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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 625

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 208/12, Beschluss v. 23.05.2012, HRRS 2012 Nr. 625


BGH 1 StR 208/12 - Beschluss vom 23. Mai 2012 (LG Essen)

Anforderungen an die Überprüfung der Glaubhaftigkeit eines Geständnisses nach einer Verständigung (Inbegriff der Hauptverhandlung; Rekonstruktionsverbot); Selbstleseverfahren (Zwischenrechtsbehelf; Widerspruchslösung).

§ 257c StPO; § 261 StPO; § 249 StPO; § 238 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das im Rahmen einer Verständigung (§ 257c StPO) abgelegte Geständnis ist nicht schon im Ansatz intensiver zu überprüfen als ein nicht im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis. Es gibt keine forensische Erfahrung, wonach bei einem Geständnis stets oder jedenfalls dann, wenn es im Rahmen einer Verständigung abgelegt wurde, ohne weiteres regelmäßig mit einer wahrheitswidrigen Selbstbelastung zu rechnen sei. Dies gilt auch dann, wenn der Angeklagte durch ein unwahres Geständnis Sohn und/oder Lebensgefährtin vor einer Bestrafung schützen würde. Allein die gesetzlichen Wertungen in § 52 StPO, § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB und § 258 Abs. 6 StGB können die für eine solche Annahme erforderlichen konkreten Anhaltspunkte nicht ersetzen.

2. Allein aus einem bestimmten zeitlichen Rahmen kann sich nicht ergeben, dass Feststellungen zu einem Geständnis hinsichtlich eines - zumal für eine Wirtschaftsstrafkammer - leicht erfassbaren Sachverhalts und zu dessen Überprüfung nicht Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) sein könnten.

3. Wer rügt, das Revisionsgericht möge den Ablauf der Hauptverhandlung im Detail überprüfen, um so festzustellen, dass speziell vorliegend keine ordnungsgemäße Beweiserhebung vorliegen könne, verkennt, dass das Revisionsgericht Gang und Inhalt der Beweisaufnahme nicht rekonstruieren darf.

4. Für die Verfahrensrüge einer nicht ordnungsgemäßen Durchführung eines Selbstleseverfahrens ist eine vorherige Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO erforderlich.

5. Ist eine ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens durch das Hauptverhandlungsprotokoll belegt, kann erfolgreiches Revisionsvorbringen nicht auf Überlegungen zu einer - jedenfalls objektiv - fehlenden "Wahrhaftigkeit" der zu Grunde liegenden richterlichen Erklärungen gestützt werden.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 17. Januar 2012 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Der Angeklagte wurde nach Verständigung (§ 257c StPO) wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen (unberechtigter Vorsteuerabzug von fast 1,3 Mio. € aus "Abdeckrechnungen" und unzutreffenden Gutschriften) zu drei Jahren und drei Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt.

Seine Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

Zusammenfassend und ergänzend zu den zutreffenden, auch von der Erwiderung der Revision nicht entkräfteten Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:

1. Die Revision meint, die Bewertung des Geständnisses des Angeklagten als glaubhaft beruhe auf unzureichender Grundlage. Die maßgeblichen Vernehmungen des Angeklagten und von Zeugen hätten, wie sich aus der mitgeteilten jeweiligen Dauer der einzelnen Verfahrensabschnitte ergibt, insgesamt nur 83 Minuten gedauert, abzüglich noch der für zugleich durchgeführte formale Vorgänge benötigten Zeit.

Das Vorbringen versagt.

Die Revision erwähnt in diesem Zusammenhang schon nicht, dass die Feststellungen auch auf ein umfangreiches Selbstleseverfahren gestützt sind.

Auch unabhängig davon ist der Senat nicht der Auffassung, schon der genannte zeitliche Rahmen ergäbe, dass Feststellungen zu einem Geständnis hinsichtlich eines - zumal für eine Wirtschaftsstrafkammer - leicht erfassbaren Sachverhalts und zu dessen Überprüfung nicht Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) sein könnten. Sollte die Revision dahin zu verstehen sein, der Senat möge den Ablauf der Hauptverhandlung im Detail überprüfen, um so festzustellen, dass speziell vorliegend keine ordnungsgemäße Beweiserhebung vorliegen könne, wäre verkannt, dass das Revisionsgericht Gang und Inhalt der Beweisaufnahme nicht rekonstruiert (vgl. schon BGH, Urteil vom 7. Oktober 1966 - 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151 mwN). Sollte darüber hinaus zum Ausdruck gebracht sein, ein im Rahmen einer Verständigung (§ 257c StPO) abgelegtes Geständnis sei schon im Ansatz intensiver zu überprüfen als ein nicht im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis, wäre dem ebenfalls nicht zu folgen. Die Beweiswürdigung hat stets auch solche Gesichtspunkte erkennbar zu erwägen, die auf Grund der Urteilsfeststellungen nahe liegen und die gegen das gefundene Ergebnis sprechen können.

Es gibt keine forensische Erfahrung, wonach bei einem Geständnis stets oder jedenfalls dann, wenn es im Rahmen einer Verständigung abgelegt wurde, ohne weiteres regelmäßig mit einer wahrheitswidrigen Selbstbelastung zu rechnen sei. Dies gilt auch dann, wenn - wie nach Auffassung der Revision möglicherweise hier - der Angeklagte durch ein unwahres Geständnis Sohn und/oder Lebensgefährtin vor einer Bestrafung schützen würde. Allein die gesetzlichen Wertungen in § 52 StPO, § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB und § 258 Abs. 6 StGB können die für eine solche Annahme erforderlichen konkreten Anhaltspunkte nicht ersetzen. Derartige konkrete Anhaltspunkte sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich. Allein die (theoretische) Denkbarkeit eines Geschehensablaufs führt nicht dazu, dass er zu erörtern wäre (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 20. September 2011 - 1 StR 120/11, NStZ-RR 2012, 72, 73 mwN).

Soweit die Revision zugleich auch § 244 Abs. 2 StPO für verletzt hält, ist entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO weder mitgeteilt, welcher Beweismittel sich die Strafkammer noch hätte bedienen sollen, noch mitgeteilt, welche konkreten Erkenntnisse davon zu erwarten gewesen wären.

2. Die Revision macht geltend, das angeordnete Selbstleseverfahren sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Innerhalb von vier Tagen, darunter ein Wochenende, hätte das Gericht insgesamt 674 Seiten (vielfach mit wenigen Zeilen beschriebene Rechnungen) nicht ordnungsgemäß zur Kenntnis nehmen können.

Eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (vgl. allgemein zu Notwendigkeit der Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses als Zulässigkeitsvoraussetzung einer ein Selbstleseverfahren betreffenden Verfahrensrüge BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist nicht herbeigeführt worden.

Die Revision ist der Auffassung, § 238 Abs. 2 StPO sei hier deshalb unanwendbar, weil es nur um die Frage gehe, ob die Mitglieder der Strafkammer, insbesondere die Schöffen, die Urkunden in der gebotenen Intensität zur Kenntnis genommen hätten. Darüber hinaus sei die sog. Widerspruchslösung hier schon im Ansatz unanwendbar, da dem Verfahren eine Verständigung zu Grunde liege.

Beides ist unzutreffend.

a) Ist, wie hier, eine ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens durch das Hauptverhandlungsprotokoll belegt, kann erfolgreiches Revisionsvorbringen nicht auf Überlegungen zu einer - jedenfalls objektiv - fehlenden "Wahrhaftigkeit" der zu Grunde liegenden richterlichen Erklärungen gestützt werden (zum umgekehrten Fall, dass das Hauptverhandlungsprotokoll die gebotene Kenntnisnahme durch die Richter nicht belegt vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2011 - 1 StR 33/11, StV 2011, 462, 463).

b) Es ist auch nicht ersichtlich, warum eine vorangegangene Verständigung eine sonst für eine Verfahrensrüge notwendige Voraussetzung entfallen lassen könnte. Auch die Revision nennt keine Gründe, die nach ihrer Auffassung die von ihr aufgestellte gegenteilige Behauptung stützen könnten.

Im Übrigen entbehrte die Behauptung, es sei "nicht plausibel, dass u.a. ein Glasermeister, der an Werktagen in aller Regel arbeitet, von dem ihm zum Selbstlesen zugewiesenen Urkunden und Schriftstücken" ordnungsgemäß im Selbstleseverfahren Kenntnis genommen hätte, jeglicher Grundlage.

3. Auch unter Berücksichtigung des gesamten Revisionsvorbringens, wonach es gegen Verfassungs- und Menschenrecht verstoße, dass die Strafkammer eine Strafe verhängt habe, die zwar innerhalb des im Rahmen der Verständigung genannten Strafrahmens liege, nicht aber dessen Untergrenze (drei Jahre) bilde, sieht der Senat keine Veranlassung, von der - von der Revision angeführten - gegenteiligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzuweichen.

Ein im Rahmen einer Verständigung abgelegtes Geständnis ist die Voraussetzung dafür, dass die Strafe nur dem zuvor genannten Strafrahmen zu entnehmen ist; es führt aber nicht dazu, dass eine andere als eine die Untergrenze des Strafrahmens überschreitende Strafe nicht mehr verhängt werden dürfte. Einen entsprechenden Vertrauenstatbestand hat das Gericht nicht geschaffen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2010 - 1 StR 345/10).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 625

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 584

Bearbeiter: Karsten Gaede