.e). An einem weiteren Abend rieb der Angeklagte, nachdem er sich und der Geschädigten die Hosen heruntergezogen hatte, seinen nackten Penis an der nackten Scheide der Geschädigten, die bäuchlings oder rücklings im Bett lag (Fall II.A.2.f).

2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung im Wesentlichen auf die Aussage der Geschädigten gestützt und sich dabei unter anderem auf die inhaltliche Qualität und Konstanz ihrer Angaben im Hinblick auf den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt gestützt.

II.

Die Revision des Angeklagten hat hinsichtlich der Verurteilung mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die erhobene Verfahrensrüge nicht ankommt.

Die den Feststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238 f.; BGH, Urteil vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 119/05, NJW 2006, 925, 928).

2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Beweiswürdigung ist bereits deshalb lückenhaft, weil es an einer geschlossenen Darstellung der Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung und der früheren Aussagen fehlt, so dass die vom Landgericht vorgenommene Inhaltsund Konstanzanalyse revisionsgerichtlich nicht überprüft werden kann.

Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in allen Einzelheiten wiederzugeben. In Fällen, in denen - wie hier - Aussage gegen Aussage steht, muss aber der entscheidende Teil einer Aussage in das Urteil aufgenommen werden, da dem Revisionsgericht ohne Kenntnis des wesentlichen Aussageinhalts ansonsten die sachlichrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung nach den oben aufgezeigten Maßstäben verwehrt ist (Senat, Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110, 111 Rn. 14; BGH, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 92/14, NStZ-RR 2015, 52, 53 Rn. 10).

Die Darstellung der Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung beschränkt sich auf die Mitteilung, die Zeugin habe „die sie betreffenden Sachverhalte ihrem Wahrnehmungsbereich entsprechend so wie festgestellt“ geschildert (UA S. 10). Die Angaben, die die Nebenklägerin zuvor bei der Polizei gemacht hat, werden nicht dargestellt. Auf dieser Grundlage erschöpfen sich die Urteilsgründe im Hinblick auf die Inhaltsanalyse - formelhaft - darin, mitzuteilen, dass die Geschädigte nicht nur über das jeweilige Kerngeschehen, sondern auch über Randdetails und nebensächliche Einzelheiten berichtet habe (UA S. 16) und, dass die Aussage in ihrem Umfang sowie ihrer Detailliertheit, Konkretheit und Differenziertheit ein Niveau aufweise, wie es bei einem Erlebnisbericht über sexuelle Missbrauchshandlungen der festgestellten Art zu erwarten sei (UA S. 17). Die Bekundungen der Nebenklägerin zu den von ihr erhobenen Missbrauchsvorwürfen im Einzelnen, insbesondere konkrete Details zum unmittelbaren Tatgeschehen und zum psychischen Erleben der Nebenklägerin, werden dabei allerdings nicht mitgeteilt. Im Hinblick auf die Konstanzanalyse beschränken sich die Urteilsgründe auf die Darstellung der Aussageentstehung in zeitlicher Hinsicht (UA S. 6 ff.) und die Wiedergabe und Bewertung einzelner Angaben in der Hauptverhandlung und gegenüber der Polizei, die das Landgericht als inhaltliche Abweichungen bezeichnet, die nicht geeignet seien, Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten zu begründen (UA S. 19 f., 23 f.). Den Urteilsgründen ist hingegen nicht zu entnehmen, ob die Nebenklägerin die vom Landgericht aufgezeigten Widersprüche im Aussageinhalt nachvollziehbar erklären konnte oder nicht.

Auf dieser Grundlage kann der Senat insgesamt nicht hinreichend überprüfen, ob das Landgericht eine fachgerechte Analyse der Aussage der Nebenklägerin zum Kerngeschehen vorgenommen und überdies die dabei von ihm aufgezeigten Abweichungen zutreffend gewichtet hat (zur Gewichtung von Aussagekonstanz und Widerspruchsfreiheit vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 1997 - 4 StR 526/96, NStZ-RR 1997, 172).

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Einhaltung der sachlichrechtlichen Erörterungspflichten zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Geschädigten gelangt wäre. Die Sache bedarf daher der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter.

III.

1. Die Aufhebung des Urteils einschließlich der Feststellungen entzieht vorliegend auch der Kompensationsentscheidung die Grundlage. Sollte der neue Tatrichter erneut zu einer Verurteilung gelangen, wird hinsichtlich der im hier fraglichen Urteil gewährten Kompensation § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO zu beachten sein (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2017 - 2 StR 375/16, NStZ-RR 2017, 213 Rn. 11 mwN).

2. Die Aufhebung des strafrechtlichen Teils des angefochtenen Urteils führt nicht zur Aufhebung der zu Gunsten der Nebenklägerin ergangenen Adhäsionsentscheidung (§ 406a Abs. 3 Satz 1 StPO); dessen Aufhebung bleibt gegebenenfalls dem neuen Tatrichter vorbehalten (vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 2017 - 4 StR 197/17, NStZ-RR 2017, 270 Rn. 13; Urteil vom 23. Juli 2015 - 3 StR 470/14, StraFo 2016, 25 Rn. 56 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 316

Externe Fundstellen: StV 2019, 525

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede