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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1204

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 479/21, Beschluss v. 21.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1204


BGH 1 StR 479/21 - Beschluss vom 21. September 2022 (LG Kleve)

Steuerhehlerei (Begriff des Sichverschaffens: Erlangen eigener Verfügungsgewalt im eigenen Interesse).

§ 374 Abs. 1 AO

Leitsätze des Bearbeiters

Täterschaftliches „Sichverschaffen“ (§ 374 Abs. 1 Variante 1 AO) setzt das Erlangen eigener Verfügungsgewalt voraus, und zwar im eigenen Interesse. Das „Drittverschaffen“ ist demgegenüber fremdnützig, also zwar ein selbständiger Erwerb, aber zugunsten des Dritten. Es gelten allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach §§ 25 ff. StGB; maßgeblich ist damit vor allem, ob die Beteiligten selbst Tatherrschaft haben oder den Weisungen eines Dritten unterworfen sind. Der bloße Besitzerwerb an den unversteuerten Tabakwaren oder die bloße Besitzausübung genügt für ein Sichverschaffen nicht.

Entscheidungstenor

1. Der Vorwurf der Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen strafbaren Verletzung von Gemeinschaftsmarken (richtig: Unionsmarken) wird von der Strafverfolgung ausgenommen.

2. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kleve vom 5. Mai 2021, soweit es diese Angeklagten betrifft,

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagten der Beihilfe zur banden. und gewerbsmäßigen Steuerhehlerei in zwei Fällen schuldig sind;

b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.

3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden als unbegründet verworfen.

4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung, wegen banden- und gewerbsmäßiger Steuerhehlerei sowie wegen Beihilfe zur gewerbs- und bandenmäßigen strafbaren Verletzung von Gemeinschaftsmarken (richtig: Unionsmarken) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt; zudem hat es die Angeklagten nicht betreffende Einziehungen angeordnet. Die gegen ihre Verurteilungen im nach einer Verfahrensbeschränkung verbliebenen Umfang gerichteten, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts ließen sich die drei Angeklagten im Sommer 2020 von unbekannt gebliebenen Hintermännern anwerben, um unversteuerten Tabakfeinschnitt in eine illegale Zigarettenproduktionsstätte in K. zu transportieren und dadurch den Lohn für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dort ließen die Organisatoren den angelieferten Tabakfeinschnitt maschinell trocknen, in Zigarettengröße zerteilen und in Cellophan verpacken. Dabei wurden bei den Zigarettenpapieren, -filtern und -verpackungen die Marken „R. “, „Ri.“ und „Ma. verwendet, ohne dass die Inhaber dieser im Register eingetragenen Unionsmarken, die I. Limited mit Sitz in B. bzw. die J. Limited, dem zugestimmt hätten. Der Angeklagte Ry. fuhr jeweils den Lastkraftwagen; die Angeklagten O. und Krz. begleiteten in gesonderten Fahrzeugen den Transportwagen und sicherten die Fahrten damit ab, so etwa am 27. Juli, 11. und 18. August 2022. Alle drei Angeklagten luden in der Lagerhalle den Tabakfeinschnitt ab; daneben waren sie an der Auslieferung der illegal hergestellten Zigaretten beteiligt.

Wöchentlich ließen die Hintermänner etwa 10 Millionen Zigaretten herstellen und innerhalb der Europäischen Union ausliefern, ohne dass auf den Zigarettenverpackungen Steuerbanderolen angebracht oder Tabaksteuererklärungen abgegeben wurden. Nach längerer Observation stellten die Ermittlungsbehörden am 18. August 2020 11.006.050 Stück unter unberechtigter Verwendung der drei genannten Marken gefälschte versandfertige Zigaretten sowie rund 17.360 Kilogramm von den drei Angeklagten herbeigeschafften Tabakfeinschnitt sicher, worauf Tabaksteuer in Höhe von rund 1,8 Millionen € bzw. 1,2 Millionen € lastete.

2. Die Verfahrensbeschränkung bezüglich des Vorwurfs der Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen strafbaren Verletzung von Unionsmarken (§ 143a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 143 Abs. 2, 5 MarkenG, Art. 9 Abs. 1, 2, Buchst. a, Abs. 3 Buchst. a Unionsmarkenverordnung; § 27 StGB) trägt wie im Verfahren 1 StR 470/21 dem Umstand Rechnung, dass die Würdigung des Landgerichts, die Marken R., Ri. und Ma. seien unionsweit geschützt (UA S. 18), nicht belegt ist (insbesondere UA S. 30). Damit kann auch hier offenbleiben, ob infolge des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien aus der Europäischen Union die Gesamtrechtslage für die Angeklagten günstiger ist und dies einer Bestrafung entgegensteht (§ 2 Abs. 3 StGB).

3. Im verbliebenen Verfahrensumfang sind die Revisionen teilweise begründet.

a) Das Urteil birgt Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten.

aa) Die Angeklagten sind in Bezug auf den am 18. August 2022 sichergestellten Tabakfeinschnitt nicht der täterschaftlichen gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhehlerei (§ 374 Abs. 1 Variante 1, Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 und 2 AO, § 1 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 TabStG, § 25 Abs. 2 StGB) schuldig, sondern - jeweils und selbst gewerbsmäßig als Bandenmitglied handelnd - der Beihilfe hierzu (§ 27 StGB). Von einem Verbringen des Tabakfeinschnitts durch die drei Angeklagten aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, namentlich aus den Niederlanden oder Polen, in das deutsche Steuergebiet hat sich das Landgericht nicht zu überzeugen vermocht (insbesondere UA S. 18); wer die Vortaten der Steuerhinterziehung beging, wann jene beendet waren sowie wann und wo die drei Angeklagten den Tabakfeinschnitt übernahmen, ist nicht aufgeklärt worden. Dass das Landgericht demgemäß die Angeklagten nicht wegen Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 3 AO, § 23 Abs. 1 Satz 1, 2, § 17 Abs. 1 Satz 3 TabStG) verurteilt hat, beschwert diese jedenfalls nicht.

(a) Täterschaftliches „Sichverschaffen“ (§ 374 Abs. 1 Variante 1 AO) setzt das Erlangen eigener Verfügungsgewalt voraus (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2022 - 1 StR 481/21 Rn. 4; Urteil vom 7. November 2007 - 5 StR 371/07, BGHR AO § 374 versuchte Steuerhehlerei 1 Rn. 15 mwN), und zwar im eigenen Interesse. Das „Drittverschaffen“ ist demgegenüber - nicht anders als bei der Drittzueignung - oder -bereicherungsabsicht der Strafnormen aus dem Strafgesetzbuch (etwa §§ 242, 259, 263 StGB) - fremdnützig (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 171. Lieferung, Stand Juli 2022, § 374 AO Rn. 10; Hilgers-Klautzsch in Kohlmann, Steuerstrafrecht, 75. Lieferung, Stand Mai 2022 Rn. 57), also zwar ein selbständiger Erwerb, aber zugunsten des Dritten.

Die allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach §§ 25 ff. StGB gelten; maßgeblich ist damit vor allem, ob die Beteiligten selbst Tatherrschaft haben oder den Weisungen der Hintermänner unterworfen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2016 - 1 StR 108/16 Rn. 33; Loose in Tipke/Kruse, aaO; Hilgers-Klautzsch in Kohlmann, aaO Rn. 56; vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. Januar 2022 - 1 StR 481/21 Rn. 4). Der bloße Besitzerwerb an den unversteuerten Tabakwaren oder die bloße Besitzausübung genügt mithin nicht. Das Drittverschaffen auf der Erwerbsseite entspricht damit der Tatbestandsvariante des „Absetzens“ (§ 374 Abs. 1 Variante 2 AO; vgl. dazu Loose, in Tipke/Kruse aaO Rn. 11; Hilgers-Klautzsch in Kohlmann aaO Rn. 57) auf der Absatzseite.

(b) Die drei Angeklagten hatten keine Tatherrschaft; sie führten nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe die Transporte zum illegalen Steuerlager stets auf Weisung der unbekannten Hintermänner durch. Weder waren sie selbständig noch hatten sie eine Entscheidungsbefugnis. Sie unterstützten vielmehr die Organisatoren der illegalen Zigarettenproduktion bei deren Erwerb der Verfügungsgewalt über den Tabakfeinschnitt.

(c) Die Vorschrift des § 265 Abs. 1 StPO steht der hiernach gebotenen, ohnehin den Revisionsführern günstigen Abmilderung des Schuldspruchs auf Beihilfe nicht entgegen, weil auszuschließen ist, dass sich die geständigen Angeklagten hiergegen wirksamer als geschehen hätten verteidigen können. Die Schuldspruchänderung zieht die Aufhebung der zugehörigen Einzelstrafe nach sich.

(d) Sollten die Hintermänner die Verfügungsgewalt über den Tabakfeinschnitt bereits zu einem Zeitpunkt erlangt haben, bevor die Angeklagten diesen übernahmen, hätten diese durch den Weitertransport zur illegalen Produktionsstätte täterschaftliche Absatzhilfe (§ 374 Abs. 1 Variante 3 AO) geleistet; dadurch, dass ein solcher Tatablauf nicht zugrunde gelegt worden ist, sind sie also nicht beschwert. Gleiches gilt bezüglich der Annahme von nur einer Tat (§ 52 Abs. 1 StGB): Die Menge von 17.360 Kilogramm lässt sich nicht mehr bestimmten Einzeltransporten zuordnen. Insgesamt sind die Angeklagten nicht dadurch beschwert, dass das Landgericht nicht - wie an sich geboten - auf jede einzelne Fahrt zur Produktionsstätte abgestellt hat und demzufolge nicht von Tatmehrheit (§ 53 Abs. 1 StGB) ausgegangen ist.

bb) Darüber hinaus begegnet die Strafzumessung bereits deswegen Bedenken, weil das Landgericht ‚eigenes Gewinnstreben‘ zu Lasten der Angeklagten straferschwerend berücksichtigt hat (UA S. 42; § 374 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1 AO, § 46 Abs. 3 StGB). Jedenfalls erweist sich die Strafzumessung deswegen als durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil das straffreie Vorleben der drei Angeklagten (§ 46 Abs. 2 StGB) unberücksichtigt geblieben ist. Dies ist rechtsfehlerhaft, da es sich insoweit um einen bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkt handelt (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2022 - 6 StR 61/22 Rn. 2; vom 27. Oktober 2020 - 1 StR 148/20 Rn. 9 und vom 29. September 2016 - 2 StR 63/16 Rn. 15). Dies gilt auch für die in Bezug auf die sichergestellten Zigaretten verhängten Einzelstrafen wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung.

cc) Die Feststellungen bleiben von der Schuldspruchänderung bzw. dem Erörterungsmangel unberührt und damit aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO). Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht darf seiner Strafzumessung weitere Feststellungen zugrunde legen, sofern diese den bisherigen nicht widersprechen.

b) Im Übrigen sind die Revisionen unbegründet. Allein bedarf der Schuldspruch der Änderung; dem steht weder das Verbot der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) noch § 265 Abs. 1 StPO entgegen:

aa) Auch bezüglich der sichergestellten 11.006.050 Zigaretten unterstützten die Angeklagten durch den Transport des Tabakfeinschnitts die Hintermänner beim Sichverschaffen (§ 374 Abs. 1 Variante 1 AO, § 27 StGB), und zwar wiederum banden- und gewerbsmäßig (§ 374 Abs. 2 Satz 1 AO). Jedenfalls dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, dass für die sichergestellten Zigaretten Tabakfeinschnitt verwendet wurde, den die drei Angeklagten zuvor angeliefert hatten. Zudem sind mindestens zwei Taten anzunehmen, weil die Angeklagten am 18. August 2020 gerade erst vor dem Zugriff durch die Ermittlungsbehörden einen Teil des sichergestellten Tabakfeinschnitts angeliefert hatten; diese Anfahrt überschnitt sich folglich nicht mit dem Transport desjenigen Feinschnitts, der zur Produktion der beschlagnahmten Zigaretten eingesetzt worden war.

bb) Der Schuldspruch ist damit zu Lasten der Angeklagten abzuändern, weil ihnen nunmehr Beihilfe zu einem Qualifikationstatbestand zur Last gelegt wird. Freilich darf das nunmehr zur Strafzumessung berufene Tatgericht die jeweils für die Beihilfe zur Steuerhinterziehung verhängte Einzelstrafe nicht überschreiten. Zudem dürften die Angeklagten durch denselben Tatbeitrag, den Transport des Feinschnitts, den Organisatoren, den acht Mitangeklagten sowie dem gesondert verfolgten H. die Weiterverarbeitung zu Zigaretten ermöglicht und damit - wie vom Landgericht angenommen - Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet haben (§ 370 Abs. 1 Nr. 3 AO, § 15 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Alternative 1, 2, Abs. 2 Nr. 2, § 17 Abs. 1 Satz 3 TabStG, § 27 StGB). Indes kann, da nur die Angeklagten das Urteil angefochten haben, offenbleiben, ob eine solche Beihilfe zur Steuerhinterziehung mit der Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen Steuerhehlerei in Tateinheit stünde (§ 52 Abs. 1 Alternative 1 StGB) oder aber - vor allem mit Blick darauf, dass der zu steuerpflichtigen Zigaretten (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a TabStG, § 4 Abs. 3 Satz 2 TabStV aF) verarbeitete Tabakfeinschnitt bereits selbst der Tabaksteuer unterworfen ist (§ 1 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 TabStG) - verdrängt würde und ob die Vorschrift des § 28 Abs. 1 StGB auch im Falle des § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO anzuwenden wäre (vgl. zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO: BGH, Urteil vom 23. Oktober 2018 - 1 StR 454/17, BGHSt 63, 282 Rn. 18 ff.).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1204

Bearbeiter: Christoph Henckel