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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 459

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 343/22, Urteil v. 18.01.2023, HRRS 2023 Nr. 459


BGH 5 StR 343/22 - Urteil vom 18. Januar 2023 (LG Dresden)

Fehlende Feststellungen zum Wirkstoffgehalt bei Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Bestimmung der geringen Menge; Strafrahmenwahl und Strafzumessung; fehlende Untersuchungsmöglichkeit; Anhaltspunkte für Schätzung); Anforderungen an das freisprechende Urteil; Zeitablauf zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsgesichtspunkt.

§ 29 BtMG; § 261 StPO; § 267 StPO; § 46 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Verurteilung wegen einer Betäubungsmittelstraftat bedarf es regelmäßig Feststellungen zum Wirkstoffgehalt. Auf diesen kommt es neben Art und Menge der gehandelten Betäubungsmittel nicht nur für die Bestimmung einer nicht geringen Menge, sondern auch für die Strafrahmenwahl und die Strafzumessung im engeren Sinne an, weil dadurch der Schuldumfang der Tat und die Schuld des Täters maßgeblich bestimmt werden. Dies gilt auch in Fällen, in denen es lediglich zum Ankauf der Betäubungsmittel kam und eine spätere Auslieferung nicht festgestellt ist, da insoweit das Vorstellungsbild des Angeklagten entscheidend ist. Bei der Strafzumessung in Beihilfefällen ist die Feststellung der Wirkstoffmenge für die Bestimmung der Schwere der Haupttat erforderlich, auch wenn dem Gewicht des Tatbeitrags des Gehilfen die maßgebliche Bedeutung zukommt.

2. Stehen Betäubungsmittel für eine Untersuchung nicht zur Verfügung, muss das Tatgericht die Wirkstoffmenge oder den Wirkstoffgehalt unter Berücksichtigung der anderen hinreichend sicher festgestellten Tatumstände (wie Herkunft, Preis, Aussehen, Verpackung, Beurteilung durch Tatbeteiligte, Handelsstufe), gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes, zahlenmäßig schätzen. Eine Umschreibung in allgemeiner Form, etwa „durchschnittliche Qualität“ reicht nicht aus.

3. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, muss es regelmäßig in einer geschlossenen Darstellung die als erwiesen angesehenen Tatsachen feststellen, bevor es in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden konnten. Denn es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen.

4. Der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil gehört zu den Umständen, die nach am Einzelfall orientierten Maßgaben als sonstiger Aspekt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB Einfluss auf die Bemessung der Strafe gewinnen können, da der Ablauf der Zeit zwar nicht die Tatschuld mindert, aber Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen kann, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre. Deshalb führt ein langer Zeitablauf nach der Tat nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt, sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 22. März 2022 aufgehoben

im Fall II.1 und II.4 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Geschehen,

im Strafausspruch in den Fällen II.2, 3, 5 und 6 sowie

im Gesamtstrafausspruch.

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 22. März 2022 aufgehoben

mit den zugehörigen Feststellungen, soweit der Angeklagte im Fall 3 der Anklageschrift freigesprochen worden ist,

im Strafausspruch im Fall II.4 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen und im Fall II.6 der Urteilsgründe sowie

im Gesamtstrafausspruch.

Die weitergehenden Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft werden verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieser Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen und wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sieben Monaten verurteilt sowie eine Einziehungsentscheidung getroffen. Von zwei weiteren Tatvorwürfen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge hat es ihn freigesprochen (Fälle 2 und 3 der Anklageschrift). Das auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten hat mit der Sachrüge teilweise Erfolg. Die Staatsanwaltschaft greift den Freispruch im Fall 3 der Anklageschrift und den Strafausspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen in den Fällen II.4 und II.6 der Urteilsgründe an. Ihre mit der Sachrüge zu Ungunsten des Angeklagten geführte Revision hat überwiegend Erfolg.

A. Revision des Angeklagten I.

Soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, hat das Landgericht folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte entschloss sich zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt, jedenfalls vor dem 2. April 2020, seinen Lebensunterhalt durch den gewinnbringenden Verkauf von Betäubungsmitteln, insbesondere Crystal und Mariuana, zu bestreiten. Für die Drogengeschäfte nutzte er ein EncroChat-Mobiltelefon. In zwei Fällen unterstützte er lediglich den Handel eines anderen. Im Einzelnen:

Vor dem 11. und am 28. April 2020 verkaufte er 250 Gramm Crystal (Fall II.2) und 500 Gramm Crystal (Fall II.3) an einen gesondert Verfolgten. Am 17. Mai 2020 bestellte der Angeklagte bei einem Dritten 500 Gramm Crystal (Fall II.5). Am 21. Mai 2020 verkaufte er an den gesondert Verfolgten 300 Gramm Crystal und am 29. Mai 2020 zudem 20 Gramm Kokain (Fall II.6). Die gehandelten Betäubungsmittel hatten „zumindest durchschnittliche Qualität“. In den Fällen II.2, II.3 und II.6 wurden die Betäubungsmittel an den Käufer übergeben und der Angeklagte erhielt den vereinbarten Kaufpreis. Außerdem unterstützte er am 15. April 2020 den Betäubungsmittelhandel eines Dritten mit zwei Kilogramm Crystal, indem er einen Teil des Kaufgeldes zum Käufer transportierte (Fall II.1). Im Auftrag dieses Dritten leitete der Angeklagte am 17. Mai 2020 Fotos von verpacktem Pflanzenmaterial und Marihuana-Dolden einer zum Handeltreiben vorgesehenen Gesamtmenge von 20 Kilogramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 1,5 Prozent THC an den potentiellen Abnehmer weiter (Fall II.4). In den beiden letztgenannten Fällen war der Angeklagte im Übrigen in den Handel nicht weiter eingebunden.

2. Das Landgericht hat die Taten rechtlich als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG (Fälle II.2, II.3, II.5 und II.6) und Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Fälle II.1 und II.4) gewürdigt. Die Strafen hat es jeweils dem - in den Beihilfefällen nach § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten - Strafrahmen des § 29a Abs. 1 BtMG entnommen und Einzelfreiheitsstrafen von sechs Monaten bis drei Jahren verhängt. Daraus hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sieben Monaten gebildet. In Höhe des Erlöses von 32.500 Euro aus den Taten II.2, II.3 und II.6 hat das Landgericht die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach §§ 73, 73c StGB angeordnet.

II.

Die Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Mit den Verfahrensrügen dringt er allerdings nicht durch. Sie sind aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

2. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge deckt hingegen Rechtsfehler im Schuldspruch in den Fällen II.1 und II.4 und bei der Strafzumessung in den Fällen II.2, II.3, II.5 und II.6 auf.

a) Die Verurteilung wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in den Fällen II.1 und II.4 hat keinen Bestand, weil der Vorsatz im Hinblick auf die nicht geringe Menge nicht tragfähig belegt ist.

aa) Die Strafbarkeit wegen Beihilfe nach § 27 Abs. 1 StGB setzt in objektiver Hinsicht eine von einem anderen vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttat sowie deren Förderung durch den Gehilfen voraus. Hinsichtlich der subjektiven Tatseite muss sich der Vorsatz des Gehilfen auf die Haupttat beziehen und sowohl die Verwirklichung der nach ihren wesentlichen Merkmalen oder Grundlagen hinreichend konkretisierten Tat des anderen als auch die Förderung dieser Tat durch einen eigenen Unterstützungsbeitrag umfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 4 StR 297/20).

bb) Das Landgericht hat zwar hinsichtlich beider Beihilfetaten festgestellt, dass der Angeklagte „mit Wissen und Wollen“ den „unerlaubten Betäubungsmittelhandel“ des „h.“ unterstützte. Dass er dabei wusste, oder es jedenfalls für möglich hielt, eine Haupttat zu fördern, die sich auf Betäubungsmittel in nicht geringer Menge bezog, wird jedoch in keiner Weise erörtert. Zur konkreten Vorstellung des Angeklagten enthält das Urteil keine Ausführungen. Ein hierauf gerichteter Vorsatz lag auch nicht aufgrund der festgestellten äußeren Umstände auf der Hand. Die beschriebenen Beihilfehandlungen implizieren für sich genommen keine - in wesentlichen Grundzügen konkretisierte - Wahrnehmung der Gesamtmenge der Drogen und der hieraus gegebenenfalls ableitbaren Wirkstoffmengen. Der Angeklagte war nach den Feststellungen nicht weiter in das Handelsgeschäft eingebunden. Im Fall II.1 transportierte er lediglich einen Teil des Kaufgeldes, dessen Höhe nicht ersichtlich ist. Im Fall II.4 leitete er Fotos von nicht mengenmäßig eingeordnetem verpackten Pflanzenmaterial und Marihuana-Dolden an einen Dritten weiter.

b) Auch die Strafzumessung in den Fällen II.2, II.3, II.5 und II.6 enthält Rechtsfehler zulasten des Angeklagten, da der Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel nicht bestimmt worden ist, so dass der Strafausspruch nicht bestehen bleiben kann.

aa) Solcher Feststellungen bedarf es bei einer Betäubungsmittelstraftat regelmäßig. Auf den Wirkstoffgehalt kommt es neben Art und Menge der gehandelten Betäubungsmittel nicht nur für die Bestimmung einer nicht geringen Menge, sondern auch für die Strafrahmenwahl und die Strafzumessung im engeren Sinne an, weil dadurch der Schuldumfang der Tat und die Schuld des Täters maßgeblich bestimmt werden (vgl. BGH, Urteile vom 3. April 2008 - 3 StR 60/08 Rn. 4; vom 25. April 1990 - 3 StR 57/90, NStZ 1990, 395; Beschlüsse vom 23. März 2021 - 3 StR 53/21, NStZ 2023, 46; vom 5. Juni 2019 - 2 StR 287/18 Rn. 14; vom 7. Dezember 2011 - 4 StR 517/11, NStZ 2012, 339; vom 4. April 2006 - 3 StR 91/06 Rn. 3; vom 23. Mai 2006 - 3 StR 142/06). Dies gilt auch in Fällen, in denen es lediglich zum Ankauf der Betäubungsmittel kam und eine spätere Auslieferung nicht festgestellt ist (hier Fall II.5), da insoweit das Vorstellungsbild des Angeklagten entscheidend ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Mai 2006 - 3 StR 142/06).

Dabei gilt: Stehen Betäubungsmittel für eine Untersuchung nicht zur Verfügung, so wie hier, muss das Tatgericht die Wirkstoffmenge oder den Wirkstoffgehalt unter Berücksichtigung der anderen hinreichend sicher festgestellten Tatumstände (wie Herkunft, Preis, Aussehen, Verpackung, Beurteilung durch Tatbeteiligte, Handelsstufe), gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes, zahlenmäßig schätzen. Eine Umschreibung in allgemeiner Form, etwa „durchschnittliche Qualität“ reicht nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2021 - 3 StR 53/21, NStZ 2023, 46 f.; vom 23. März 2021 - 3 StR 20/21; 13 14 15 vom 26. Mai 2020 - 2 StR 44/20 Rn. 6; vom 14. Mai 2008 - 2 StR 167/08, NStZ-RR 2008, 319, jeweils mwN). Dies hat das Landgericht nicht beachtet.

bb) Da das Landgericht sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch der konkreten Strafzumessung strafschärfend bewertet hat, dass in jedem Fall die nicht geringe Menge um ein Vielfaches überschritten wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht.

cc) Auf den Schuldspruch wirkt sich dieser Fehler nicht aus, da sich aus den festgestellten Mengen zweifelsfrei ergibt, dass der Angeklagte mit Betäubungsmitteln in jeweils nicht geringer Menge im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG Handel trieb (hinsichtlich der Orientierungswerte zu Wirkstoffgehalten: vgl. Übersichten Patzak/Volkmer BtMG, 10. Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 330, 336).

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen II.1 und II.4 und des Strafausspruchs in allen übrigen Fällen führt zum Wegfall der hierfür verhängten Einzelstrafen, was dem Gesamtstrafausspruch die Grundlage entzieht.

Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen in den Fällen II.1 und II.4 sowie die Feststellungen im Strafausspruch in den Fällen II.2, II.3, II.5 und II.6 können bestehen bleiben, da sie von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen sind.

4. Der Senat weist darauf hin, dass das neue Tatgericht auch im Fall II.1, sofern es den Angeklagten erneut wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt, Feststellungen zum Wirkstoffgehalt der gehandelten Betäubungsmittel zu treffen haben wird. Denn bei der Strafzumessung in Beihilfefällen ist die Feststellung der Wirkstoffmenge für die Bestimmung der Schwere der Haupttat erforderlich, auch wenn dem Gewicht des Tatbeitrags des Gehilfen die maßgebliche Bedeutung zukommt (BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2020 - 1 StR 211/20; vom 19. März 2003 - 2 StR 530/02).

B. Revision der Staatsanwaltschaft

Die vom Generalbundesanwalt vertretene, zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hat überwiegend Erfolg, weil der Freispruch im Fall 3 der Anklageschrift keinen Bestand hat und die Strafzumessung in den Fällen II.4 und II.6 der Urteilsgründe Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten aufweist.

I.

1. Soweit der Angeklagte verurteilt wurde, ist die Revision wirksam auf den Strafausspruch beschränkt (§ 344 Abs. 1 StPO). Eine untrennbare Verknüpfung der Feststellungen zum Schuld- und Strafausspruch, die eine getrennte Prüfung nicht erlauben würde, besteht auch im Fall II.6 nicht. Denn angesichts der - insoweit rechtsfehlerfrei - bereits festgestellten großen Menge des gehandelten Crystals und Kokains mit mindestens durchschnittlichen Wirkstoffgehalten ist die rechtliche Einordnung der Tat nicht tangiert.

2. Die Strafzumessung im Fall II.4 der Urteilsgründe hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Feststellung zum Wirkstoffgehalt des Marihuanas als bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt auf einer lückenhaften Beweiswürdigung beruht.

Das Landgericht hat einen Mindestwirkstoffgehalt des nicht sichergestellten Marihuanas in Höhe von 1,5 % geschätzt und dabei angenommen, dass es sich um ein Betäubungsmittel von „zumindest durchschnittlicher Qualität“ handele. Die Grundlagen seiner Schätzung hat es dagegen nicht nachvollziehbar mitgeteilt (vgl. zu den Anforderungen BGH, Beschluss vom 18. März 2020 - 1 StR 600/19 Rn. 6 f.). Es hat allein in Rechnung gestellt, dass es ausweislich des Inhalts ausgetauschter Chats keine Reklamationen gegeben habe, was für die Brauchbarkeit der Ware spreche. Soweit es im Übrigen die Auffassung vertreten hat, dass keine „sonstigen Beweise bzw. Indizien“, die zur Bestimmung der Qualität des Betäubungsmittels zugrunde gelegt werden könnten, existierten, wird dies durch den Urteilsinhalt widerlegt. Danach tauschten die Tatbeteiligten vom gehandelten Marihuana Fotos aus, auf denen „augenscheinlich Marihuana-Dolden“, mithin Blütenstände, zu sehen waren. Angesichts dessen, dass Cannabisblüten statistisch betrachtet einen höheren Wirkstoffgehalt aufweisen als bloße Gemische aus Blättern und Blüten (vgl. Patzak/Volkmer, BtMG, 10. Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 318), stellte dieser Punkt ein gewichtiges Indiz für die Bewertung der Betäubungsmittelqualität dar, der nicht unerörtert bleiben durfte. Einen weiteren Anhaltspunkt, der Rückschlüsse auf die Qualität und den Wirkstoffgehalt des Marihuanas zugelassen hätte, bietet die festgestellte besonders große Handelsmenge von 20 Kilogramm, die für einen Handel auf Zwischenhändlerebene und damit indiziell einen höheren Wirkstoffgehalt spricht (vgl. zur Handelsstufe als Kriterium für die Schätzung: BGH, Beschlüsse vom 15. September 2020 - 3 StR 205/20; vom 7. Dezember 2011 - 4 StR 517/11, NStZ 2012, 339; vom 12. Mai 2016 - 1 StR 43/16, NStZRR 2016, 247 f.). Soweit das Landgericht ohne Begründung den gezahlten Kaufpreisen bei der Schätzung des Wirkstoffgehaltes keinerlei Bedeutung beigemessen hat, hat es verkannt, dass die Höhe des Kaufpreises einen Anhalt für die Qualität und damit auch den Wirkstoffgehalt darstellen kann (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 - 2 StR 167/08; Patzak/Volkmer BtMG, 10. Aufl., vor §§ 29 ff. Rn. 312, 315).

Die rechtsfehlerhafte Bestimmung des Wirkstoffgehalts führt zur Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugrundeliegenden Feststellungen. Der Schuldspruch bleibt hiervon unbeeinflusst, weil angesichts der Handelsmenge jedenfalls die nicht geringe Menge belegt ist.

3. Zudem leidet die Strafzumessung im Fall II.6 unter einem durchgreifenden Rechtsfehler.

a) Nach § 264 StPO muss das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, unter allen rechtlichen Gesichtspunkten aburteilen. Das Tatgericht ist verpflichtet, den Unrechtsgehalt der Tat voll auszuschöpfen, sofern keine rechtlichen Hindernisse im Wege stehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 23. August 2017 - 2 StR 456/16; NStZ 2018, 347, 350 mwN). Zur Tat im prozessualen Sinne gehört - unabhängig davon, ob Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt - das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse (BGH, Urteile vom 17. März 2004 - 5 StR 314/03; vom 8. Dezember 2021 - 5 StR 236/21; NStZ 2022, 409 f.).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht, weil das Landgericht den Schuldumfang der Tat nicht erschöpfend gewürdigt hat.

aa) Nach der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage ist dem Angeklagten vorgeworfen worden, zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor dem 23. Mai 2020 bei einem Dritten mindestens 100 Gramm Kokain mindestens durchschnittlicher Qualität bestellt zu haben, um dieses gewinnbringend zu verkaufen, wobei der gesondert Verfolgte Re. beim Angeklagten etwa eine Woche später 20 Gramm Kokain bestellt und von ihm am 1. Juni 2020 erhalten habe.

bb) Das Landgericht hat lediglich den Verkauf von 20 Gramm Kokain (neben 300 Gramm Crystal) an den gesondert Verfolgten Re. - insoweit rechtsfehlerfrei - festgestellt. Den weitergehenden Tatvorwurf hat es nicht erkennbar geprüft und hierzu keine Feststellungen getroffen oder sich sonst dazu verhalten.

c) Wesentlich größere Einkaufsund damit Handelsmengen, auch wenn sie mit den festgestellten Verkaufshandlungen eine Bewertungseinheit bilden, können sich auf den Schuldumfang und damit auf die Strafzumessung auswirken, so dass nicht auszuschließen ist, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht.

Der Aufhebung von Feststellungen bedurfte es nicht, da sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind.

4. Die Aufhebung der Einzelstrafen in den Fällen II.4 und II.6 entzieht dem Gesamtstrafausspruch die Grundlage.

II.

Auch der Freispruch im Fall 3 der Anklage hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Staatsanwaltschaft hat mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift dem Angeklagten vorgeworfen, am 4. April 2020 von dem gesondert Verfolgten Ri. mindestens ein Kilogramm Crystal zumindest durchschnittlicher Qualität bestellt und später erhalten zu haben, um dieses gewinnbringend an Abnehmer im Stadtgebiet von D. zu verkaufen.

Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es im Zusammenhang mit Fall II.1 der Urteilsgründe festgestellt hat, dass der gesondert Verfolgte EncroChat-Nutzer „h.“ im Zeitraum vom 2. bis 6. April 2020 im Besitz des vom Angeklagten verwendeten EncroChat-Mobiltelefons war und unter dessen Kennung bei offengelegtem Nutzerwechsel agierte. Eine eindeutige Zuordnung der Tat sei deshalb auch auf der Grundlage der betreffenden Chats nicht möglich.

2. Das Urteil entspricht nicht den Anforderungen, die gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellen sind.

a) Spricht das Tatgericht einen Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei, muss es regelmäßig in einer geschlossenen Darstellung die als erwiesen angesehenen Tatsachen feststellen, bevor es in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden konnten. Denn es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 6. Juli 2022 - 5 StR 170/22; vom 4. Februar 2021 - 4 StR 457/20; vom 27. Februar 2020 - 4 StR 568/19, NStZ 2021, 121, 122).

b) Diesem Maßstab wird das Urteil nicht im Ansatz gerecht. Feststellungen zu den als erwiesen angesehenen Tatsachen - etwa zu den näheren Umständen der Tat oder zur Identität des EncroChat-Nutzers „h. “, die gegebenenfalls Rückschlüsse auf einen vom Angeklagten abweichenden Besteller bei der angeklagten Tat zuließen - fehlen vollständig. Zur Begründung wird allein auf den zeitweiligen Besitz des Nutzers „h.“ am EncroChat-Mobiltelefon des Angeklagten bei der Tat im Fall II.1 der Urteilsgründe abgestellt. Auf dieser Grundlage kann der Senat die Schlussfolgerung des Landgerichts, die Täterschaft des Angeklagten sei nicht nachzuweisen, nicht überprüfen.

3. Soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist, ist die Aufhebung der Feststellungen geboten, weil er das Urteil nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte.

III.

1. Soweit das Landgericht dem Zeitablauf zwischen den Taten und dem Urteil „von mehr als eineinhalb Jahren“ eine wesentliche strafmildernde Bedeutung beigemessen hat, sieht der Senat Anlass auf Folgendes hinzuweisen:

Zwar gehört der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zu den Umständen, die nach am Einzelfall orientierten Maßgaben als sonstiger Aspekt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB Einfluss auf die Bemessung der Strafe gewinnen können, da der Ablauf der Zeit zwar nicht die Tatschuld mindert, aber Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen kann, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 - GSSt 2/17, BGHSt 62, 184 Rn. 25, 30). Deshalb führt ein langer Zeitablauf nach der Tat nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt, sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH aaO).

Angesichts der zeitlichen Abläufe (Tatzeitraum April bis Mai 2020, Anklageerhebung 8. Juni 2021, Beginn der Hauptverhandlung 5. August 2021, Urteil 22. März 2022) ist ein nach diesen Grundsätzen strafmildernd wirkender langer Zeitablauf bislang nicht dargetan.

2. Demgegenüber hält sich die Berücksichtigung der Dauer der Untersuchungshaft im Hinblick darauf, dass der Angeklagte in dieser Zeit Vater geworden ist und die Haft für ihn mit großen Einschränkungen und Belastungen verbunden war, noch im Rahmen des tatgerichtlichen Ermessens (zum Maßstab vgl. BGH, Urteile vom 20. Juli 2022 - 5 StR 29/22 Rn. 10; vom 25. Oktober 2018 - 4 StR 312/18; vom 14. Juni 2006 - 2 StR 34/06).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 459

Bearbeiter: Christian Becker