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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 799

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 361/21, Urteil v. 11.05.2022, HRRS 2022 Nr. 799


BGH 5 StR 361/21 - Urteil vom 11. Mai 2022 (LG Lübeck)

Heimtücke (Arg- und Wehrlosigkeit; Fehlen von schweren Verletzungen und Fluchtversuchen als Beweisanzeichen; offene Feindseligkeit; Zeitspanne zwischen Erkennen der Gefahr und dem Angriff).

§ 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Fehlen von Kampf- oder Abwehrverletzungen kann schon für sich genommen ein gewichtiges Beweisanzeichen für das Vorliegen von Heimtücke sein. Das gilt erst recht, wenn das Opfer beim Beibringen schwerer Verletzungen (hier: mit einer Stichwaffe) bewegungslos blieb und keine Fluchtversuche unternahm. Sind solche Umstände festgestellt, muss sich das Tatgericht hiermit regelmäßig bei der Prüfung der Voraussetzungen der Heimtücke auseinandersetzen.

2. Auch ein unmittelbar dem Zustechen vorausgehendes Anpacken des Opfers am Kragen ist prinzipiell mit einem heimtückischen Handeln vereinbar. Heimtücke erfordert kein „heimliches“ Vorgehen. Das Opfer kann auch dann arglos (und deshalb wehrlos) sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 3. Juni 2021 mit den Feststellungen - mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Tatgeschehen - aufgehoben.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die Revision des Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Dagegen wenden sich die Nebenkläger mit ihren auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts - der Nebenkläger S. C. zudem auf Verfahrensrügen - gestützten Revisionen, die vom Generalbundesanwalt bezogen auf die sachlich-rechtlichen Beanstandungen vertreten werden. Die Rechtsmittel haben Erfolg. Die mit einer Verfahrensrüge und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten bleibt dagegen erfolglos.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte tötete am 21. Oktober 2020 um 22 Uhr oder wenige Minuten später den I. C. auf einem Spielplatz in G. mit 27 Messerstichen. Dem lag folgendes Geschehen zugrunde:

Der Angeklagte und der später Getötete kannten sich von Jugend an und waren befreundet. Seit ihrer Schulzeit veräußerten sie gemeinschaftlich Marihuana in ihrem Heimatort G., wobei C. die Rolle des Weisungsgebers gegenüber dem Angeklagten einnahm. Wie allgemein im Ort bekannt, trafen sie sich regelmäßig zur Planung und Abwicklung der Betäubungsmittelgeschäfte nach 21 Uhr auf einem Spielplatz der Stadt, dem späteren Tatort.

Wegen Geldforderungen gegen den Angeklagten aus dem gemeinsamen Betäubungsmittelhandel in Höhe von 1.400 Euro, einer von C. darüber hinaus verlangten Einzahlung eines Bargeldbetrages in Höhe von 700 Euro auf sein Bankkonto und vom Angeklagten zu beschaffender neuer Betäubungsmittel sowie im Zusammenhang mit einer von C. angestrebten und vom Angeklagten der Wahrheit zuwider in Aussicht gestellten beruflichen Zusammenarbeit in der Baubranche gab es zwischen ihm und C. einige Tage vor dem und unmittelbar am Tattag einen regen Nachrichtenaustausch über ein verschlüsseltes Messenger-Programm („Wickr“-Chat). Dabei vertröstete der Angeklagte den zunehmend wütend werdenden C. auf dessen eindringliche Nachfragen immer wieder, erfand Ausreden und übersandte schließlich ein Foto einer von ihm gefälschten Quittung über die angebliche Einzahlung eines Bargeldbetrages von 700 Euro am Vortag der Tat an C., der jedoch dem Angeklagten misstraute.

Durch sein über längere Zeit hinweg aufrechterhaltenes Lügenkonstrukt hatte sich der Angeklagte schließlich in eine „ausweglose Situation“ manövriert. Ihm war bewusst, dass er die von C. gestellten Forderungen entgegen allen Beteuerungen weder erfüllt hatte noch erfüllen könnte. Unter diesen von „vornherein konfliktbehafteten“ Voraussetzungen kam es am 21. Oktober 2020 gegen 22 Uhr zu einer mindestens eine dreiviertel Stunde zuvor verabredeten Zusammenkunft zwischen beiden auf dem als Treffpunkt dienenden Spielplatz, wobei es nahelag, dass während des Treffens die Wahrheit ans Licht kommen würde. Der Angeklagte stand deshalb unter großem emotionalen Druck. Gegenüber seiner Freundin, welche den Drogenhandel des Angeklagten ablehnte, hatte er zuvor in einer Chat-Nachricht erklärt, dass es das „letzte Treffen“ zwischen ihm und seinem „Geschäftspartner“ werden solle. Zudem bewaffnete er sich mit einem sonst „stets offen sichtbar“ in seiner Wohnung liegenden Schlagringmesser.

Binnen weniger Minuten nach Ankunft am vereinbarten Ort stach der Angeklagte mit Tötungswillen dem in diesem Moment regungslosen und keine Fluchtversuche unternehmenden C. 27 Mal mit dem Schlagringmesser wuchtig in Rücken, Nacken und Schädel, wodurch Schädelknochen und Schulterblatt durchstochen, mehrere Rippen stark beschädigt sowie Lunge und eine Niere verletzt wurden. Das Opfer verstarb durch inneres und äußeres Verbluten. Die Leiche wurde am nächsten Tag gegen Mittag von einem Anwohner auf dem Spielplatz gefunden.

II.

Die Strafkammer hat die Tat als Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB gewertet; Mordmerkmale im Sinne des § 211 StGB hat sie nicht festgestellt. Insbesondere hat sie sich von einer heimtückischen Tatbegehung nicht zu überzeugen vermocht.

A. Revisionen der Nebenkläger I.

Die Revisionen der Nebenkläger sind zulässig; dies gilt auch für die Rechtsmittel der Nebenkläger A. C., Sa. C., M. C. und Mo. C. Die sachgerechte Auslegung der Revisionsschrift (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2019 - 5 StR 107/19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 344 Rn. 10) ergibt noch hinreichend, dass sie die Verletzung sachlichen Rechts in Bezug auf die vom Landgericht verneinten Voraussetzungen des § 211 StGB rügen (§ 344 Abs. 2 StPO).

II.

Die Revisionen sind begründet. Die Ablehnung des Mordmerkmals der Heimtücke erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil es bereits an einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage fehlt, anhand derer das Revisionsgericht den Schluss, das Mordmerkmal der Heimtücke sei nicht verwirklicht worden, überprüfen kann. Dies gilt für jeden der von der Strafkammer erwogenen alternativen Geschehensabläufe. Zudem zeigt die rechtliche Würdigung des Urteils, dass das Landgericht von einem zu engen Begriff der Heimtücke ausgegangen ist. Im Einzelnen:

1. a) Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes, mithin argloses Opfer überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1957 - GSSt 3/57, BGHSt 11, 139, 143 f.; Urteil vom 6. Januar 2021 - 5 StR 288/20 Rn. 28 mwN). Ein solches Vorgehen des Angeklagten hat das Landgericht nicht tragfähig ausgeschlossen.

b) Es hat - dem Gutachten der rechtsmedizinischen Sachverständigen folgend - festgestellt, dass sich das Opfer, als der Angeklagte zustach, „nicht bewegte“: Es sei auszuschließen, dass es habe fliehen wollen.

Damit sei ein Tathergang vereinbar, bei dem der Angeklagte das Opfer zur Begrüßung umarmt, dabei mit dem linken Arm fixiert und unvermittelt mit der rechten Hand zugestochen habe. Gegen eine solche Umarmungssituation spreche jedoch die Gefahr einer Selbstverletzung des Angeklagten. Möglich sei auch, dass er sein Opfer durch einen festen Griff am Kragen der eng anliegenden Jacke während des Zustechens festgehalten habe, wobei nach Ansicht der Strafkammer bei dieser Variante „Heimtücke nicht vorläge“. Schließlich sei denkbar, dass das Opfer das Messer wahrgenommen habe und dennoch nicht flüchtete, weil es vor Schreck in eine „Schockstarre“ geraten sei, oder das „Zeigen des Messers“ nicht als ernsthafte Bedrohung seitens seines langjährigen Freundes, sondern als Imponiergehabe interpretiert habe.

2. Die getroffenen Feststellungen erweisen sich als defizitär.

a) Allerdings hat die Strafkammer zunächst zutreffend erkannt, dass bei einer Stichzufügung in einer „Umarmungssituation“ die Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke erfüllt wären. Eine aus ihrer Sicht hiergegen sprechende Selbstverletzungsgefahr ist aber nicht konkret dargelegt. Jedenfalls würde eine solche Gefahr bei dem - wie festgestellt mit direktem Tötungsvorsatz handelnden - Angeklagten diese Tatvariante für sich genommen nicht ausschließen.

b) Hinsichtlich der übrigen für möglich gehaltenen Tatvarianten hat das Landgericht nur unzureichende Feststellungen zu den objektiven Umständen der Tatausführung getroffen, es fehlen etwa solche zum Kräfteverhältnis zwischen Angeklagtem und Opfer, dessen Verteidigungs-, Ausweich- und Fluchtmöglichkeiten sowie den örtlich-zeitlichen Gegebenheiten. Diese Feststellungen wären aber erforderlich gewesen, um die Situation des Opfers bei Beginn des ersten Angriffs und seine Abwehrmöglichkeiten einschätzen zu können. Dem Urteil ist zudem nicht zu entnehmen, ob bei dem Opfer Kampf- oder Abwehrverletzungen festgestellt wurden. Das Fehlen solcher kann schon für sich genommen ein gewichtiges Beweisanzeichen für das Vorliegen von Heimtücke sein (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2021 - 3 StR 316/20 Rn. 15). Erst recht gilt dies hier mit Blick auf die festgestellte Bewegungslosigkeit des Opfers beim Beibringen der schweren Stichverletzungen und fehlende Fluchtversuche, womit sich das Landgericht im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung (BGH, Beschluss vom 18. November 2021 - 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288, 290) hätte auseinandersetzen müssen.

c) Darüber hinaus mangelt es an Feststellungen zu einem Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten. Die vom Landgericht (nur im Rahmen der Strafzumessung) zugrunde gelegte Spontaneität des Tatentschlusses stünde einem solchen jedenfalls nicht entgegen (BGH, Urteile vom 11. November 2020 - 5 StR 124/20; vom 13. November 2019 - 5 StR 466/19 Rn. 14).

3. Weitergehende Feststellungen waren auch nicht mit Blick auf die oben genannten, von der Strafkammer erwogenen Ausführungsvarianten von vornherein entbehrlich. Denn entgegen ihrer Annahme schließt keine der in Betracht gezogenen Möglichkeiten des Tathergangs eine heimtückische Tötung aus. Die hieran anknüpfenden Wertungen lassen vielmehr besorgen, dass sie von einem zu engen Verständnis des Mordmerkmals der Heimtücke ausgegangen ist.

a) Denn auch ein unmittelbar dem Zustechen vorausgehendes Anpacken des Opfers am Kragen wäre mit einem heimtückischen Handeln vereinbar. Heimtücke erfordert kein „heimliches“ Vorgehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos (und deshalb wehrlos) sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (BGH, Beschluss vom 28. Juni 2016 - 3 StR 120/16, NJW 2016, 2899). Dies hat das Landgericht verkannt und ohne nähere Begründung eine heimtückische Begehungsweise verneint.

b) Gleiches gilt im Ergebnis auch in Bezug auf die Hypothesen, das Opfer könne in eine Schockstarre geraten sein oder (zunächst) die Gefahr nicht ernst genommen und deshalb nicht mit einem Angriff gerechnet haben. Ob ihm bei einer solchen Sachlage zu Beginn der ersten Tathandlung tatsächlich noch Abwehrmöglichkeiten zur Verfügung standen, kann der Senat aufgrund unzureichender Feststellungen nicht beurteilen.

c) Ungeachtet dessen muss das Tatgericht seiner Wertung nur tatsachenfundierte Varianten der Tatausführung zugrunde legen. Weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst ist es geboten, zu Gunsten eines Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis - wie hier - keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 20. Januar 2021 - 2 StR 315/20 Rn. 15; vom 26. August 2020 - 2 StR 587/19 Rn. 8; vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116 Rn. 12; vom 9. Januar 2020 - 3 StR 288/19 Rn. 19; vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 37/18, NStZ-RR 2019, 57, 58).

Insoweit hat das Landgericht nicht erkennbar bedacht, dass ausweislich der Urteilsgründe die Stiche das Opfer vermutlich vollständig von hinten trafen (in Nacken, Rücken und Kopf), was für dessen Ãœberrumpelung und gegen die Tatvarianten eines offen geführten Angriffs sprechen könnte. Vorschnell hat es zudem die Möglichkeit einer geplanten Tat (vgl. BGH, Beschluss vom 26. März 2020 - 4 StR 134/19, NJW 2020, 2421, 2423) ausgeschlossen, indem es allein auf das seiner Ansicht nach ungeschickte Vorgehen des Angeklagten abgestellt hat (Wahl des Tatortes als den stadtbekannten Treffpunkt beider, Verwendung des ihm zuzuordnenden Schlagringmessers, Zurücklassen des Smartphones des Opfers am Tatort). Demgegenüber hat es motivationale und konstellierende Umstände, die für eine Tatplanung sprechen könnten - die „ausweglose Situation“ des Angeklagten, zeitlicher Vorlauf, Treffen an einem zu dieser Tages- und Jahreszeit möglicherweise kaum frequentierten Ort, Bewaffnung mit dem Schlagringmesser und Erklärung gegenüber der Freundin, dass es das „letzte Treffen“ werden würde - weder erörtert noch der erforderlichen Gesamtwürdigung zugeführt.

4. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Sache bedarf deshalb erneuter Verhandlung und Entscheidung. Auf die erhobenen Verfahrensrügen kommt es somit nicht mehr an. Der Senat hebt die Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Tatgeschehen auf, um dem neuen Tatgericht umfassende und widerspruchsfreie eigene Feststellungen zum Ausnutzungsbewusstsein zu ermöglichen. Nicht im Widerspruch stehende Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, insbesondere zur Heimtücke, sind möglich und auch geboten.

B. Revision des Angeklagten

Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.

Die Verfahrensrüge dringt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch.

Die Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil auf. Die auf insoweit rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 - 5 StR 14/20, NJW 2020, 2741) - den Schuldspruch. Die Strafzumessung ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 799

Bearbeiter: Christian Becker