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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 219

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 587/19, Urteil v. 26.08.2020, HRRS 2021 Nr. 219


BGH 2 StR 587/19 - Urteil vom 26. August 2020 (LG Gießen)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit; überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit; ausufernde Anwendung des Zweifelssatzes).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre.

2. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

3. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung schließlich dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind. Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit, sondern ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt.

4. Ebenso wie Einlassungen eines Angeklagten, für deren Richtigkeit es keine zureichenden Anhaltspunkte gibt und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und den Feststellungen zugrunde zu legen sind, nur weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt, ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 9. Mai 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten freigesprochen. Die hiergegen gerichteten und auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg.

I.

Die zugelassene Anklage legt den Angeklagten zur Last, als Mittäter an zwei Raubüberfällen auf Geldtransporter beteiligt gewesen zu sein. Am 22. März 1999 (Fall 1 der Anklage) hätten sie ein Werttransportfahrzeug mittels eines VW-Transporters blockiert und sodann mit einer Langwaffe auf das Fahrzeug geschossen. Hierdurch hätten sie einen der Fahrer verletzt und beide Fahrer dazu gebracht, das Fahrzeug zu verlassen und sich auf den Boden zu legen. Die maskierten Angeklagten hätten daraufhin das im Fahrzeug befindliche Bargeld in Höhe von rund 290.000 DM an sich genommen und seien zu Fuß geflüchtet, wobei der Angeklagte M. die bei der Tat getragene Sturmhaube verloren habe. In der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 2002 (Fall 2 der Anklage) hätten die Angeklagten mit unbekannt gebliebenen Mittätern ein gepanzertes Sicherheitsfahrzeug in der Gemarkung A. durch einen quer gestellten Lkw, den die Täter zuvor gestohlen hatten, aufgehalten und durch zwei weitere, ebenfalls zuvor für die Tatbegehung gestohlene Fahrzeuge von hinten gerammt und blockiert. Einer der maskierten Täter habe aus einer Maschinenpistole Schüsse auf das Fahrzeug abgegeben, der Einsatz einer von den Tätern mitgeführten Panzerfaust sei angedroht worden. Die beiden Fahrer des Sicherheitsfahrzeugs seien so zum Verlassen der Fahrerkabine gebracht und sodann am Boden in Bauchlage gefesselt worden. Die Täter hätten die im Sicherheitsfahrzeug befindlichen Geldbehältnisse mit insgesamt 460.000 € an sich genommen und seien in unbekannte Richtung geflüchtet.

II.

Die Strafkammer hat die Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Sie hat festgestellt, dass sich die Überfälle auf die Geldtransporter wie in der Anklageschrift geschildert ereigneten; die am ersten Tatort gefundene Sturmhaube wurde jedenfalls bei der Tatbegehung verwendet. Die Strafkammer nimmt ferner an, dass bei der Spurensicherung an zwei bei der zweiten Tat zum Einsatz gekommenen Fahrzeugen Partikel mit DNA der Angeklagten gefunden wurden. Von einer „Tatbegehung durch die Angeklagten“ hat sie sich indes nicht „sicher“ zu überzeugen vermocht.

III.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg. Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Ãœberzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179 mwN). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (BGH, aaO mwN). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Ãœberlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793 mwN). Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung schließlich dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind. Voraussetzung für die Ãœberzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit, sondern ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 29. Oktober 2003 - 5 StR 358/03; vom 14. September 2017 - 4 StR 45/17 Rn. 14 jeweils mwN).

2. Gemessen daran begegnet die Beweiswürdigung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Hinsichtlich der zweiten Tat hat sich die Strafkammer - sachverständig beraten - davon überzeugt, dass bei der Untersuchung von Spurenfolien aus einem der Rammfahrzeuge sowie aus dem mutmaßlichen Fluchtfahrzeug Partikel gefunden worden waren, die der DNA der Angeklagten zuzuordnen sind. Indes sei die Spurenlage „problematisch“, da das Rammfahrzeug „über zwei Wochen vor der verfahrensgegenständlichen Tat entwendet“ worden und „innerhalb dieser zwei Wochen ein mehrfacher Wechsel des Gewahrsamsinhabers denkbar“ sei. Es sei grundsätzlich auch nicht ausgeschlossen, dass die DNA der Angeklagten außerhalb dieses Zeitraums in das Rammfahrzeug gelangt sei, da es sich um ein bereits vor über zehn Jahren vor der Tat zugelassenes Fahrzeug gehandelt habe. Hinsichtlich des anderen Fahrzeugs sei es „nicht unwahrscheinlich“, dass dieses zur Flucht genutzt worden sei, dies stehe jedoch „auch in einer Gesamtschau mit der Spurenlage nicht sicher fest“, auch insoweit bestehe zudem die „Möglichkeit der Nutzung“ außerhalb des Zeitraums („ab Erstzulassung“) zwischen dessen Diebstahl und der angeklagten Tat.

b) Diese Würdigung des Ergebnisses der DNA-Untersuchung (zu den Darstellungsanforderungen vgl. BGH, Urteil vom 6. Februar 2019 - 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427 f.; Beschluss vom 28. August 2019 - 5 StR 419/19 Rn. 2; Beschluss vom 20. November 2019 - 4 StR 318/19, NJW 2020, 350) verkennt den Anwendungsbereich des Zweifelssatzes. Die Annahme einer Nutzung der Fahrzeuge nach deren Diebstahl zum Zwecke der Tatbegehung durch andere als in die Tatplanung Eingeweihte ist eine bloße Vermutung. Dass die Angeklagten die Fahrzeuge vor deren Diebstahl genutzt haben könnten, ist ohne tatsächlichen Anhalt und rein spekulativ. Schon aus diesem Grund erweist sich die Beweiswürdigung als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Denn ebenso wie Einlassungen eines Angeklagten, für deren Richtigkeit es keine zureichenden Anhaltspunkte gibt und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und den Feststellungen zugrunde zu legen sind, nur weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. April 2007 - 1 StR 159/07, BGHSt 51, 324, 325; Senat, Urteil vom 28. Januar 2009 - 2 StR 531/08, NStZ 2009, 285; KK-StPO/Ott, 8. Aufl., StPO § 261 Rn. 68, 90), ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. etwa Senat, Urteil vom 22. September 2016 - 2 StR 27/16 Rn. 26 mwN).

c) Zudem erweist sich die Beweiswürdigung als lückenhaft. Das angefochtene Urteil lässt besorgen, dass der Strafkammer bei der „Gesamtbetrachtung der Indizien“ wesentliche für die Täterschaft der Angeklagten sprechende Beweisanzeichen aus dem Blick geraten sind, namentlich ein anonymer Hinweis, der konkret die beiden Angeklagten als Täter benannt hatte, und die Äußerung des Angeklagten S. bei seiner Festnahme (in Kenntnis beider verfahrensgegenständlicher Vorwürfe), er habe nicht gedacht, dass ihn seine Vergangenheit einhole.

d) Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern. Der Senat kann nicht ausschließen, dass auch die Beweiswürdigung zum ersten Fall der Anklage, hinsichtlich dessen die Dichte der Beweisanzeichen für sich genommen geringer ist, vom rechtsfehlerhaften Freispruch der Angeklagten im zweiten Fall beeinflusst ist, zumal die Strafkammer selbst die Parallelen in der Tatbegehung als ein für die Täterschaft beider Angeklagten sprechendes Indiz angesehen hat.

IV.

Das freisprechende Urteil kann daher keinen Bestand haben. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 219

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner