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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 335

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 385/16, Urteil v. 26.01.2017, HRRS 2017 Nr. 335


BGH 1 StR 385/16 - Urteil vom 26. Januar 2017 (LG München I)

Versuchter Totschlag (Schütteln eines Kleinkindes; Vorsatz; Rücktritt); gefährliche Körperverletzung; schwere Körperverletzung; tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit: Vollständigkeit); Strafzumessung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 46 StGB; § 212 StGB; § 15 StGB; § 22 StGB; § 224 StGB; § 226 StGB

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 25. Februar 2016 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die er auf die Sachrüge und die Verletzung von Verfahrensrecht stützt. Das Rechtsmittel ist unbegründet.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte verbrachte den Nachmittag und den Abend des 1. Dezember 2014 zusammen mit seiner Ehefrau und der am 8. Oktober 2014 geborenen gemeinsamen Tochter L. in der Ehewohnung in S. Gegen 18.00 Uhr wickelte der Angeklagte - wie üblich - seine Tochter und seine Ehefrau stillte das Kind, ohne dass dieses Auffälligkeiten oder Besonderheiten zeigte. Zu einem nicht exakt feststellbaren Zeitraum zwischen 18.00 und 21.00 Uhr befand sich der Angeklagte beim Wickeln oder Zubettbringen des schreienden Kindes allein in einem Zimmer der Wohnung, während sich die Ehefrau in einem anderen Zimmer aufhielt. Der Angeklagte fühlte sich auf Grund des Geschreis seiner knapp acht Wochen alten Tochter, die sich nicht beruhigen ließ, überfordert und wurde wütend. Um das Kind zur Ruhe zu bringen, nahm er es spontan hoch und schüttelte es für die Dauer von zumindest fünf Sekunden mindestens zehn Mal derart kräftig, dass der Kopf des Kindes unkontrolliert hin und her pendelte. Ihm war dabei bewusst, dass seine Vorgehensweise zu dauerhaften und schweren Gesundheitsschäden bei seiner Tochter führen könnte und er nahm auch deren Tod zumindest billigend in Kauf.

Durch das Handeln des Angeklagten erlitt seine Tochter ein Schütteltrauma, das insbesondere zu einem subduralen Hämatom, ausgeprägten Netzhautblutungen in beiden Augen, ausgedehnten Rissen in beiden Frontallappen des Gehirns, einem massiven Hirnödem und einer irreparablen Hirnschädigung führte. Äußerlich sichtbare Verletzungen erlitt das Kind - mit Ausnahme einer kleinen Einblutung an der Stirn - nicht. Es wurde aber auf Grund der in Folge des massiven Schüttelvorgangs hervorgerufenen Hirnschädigung sofort ruhig und danach vom Angeklagten in sein Bett gelegt. Das Bewusstsein des Kindes trübte in der Folge immer mehr ein, während der Angeklagte den weiteren Abend mit seiner Frau im Wohnzimmer verbrachte. Beim Zubettgehen der Eltern gegen 24.00 Uhr versuchte die Ehefrau - entsprechend dem üblichen Trinkrhythmus des Kindes - die schlafende Tochter zu stillen, was aber nicht gelang. In den frühen Morgenstunden des 2. Dezember 2014, kurz vor 5.00 Uhr, erwachten der Angeklagte und seine Frau wegen ungewöhnlicher Atemgeräusche des Kindes, welches zu diesem Zeitpunkt auf Grund seiner massiven Hirnschädigung bereits nicht mehr erweckbar war. Nachdem der Angeklagte keinen Puls mehr bei seiner Tochter fühlte, unternahm er selbst Rettungsbemühungen durch eine Herzdruckmassage mit Mund-zu-Mund-Beatmung, um den Tod seiner Tochter zu verhindern, und verständigte den Notarzt.

Nach Einlieferung in die Klinik wurde das Kind noch am selben Tag notoperiert. In der Folgezeit waren weitere Operationen erforderlich. Nach einer stationären Behandlung bis 27. Januar 2015 in der Klinik und einer Rehabilitationsmaßnahme bis 3. Juni 2015 befindet sich das Kind wieder in der Wohnung der Eltern und wird dort durch die Mutter und einen professionellen 24-Stunden-Pflegedienst betreut. Das Kind ist auf Grund dieses Vorfalls wegen schwerster Gewebeuntergänge im Gehirn und einer schweren Hirnfunktionsstörung geistig behindert, leidet an einer spastischen Lähmung aller vier Extremitäten, hat keine Kopfkontrolle und kann nicht selbstständig sitzen oder nach einem Gegenstand greifen. Sein Kopf ist sichtbar deformiert. Eine wesentliche kognitive, motorische oder sprachliche Entwicklung des Kindes oder eine wesentliche Regeneration sind auf Grund der schwersten Hirnschädigung nicht zu erwarten.

II.

Die auf Verletzung von Verfahrensrecht und sowie die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg; das angefochtene Urteil ist rechtsfehlerfrei.

1. Die erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 73 StPO hat aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift näher dargelegten Gründen keinen Erfolg.

2. Auch die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

a) Die Feststellungen des Landgerichts werden von der Beweiswürdigung getragen.

aa) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 11. Februar 2016 - 3 StR 436/15 und vom 14. Dezember 2011 - 1 StR 501/11, NStZ-RR 2012, 148, jeweils mwN).

bb) Derartige Rechtsfehler werden durch die Revision nicht aufgedeckt.

(1) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerfrei.

Der Angeklagte hat den Tatvorwurf bestritten und sich dahingehend eingelassen, am Abend des Tattages zwar mit seiner Tochter während des Wickelns und Zubettbringens alleine im Bad bzw. im Schlafzimmer gewesen zu sein, ohne dass es zu Auffälligkeiten gekommen sei. Er habe keine Erklärung dafür, wie es zu den schweren Verletzungen des Kindes gekommen sei, er habe seine Tochter nicht geschüttelt. Das Landgericht hat sich auf Grund einer umfassenden Würdigung sämtlicher erhobener Beweise davon überzeugt, dass der Angeklagte den Gesundheitszustand der Geschädigten durch massives Schütteln ihres Körpers verursachte.

(2) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist auch nicht lückenhaft.

(a) Auf die Sachrüge hin prüft das Revisionsgericht, ob die tatrichterliche Beweiswürdigung so, wie sie sich aus den Urteilsgründen ergibt, den Beweisstoff lückenlos ausgeschöpft hat (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 1986 - 3 StR 500/86; Ott in KK-StPO, 7. Aufl., § 261 Rn. 81). Lückenhaft ist eine Beweiswürdigung namentlich dann, wenn sie wesentliche Feststellungen nicht erörtert (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 4 StR 387/15, Rn. 13, StraFo 2016, 110; Beschluss vom 12. November 2015 - 2 StR 197/15, Rn. 14, NStZ 2016, 338; Urteile vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06 und vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13, NStZ-RR 2014, 87).

Im Übrigen liegt ein Erörterungsmangel und damit eine Lücke nur dann vor, wenn sich das Tatgericht mit tatsächlich vorhandenen Anhaltspunkten für nahe liegende andere Möglichkeiten nicht auseinandergesetzt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. November 2015 - 2 StR 197/15, Rn. 14, NStZ 2016, 338 und vom 30. April 1987 - 4 StR 164/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 6; Urteil vom 5. Dezember 1986 - 2 StR 566/86, BGHR StPO 261 Beweiswürdigung, unzureichende 4). Es ist aber weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09, wistra 2010, 310, 312 mwN; Beschluss vom 23. August 2011 - 1 StR 153/11, Rn. 24, in BGHSt 57, 1 nicht abgedruckt; Urteil vom 23. März 1995 - 4 StR 746/94, BGHR BtMG § 29 Bewertungseinheit 4). Deshalb braucht das tatrichterliche Urteil bloß theoretische Möglichkeiten auch nicht zu erörtern (BGH, Beschlüsse vom 12. November 2015 - 2 StR 197/15, Rn. 14, NStZ 2016, 338; vom 23. Mai 2012 - 1 StR 208/12, Rn. 7, wistra 2012, 355 [in NStZ 2012, 584 nicht abgedruckt] und vom 23. August 2011 - 1 StR 153/11, Rn. 24; Urteil vom 26. Mai 2011 - 1 StR 20/11, NStZ 2011, 688), sondern muss sich nur mit nach der Sachlage naheliegenden Möglichkeiten auseinandersetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2015 - 2 StR 197/15, Rn. 14, NStZ 2016, 338; Urteil vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147; Beschluss vom 29. August 1974 - 4 StR 171/74, BGHSt 25, 365, 367; Ott in KK-StPO, 7. Aufl., § 261 Rn. 49 mwN).

(b) Ausgehend von diesen Grundsätzen enthält die Beweiswürdigung auch keine Erörterungsmängel und sonstige Lücken. Das Landgericht hat sich mit sämtlichen in der Hauptverhandlung erhobenen Beweisen umfassend auseinandergesetzt. Die Schlussfolgerungen und Wertungen des Landgerichts lassen keine Rechtsfehler erkennen und halten sich im tatgerichtlichen Beurteilungsspielraum.

Auf Grund der Ausführungen der behandelnden Ärzte sowie der kinderradiologischen und rechtsmedizinischen Sachverständigen geht das Landgericht zutreffend davon aus, dass der Gesundheitszustand der Geschädigten nur durch ein Schütteltrauma verursacht worden sein kann, weil Anhaltspunkte für einen anderen Verursachungsmechanismus fehlen. Insbesondere ist auch die auf einer Gesamtwürdigung aller in der Beweisaufnahme gewonnenen Beweismittel beruhende Überzeugung des Landgerichts von der Täterschaft des Angeklagten nicht zu beanstanden. So war der Angeklagte im Tatzeitraum als Einziger mit dem Säugling alleine, als dieser plötzlich ruhig wurde und typische unmittelbare Folgen eines Schütteltraumas zeigte. Der leicht erregbare und in affektiver Erregung auch impulsiv agierende Angeklagte war bereits zuvor gegenüber der Geschädigten gewalttätig geworden und hatte sie wiederholt nicht kindgerecht behandelt. Das Landgericht hat auch nachvollziehbar vor dem gesamten Indizienhintergrund eine Tatbegehung durch Dritte ausgeschlossen.

b) Die Urteilsfeststellungen tragen den Schuldspruch.

Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten rechtlich als schwere Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) gewertet. Infolge der körperlichen Misshandlung durch den Angeklagten bei dem massiven Schüttelvorgang hat die Geschädigte langwierige, schwere Schäden an Körper und Gesundheit erlitten, wobei alle drei Qualifikationsmerkmale des § 226 StGB erfüllt sind. Dazu in Tateinheit verwirklicht wurde der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung, da es sich bei dem massiven Schüttelvorgang auch um eine das Leben gefährdende Behandlung handelt (BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2009 - 1 StR 241/09, NStZ-RR 2009, 278 und vom 21. Oktober 2008 - 3 StR 408/08, BGHSt 53, 23). Hinsichtlich des ebenfalls in Betracht kommenden versuchten Mordes ist das Landgericht von einem strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten nach § 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StGB ausgegangen.

3. Auch der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand.

Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 17. September 1980 - 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 320; vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, Rn. 17, BGHSt 57, 123, 127 und vom 12. Januar 2016 - 1 StR 414/15, Rn. 12, NStZ-RR 2016, 107, 108; jeweils mwN). Nur in diesem Rahmen kann eine „Verletzung des Gesetzes“ (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (st. Rspr.; vgl. nur BGH GS, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349; BGH, Urteile vom 12. Januar 2005 - 5 StR 301/04, wistra 2005, 144; vom 7. Februar 2012 - 1 StR 525/11, Rn. 17, BGHSt 57, 123, 127 und vom 12. Januar 2016 - 1 StR 414/15, Rn. 12, NStZ-RR 2016, 107, 108).

Solche Rechtsfehler liegen hier nicht vor. Das Landgericht hat das Vorliegen eines minder schweren Falls der schweren Körperverletzung nach § 226 Abs. 3 StGB eingehend geprüft und mit tragfähigen Erwägungen nach umfassender Gesamtwürdigung verneint. Die Strafzumessung des Landgerichts, die vor allem der erheblichen Anzahl und damit dem Ausmaß der schweren Körperverletzungsfolgen ein besonders hohes Gewicht beigemessen hat, ist auch im Übrigen rechtsfehlerfrei.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 335

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede