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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 12

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 466/19, Urteil v. 13.11.2019, HRRS 2020 Nr. 12


BGH 5 StR 466/19 - Urteil vom 13. November 2019 (LG Bremen)

Mord (Ausnutzungsbewusstsein bei Heimtücke; Ableitung aus dem objektiven Tatgeschehen; spontane Tat; Erkenntnis des Bedeutungsgehalts der Tatsituation; heftige Gemütsregung; niedrige Beweggründe; Maßgeblichkeit der inländischen Rechtsordnung; Ansprechen einer Frau durch anderen Mann als Tötungsmotiv); Beweiswürdigung (Beweiswert der gegenüber einem Sachverständigen abgegebenen Einlassung des in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten).

§ 211 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für das zur Bejahung des Mordmerkmals der Heimtücke erforderliche Ausnutzungsbewusstsein gilt (vgl. zum Ganzen zuletzt auch BGH HRRS 2019 Nr. 1258):

a) Es ist ausreichend, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen.

b) Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt. Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat.

c) Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontaneität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angeklagten nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Maßgeblich sind die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit.

2. Mit den Werten des durchweg auf Gleichberechtigung und gegenseitige personelle Achtung angelegten deutschen Rechts ist es unvereinbar, das Ansprechen einer Frau durch einen anderen Mann auf der Grundlage einer Art von „Besitzanspruch“ als schwere Provokation auszulegen. Für ein solches, nach den Maßstäben der hiesigen Rechtsgemeinschaft somit harmloses Tun einen anderen Menschen zu töten, stellt wegen des eklatanten Missverhältnisses zwischen Anlass und Tat - vorbehaltlich der vorzunehmenden Gesamtwürdigung - grundsätzlich einen niedrigen Beweggrund dar.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers I. betreffend den Angeklagten A. wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 26. Februar 2019

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

soweit dieser Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,

im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.

Aufrechterhalten bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen und zum Tötungsvorsatz, ausgenommen diejenigen zu einer vom Nebenkläger vor der Tat geäußerten Beleidigung, die aufgehoben werden.

Die weitergehende Revision betreffend diesen Angeklagten und die Revision betreffend den Angeklagten T. werden verworfen.

Der Nebenkläger hat die durch sein Rechtsmittel dem Angeklagten T. entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. d) Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die übrigen Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die Revision des Angeklagten A. gegen das vorgenannte Urteil wird verworfen.

Er hat die Kosten seines Rechtsmittels und die hierdurch den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen Totschlags und wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Den Angeklagten T. hat es vom Vorwurf einer gemeinschaftlich mit A. begangenen gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers I. freigesprochen. Der Angeklagte A. wendet sich mit seiner Revision insgesamt gegen seine Verurteilung. Der Nebenkläger I. erstrebt mit seiner Revision die Verurteilung des Angeklagten A. wegen Mordversuchs und eine Verurteilung des Angeklagten T. wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Revision des Angeklagten A. bleibt erfolglos, während die Revision des Nebenklägers I. diesen Angeklagten betreffend überwiegend Erfolg hat und im Übrigen unbegründet ist.

I.

1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:

Der Angeklagte A., der mit dem Mitangeklagten T. unterwegs war, traf am 2. November 2017 seine 17-jährige Freundin Mo. in Bremen. Nach einem gemeinsamen Essen ging Mo. in einem Supermarkt einkaufen. Dort machte der ihr unbekannte Nebenkläger I. anlässlich eines versehentlichen „Beinahe-Remplers“ ihr gegenüber die Bemerkung, sie sei schön. Mo. berichtete dies dem Angeklagten A., der darüber in Wut geriet und die Sache mit dem Urheber dieser Äußerung „klären“ wollte. Zunächst sprach der Angeklagte einen anderen Kunden an. Als seine Freundin das Missverständnis aufklärte, entschuldigte sich der Angeklagte bei dem Angesprochenen höflich. Vor dem Geschäft zeigte Mo. schließlich auf I., der bereits die Straße überquert hatte und auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz, dem gegenüber gelegenen Lokal „Z “, war. A. ging mit T., der von der Vorgeschichte nichts mitbekommen hatte, über die Straße auf I. zu und fragte, was dieser gerade zu seiner Freundin gesagt habe. Dieser fragte zurück, „was los sei“. Als Mo. mit einem Kopfnicken I. nochmals identifiziert hatte, schlug A. ihm mit der Faust ins Gesicht. „Er war von dem Gedanken geleitet, seine Freundin vor solchen Ansprachen schützen zu müssen und demjenigen, der es wagte, seine Freundin anzusprechen und damit eine Grenze überschritt, diesen Grenzübertritt deutlich zu machen. Die Ansprache und das Kompliment stellten für den Angeklagten eine ausreichende Gefahr und vollständig ausreichenden Anlass für eine anzubahnende Auseinandersetzung dar.“ Nach Auffassung der Strafkammer konnte „nicht gänzlich ausgeschlossen“ werden, dass I. ihn zuvor mit den Worten: „Ich ficke deine Mutter, ich ficke deine Frau“ oder Ähnlichem beleidigt hatte.

Anschließend zog der Angeklagte A. ein Klappmesser mit 10 cm langer Klinge und stach mit bedingtem Tötungsvorsatz mehrfach auf I. s Oberkörper ein. Das Messer drang unterhalb der linken Brustwarze 4 cm und am Rücken links neben der Wirbelsäule 6 cm ein. Ein Stichversuch in den Oberbauch misslang. Am rechten Oberarm verursachte der Angeklagte A. eine Schnittverletzung. Andere wurden auf das Geschehen aufmerksam. Der Inhaber des Lokals „Z. “, der gerade mit Fensterputzen beschäftigt war, warf eine Flasche mit Putzmittel in T. s Richtung. Ein Passant nahm die zum Fensterputzen an das Lokal gestellte Aluminiumleiter, um sie gegen die Angeklagten einzusetzen. Diese ergriffen die Flucht. A. hatte erkannt, dass er seinen Angriff auf I. aufgrund des Eingreifens Dritter nicht weiter würde fortsetzen können (Fall 1 der Urteilsgründe).

Als die Angeklagten an einem nahe gelegenen Pizzageschäft vorbeiliefen, wurde der in dem Laden sitzende Sa. - ein weiterer Angestellter des Lokals „Z.“ - auf das Geschehen aufmerksam und begab sich nach draußen. Er versuchte, A. von hinten an die Schulter zu greifen und so an der Flucht zu hindern. Dieser stach mit dem noch in seiner Hand befindlichen Messer mit Wucht und bedingtem Tötungsvorsatz in Sa. Oberkörper ein. Der Stich traf das Herz. Sa. verstarb kurze Zeit später (Fall 2 der Urteilsgründe).

2. Die Schwurgerichtskammer hat den Angeklagten T. vom Vorwurf einer gemeinschaftlich mit A. begangenen gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers I. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Über die Anwesenheit von T. am Tatort hinaus habe sie keine weitergehenden Feststellungen treffen können. Belastende Angaben des Nebenklägers I. und eines Zeugen stünden mit früheren Angaben und dem objektiven Tatbild in Widerspruch. Detaillierte Angaben zum Verhalten von T. habe kein Zeuge machen können.

3. Die Tat zum Nachteil des Nebenklägers I. hat die Strafkammer nicht als versuchten Mord gewertet. Heimtücke liege nicht vor, weil trotz objektiv heimtückischen Handelns das Tatbild und die affektive Erregung des Angeklagten gegen das notwendige Ausnutzungsbewusstsein sprächen. Auch niedrige Beweggründe seien nicht gegeben.

II.

Die mit einer Verfahrens- und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten A. deckt keinen Rechtsfehler auf.

1. Die Verfahrensrüge betreffend die Befangenheit eines Dolmetschers ist unzulässig, weil entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht diejenigen Verfahrensumstände vorgetragen werden, die zur Prüfung des geltend gemachten Fehlers erforderlich wären.

2. Die Sachrüge ist unbegründet. Die Feststellungen beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung und tragen die Schuldsprüche. Die Strafzumessung ist ebenso wenig zu beanstanden. Die zweifelhafte Ablehnung von Mordmerkmalen im Fall 2 der Urteilsgründe (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts und BGH, Urteil vom 30. August 2012 - 4 StR 84/12, NStZ 2013, 337, 339 mwN) benachteiligt den Angeklagten nicht.

III.

Die Revision des Nebenklägers I. ist mit der Sachrüge - die nicht näher ausgeführte Verfahrensrüge ist unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) - teilweise erfolgreich.

1. Die Ablehnung der Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Nach Bejahung der objektiven Merkmale der Heimtücke hat die Schwurgerichtskammer das erforderliche Ausnutzungsbewusstsein mit nicht tragfähiger Begründung abgelehnt.

aa) Ausreichend ist, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteile vom 22. Mai 2019 - 2 StR 530/18, NStZ 2019, 520, und vom 9. Oktober 2019 - 5 StR 299/19). Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 580/17, NStZ 2019, 26). Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2019 - 5 StR 299/19). Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (BGH, aaO mwN). Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontaneität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angeklagten nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Maßgeblich sind die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit (BGH, aaO mwN).

bb) Diesem Maßstab wird die Ablehnung des Ausnutzungsbewusstseins nur teilweise gerecht, da die zugrundeliegende Würdigung Lücken aufweist.

(1) Als Argumente gegen die Annahme eines Ausnutzungsbewusstseins hat die Schwurgerichtskammer namentlich genannt, dass der aufgrund einer kombinierten Persönlichkeitsstörung affektiv labile Angeklagte, der in Krisensituationen Schwierigkeiten mit der Regulierung von Affekten habe und einen unflexiblen, unangepassten Denkstil pflege, aufgrund der von ihm als Provokation empfundenen Ansprache seiner Freundin und der möglicherweise nachfolgenden Beleidigung affektiv erregt gewesen sei und die Tat spontan begangen habe.

(2) Damit hat die Strafkammer ganz wesentlich auf Punkte abgestellt, die das Hemmungsvermögen des Angeklagten betreffen, ohne darzulegen, weshalb diese unmittelbare Auswirkungen auf seine Fähigkeit gehabt haben sollen, die Tatsituation zu erkennen und realistisch einzuschätzen. Dies versteht sich bei einem einfach gelagerten Geschehen wie dem vorliegenden auch nicht von selbst. Die Ausführungen des Sachverständigen zu etwaigen psychischen Einschränkungen des Angeklagten bei der Tatbegehung enthalten keine Hinweise auf tatrelevante Defizite bei der Wahrnehmung oder Einschätzung der Tatsituation. Vor diesem Hintergrund hätte die Strafkammer näher darlegen müssen, weshalb trotz erhaltener Unrechtseinsicht ausnahmsweise die Fähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt war, die übersichtliche Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für sein Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte von Anfang an vorhatte, „die Sache … zu klären“, dazu zunächst - irrtümlich - den Zeugen B. angesprochen, sich nach Bemerken des Missverständnisses „höflich“ bei diesem entschuldigt hatte und er erst anschließend dem Geschädigten I. folgte, weil er „einen ausreichenden Anlass für eine anzubahnende Auseinandersetzung“ sah. All dies belegt die vom Landgericht angenommene Spontantat nicht.

cc) In diesem Zusammenhang können auch die Feststellungen bezüglich einer kurz vor der Tat vom Nebenkläger ausgesprochenen Beleidigung nicht bestehen bleiben.

Nach Auffassung des Landgerichts ist eine solche „nicht gänzlich ausgeschlossen“, weil der in der Hauptverhandlung schweigende Angeklagte gegenüber dem Sachverständigen Entsprechendes berichtet habe. Der Nebenkläger hat dies in seiner Zeugenvernehmung in Abrede gestellt. Der Zeuge As. hat nach seinen aus Sicht der Kammer glaubhaften Angaben ebenfalls keine Beleidigung gehört, obwohl er wegen seiner Nähe zum Geschehen eine solche hätte hören müssen. Weitere relevante Zeugen zu diesem Punkt gab es nicht.

(1) An die Würdigung der Einlassung des Angeklagten sind dieselben Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Das Tatgericht darf eine Einlassung, für deren Wahrheitsgehalt keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte bestehen, nicht ohne Weiteres als unwiderlegt seiner Entscheidung zu Grunde legen. Vielmehr muss es sich seine Überzeugung von deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit auf Grund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme bilden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 21. Oktober 2004 - 3 StR 226/04, NStZ-RR 2005, 45, 46).

(2) Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit und Schlüssigkeit der Einlassung des Angeklagten hat die Strafkammer mehrere hierfür relevante Gesichtspunkte nicht oder nur lückenhaft erörtert.

Zum einen hat sie nicht bedacht, dass es ihr mangels Einlassung in der Hauptverhandlung nicht möglich war, die diesbezüglichen Angaben des Angeklagten kritisch zu hinterfragen, so dass ihnen ohnehin nur ein geminderter Beweiswert zukam (vgl. nur Miebach, NStZ 2019, 318, 322 mwN). Zum anderen hat die Schwurgerichtskammer die sonstigen umfangreichen Erklärungen des Angeklagten zum Tatgeschehen - seine Freundin habe ihm von einer Bedrohung durch den Nebenkläger berichtet, er habe sich acht bis zehn Männern gegenüber gesehen, die auf ihn eingeprügelt hätten, der Nebenkläger habe anschließend ein Messer gezogen, das er diesem habe entwinden können - aufgrund objektiver Umstände und Zeugenaussagen nahezu vollständig als widerlegt angesehen. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass ein glaubhafter Tatzeuge die gegenteiligen Angaben des Nebenklägers bestätigt hat, hätte es näherer Erörterung bedurft, aus welchem Grund der Nebenkläger trotz mangelnder Deutschkenntnisse den ihm völlig unbekannten Angeklagten derart hätte beleidigen sollen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei einer vollständigen Würdigung das von der Strafkammer ersichtlich als ausschlaggebend gewertete Argument relativiert würde, der pakistanische Nebenkläger habe während seiner Vernehmung durch die Ermittlungsrichterin dieser gegenüber auf Urdu eine Beleidigung geäußert, weshalb es nicht fernliege, dass er auch den Angeklagten beleidigt habe.

b) Auch die Ablehnung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe weist Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten auf.

aa) Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine Persönlichkeit einschließt. Gefühlsregungen wie Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht kommen nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie nicht menschlich verständlich, sondern Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind. Dabei ist der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2018 - 5 StR 379/18, NStZ 2019, 206 mwN).

In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann. Dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. September 2019 - 5 StR 399/19 mwN).

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Prüfung des Mordmerkmals defizitär.

(1) Als maßgebliches Tötungsmotiv hat die Schwurgerichtskammer angesehen, dass der Angeklagte gedacht habe, seine Freundin vor Ansprachen fremder Männer schützen zu müssen. Er habe es nicht ertragen, wenn fremde junge Männer seine Freundin anschauten, geschweige denn ansprachen und ihr ein Kompliment machten. Hinzu komme sein Selbstbild. Er sehe sich als tschetschenischer Moslem, dessen Bild von einer Partnerschaft durch die Vorstellung geprägt sei, eine Ehefrau habe dem Mann zu gehorchen, insbesondere nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen. Die Zulassung eines auch nur sehr kurzen Kontaktes zwischen seiner Freundin und einem unbekannten Mann habe vom Angeklagten als Provokation, aber auch als eigenes Versagen und schließlich als Kränkung empfunden werden müssen, die wiedergutzumachen es gegolten habe. Aufgrund seines Erregungszustandes, seiner geringen Frustrationstoleranz und der Spontaneität des Tatentschlusses sei auch nicht völlig auszuschließen, dass bei dem Angeklagten die subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmales fehlten.

(2) Das vom Schwurgericht rechtsfehlerfrei bestimmte Tötungsmotiv erweist sich nach den Rechtsmaßstäben der hiesigen Rechtsgemeinschaft entgegen der Auffassung des Landgerichts in objektiver Hinsicht als niedrig. Dem Menschenbild des Grundgesetzes ist ein Verständnis der Beziehungen von Mann und Frau, wie es der Angeklagte hat, fremd. Mit den Werten des durchweg auf Gleichberechtigung und gegenseitige personelle Achtung angelegten deutschen Rechts ist es unvereinbar, das Ansprechen einer Frau durch einen anderen Mann auf der Grundlage einer Art von „Besitzanspruch“ als schwere Provokation auszulegen. Für ein nach den Maßstäben der hiesigen Rechtsgemeinschaft harmloses Tun einen anderen Menschen zu töten, stellt vielmehr wegen des eklatanten Missverhältnisses zwischen Anlass und Tat (vgl. zu diesem Maßstab MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl., § 211 Rn. 73; Fischer, 66. Aufl., § 211 Rn. 18, je mwN) - vorbehaltlich der vorzunehmenden Gesamtwürdigung - grundsätzlich einen niedrigen Beweggrund dar.

Nicht rechtsfehlerfrei sind vor diesem Hintergrund auch die Ausführungen des Schwurgerichts zu den subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals. Denn das Landgericht hat die subjektive Verfassung des Angeklagten zu den genannten Beweggründen nicht konkret in Beziehung gesetzt. Insbesondere hätte es vor dem Hintergrund der objektiven Niedrigkeit des festgestellten Tötungsmotivs näherer Erläuterung bedurft, weshalb der Angeklagte nach dem längeren Vorlauf der Tatbegehung („Anzeige“ des Geschehens durch Mo., zunächst Ansprache eines anderen, dann Identifizierung des Nebenklägers und Vergewisserung durch den Angeklagten, erst Faustschlag, dann Messerstiche) angesichts seines Weltbildes nicht in der Lage gewesen sein soll, dieses Motiv in seiner Bedeutung zu erkennen und gefühlsmäßig zu beherrschen.

c) Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Totschlags. Dies zieht die Aufhebung des an sich rechtsfehlerfreien Schuldspruchs wegen tateinheitlicher gefährlicher Körperverletzung nach sich. Da die Rechtsfehler nur die Bewertung des Tötungsmotivs und die subjektive Seite der Mordmerkmale sowie die Feststellungen zu einer etwaigen Beleidigung des Nebenklägers I. betreffen, können die Feststellungen zum objektiven Geschehen im Übrigen und zum Tötungsvorsatz bestehen bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO).

2. Soweit sich die Revision des Nebenklägers in zulässiger Weise gegen den Freispruch des Angeklagten T. richtet, bleibt sie erfolglos. Die Beweiswürdigung des Landgerichts (vgl. zum Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts BGH, Urteil vom 6. Juni 2018 - 2 StR 20/18, NStZ-RR 2018, 289 mwN) weist insoweit keinen Rechtsfehler auf.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 12

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 40

Bearbeiter: Christian Becker