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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 119

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 339/20, Beschluss v. 31.08.2021, HRRS 2022 Nr. 119


BGH 2 StR 339/20 - Beschluss vom 31. August 2021 (LG Mühlhausen)

Erörterung des Verfahrensstands mit den Verfahrensbeteiligten (Mitteilung des wesentlichen Inhalts: Informierung über den zum Ergebnis führenden Entscheidungsprozess, Beruhen des Verständigungsurteils auf der unzulänglichen Mitteilung, Gesamtbetrachtung).

§ 202a StPO; § 212 StPO; § 257c StPO; § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob vor Beginn der Hauptverhandlung Erörterungen nach den § 202a, § 212 StPO stattgefunden haben, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist, und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Dabei darf sich die Mitteilung nicht darauf beschränken, das Ergebnis der Erörterungen mitzuteilen, sondern es muss auch über den dahin führenden Entscheidungsprozess informiert werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 26. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten nach einer Verständigung wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt und eine Kompensationsentscheidung getroffen. Von einer Einziehung von Wertersatz für Taterträge hat es abgesehen. Soweit dem Angeklagten weitere 124 Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt vorgeworfen wurden, hat das Landgericht das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Die gegen die Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

I.

Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

1. Nach Beginn der Hauptverhandlung kam es zu mehreren Telefonaten zwischen der Vorsitzenden der Strafkammer und den Verteidigern des Angeklagten. Zuerst erkundigte sich die Vorsitzende bei einem Verteidiger nach der Möglichkeit einer Verständigung. Dieser erwiderte, dass aus seiner Sicht insbesondere der Vorsatz des Angeklagten nur schwer nachzuweisen sein werde, weshalb er ihm von einer Verständigung abrate, ihn jedoch von der Bereitschaft der Strafkammer dazu unterrichten werde. Nachdem die Vorsitzende in einem weiteren Telefongespräch dem Verteidiger konkrete Vorstellungen vom Inhalt einer möglichen Verständigung unterbreitet und dieser Rücksprache mit dem Angeklagten gehalten hatte, teilte der Verteidiger ihr mit, dass der Angeklagte entgegen seinem Rat eine Verständigung wünsche. Sodann wurden Modalitäten besprochen, welche die Vorsitzende in weiteren Telefonaten mit Vertretern der Staatsanwaltschaft erörterte.

In der Hauptverhandlung teilte die Vorsitzende dazu Folgendes mit:

„Es wurde bekanntgegeben, dass in der letzten Woche telefonische Gespräche zwischen der Vorsitzenden, der Staatsanwaltschaft (Staatsanwälte H. und Dr. K.) und der Verteidigung (Rechtsanwalt G., der mit dem Angeklagten und Rechtsanwalt C. Rücksprache hielt) stattgefunden haben mit dem Ziel einer beschleunigten Verfahrensbeendigung durch Verständigung gem. § 257c StPO. Die Initiative ging von der Kammer aus.

Folgende Inhalte wurden vom Gericht vorgeschlagen und besprochen:

° vollumfängliche qualifizierte geständige Einlassung des Angeklagten hinsichtlich der Anklagevorwürfe im Ursprungsverfahren 11 KLs 580 Js 40322/13 (Tatkomplex Job Company Bau GmbH).

° Einstellung des ursprünglichen Verfahrens 11 KLs 650 Js 50125/10 (Tatkomplex IBS) mit gesonderter Kostenfolge dahingehend, dass ausscheidbare Kosten und notwendige Auslagen des Angeklagten insoweit der Staatskasse auferlegt werden.

° Ausurteilung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 3 Monaten bis zu 1 Jahr 5 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung.

° Erklärung von 4 - 5 Monaten dieser Gesamtfreiheitsstrafe zum Ausgleich für die rechtsstaatswidrige überlange Verfahrensdauer als vollstreckt.

Rechtsanwalt G. und Staatsanwalt H. für die Staatsanwaltschaft waren dem beigetreten.

Die Kammer teilte außerdem mit, dass sie beabsichtigt, eine Geldauflage in Höhe von 15.000,00 Euro zu verhängen.

Ferner vertritt sie die Rechtsauffassung, dass vermögensabschöpfende Maßnahmen rechtlich nicht angezeigt sind. Die Staatsanwaltschaft hat hierzu mitgeteilt, dass sie hinsichtlich beider Anklagen einen Antrag gem. § 421 Abs. 1 Nr. 3 StPO stellen wird, dies darf allerdings aus Gesetzesgründen nicht Inhalt der Verständigung sein.

Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kammer sagte die Einhaltung der besprochenen Inhalte zu.

Die Vertreter der Staatsanwaltschaft, StA Dr. K. und StA H., der Angeklagte und seine Verteidiger stimmen dem Vorschlag zu.“

Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung kam es zur vorgeschlagenen Verständigung und der entsprechenden Verfahrensbeendigung.

2. Die Revision rügt, die Vorsitzende habe entgegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht alle wesentlichen Inhalte der Erörterungen in der Hauptverhandlung mitgeteilt. Insbesondere habe sie nicht darauf hingewiesen, dass der Verteidiger dem Angeklagten zuerst von einer Zustimmung zur Verständigung abgeraten und die Staatsanwaltschaft eine Bewährungsauflage zur Zahlung eines wesentlich höheren Geldbetrages im hohen fünf- oder sechsstelligen Bereich gefordert habe.

II.

Die zulässige Rüge, deren Vorbringen durch dienstliche Erklärungen der Berufsrichter der Strafkammer unterstrichen wird, ist begründet.

1. Gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob vor Beginn der Hauptverhandlung Erörterungen nach den § 202a, § 212 StPO stattgefunden haben, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist, und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Das Gesetz will damit erreichen, dass derartige Erörterungen stets in der öffentlichen Hauptverhandlung zur Sprache kommen. Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung dürfen kein informelles und unkontrollierbares Verhalten eröffnen. Alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit sollen nicht nur darüber informiert werden, dass Erörterungen stattgefunden haben, sondern auch darüber, wer an den Gesprächen teilgenommen hat, welche Standpunkte von den Teilnehmern vertreten wurden, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11, BVerfGE 133, 168, 217; Senat, Urteil vom 10. Juli 2013 - 2 StR 195/12, BGHSt 58, 310, 313; Beschluss vom 6. Oktober 2020 - 2 StR 262/20, StV 2021, 3 f.). Dabei darf sich die Mitteilung nicht darauf beschränken, das Ergebnis der Erörterungen mitzuteilen, sondern es muss auch über den dahin führenden Entscheidungsprozess informiert werden (vgl. Senat, Urteil vom 21. Juli 2015 - 2 StR 75/14, NStZ 2016, 228, 229; BGH, Beschluss vom 11. Januar 2018 - 1 StR 532/17, NStZ 2018, 363, 364).

2. Diesem Maßstab wird die Mitteilung der Vorsitzenden nicht gerecht.

a) Auch die getrennt geführten Telefonate zwischen der Vorsitzenden und den Verteidigern sowie den Staatsanwälten unterfielen der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2020 - 2 BvR 900/19, NJW 2020, 2461, 2463). Über die wesentlichen Inhalte dieser zusammengehörenden Erörterungen wurde in der Hauptverhandlung nicht ausreichend berichtet.

b) Aus dem protokollierten Hinweis der Vorsitzenden ergibt sich zwar, wer an den Erörterungen teilgenommen hat und von wem die Initiative zu den Gesprächen ausgegangen ist; ferner sind ihm die Mitteilung der Ober- und Untergrenze der in Betracht gezogenen Strafe, die Möglichkeit von Verfahrensbeschränkungen und die angedachte Bewährungsauflage zu entnehmen. Keine Informationen enthält der Hinweis der Vorsitzenden aber dazu, dass einerseits der Verteidiger auf Grund seiner Einschätzung der Beweislage dem Angeklagten zunächst von der Zustimmung zu einer Verständigung abgeraten, andererseits die Staatsanwaltschaft eine wesentlich höhere Geldzahlung als Bewährungsauflage gefordert hatte. Diese Umstände gehörten zu dem Entscheidungsprozess auf dem Weg zur Verständigung und waren von wesentlicher Bedeutung, um die Entwicklung des Verständigungsvorschlags des Gerichts sowie die Motivation des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft zur Zustimmung nachvollziehen zu können.

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf der unzulänglichen Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO beruht.

a) Bei einem solchen Rechtsverstoß ist regelmäßig davon auszugehen, dass ein Verständigungsurteil darauf beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2020 - 2 BvR 900/19, NJW 2020, 2461, 2463; BGH, Beschluss vom 15. Januar 2015 - 1 StR 315/14, NStZ-RR 2015, 223, 224; Beschluss vom 23. Juli 2015 - 1 StR 149/15, StV 2016, 19). Das Revisionsgericht ist zwar nicht gehindert, aufgrund einer an den Umständen des Einzelfalls ausgerichteten Gesamtbetrachtung ausnahmsweise zu einem Ausschluss des Beruhens zu gelangen. Da die Bandbreite möglicher Verstöße gegen § 243 Abs. 4 StPO von geringfügigen Unvollständigkeiten oder Unrichtigkeiten bis hin zu groben Falschdarstellungen oder zum völligen Fehlen der Mitteilung wesentlicher Gesichtspunkte reicht, können im Rahmen der Gesamtbetrachtung die Schwere des Verstoßes und die Art der in der Hauptverhandlung nicht mitgeteilten Gesprächsinhalte von Bedeutung sein.

b) Ein Fall, in dem ausnahmsweise das Beruhen ausgeschlossen werden kann, liegt aber nicht vor.

aa) Es ist nicht auszuschließen, dass der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht in den genannten Punkten das Einlassungsverhalten des Angeklagten beeinflusst hat. Darauf, dass dieser von seinem Verteidiger über Äußerungen unterrichtet wurde, kommt es nicht an, weil eine von Verständnis und Wahrnehmung des Verteidigers beeinflusste Information die gesetzlich vorgeschriebene Unterrichtung durch das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. BVerfG aaO, NJW 2020, 2461, 2463; Senat, Urteil vom 10. Juli 2013 - 2 StR 195/12, BGHSt 58, 310, 314; Urteil vom 5. Juni 2014 - 2 StR 381/13, BGHSt 59, 252, 259; Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 2 StR 367/16, NStZ 2017, 244, 245).

bb) Zudem darf die Frage des Beruhens des Urteils auf dem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten beurteilt werden. Hierdurch wird die Bedeutung der Transparenzvorschriften für die Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit, die auch dem Schutz des Angeklagten vor sachfremder Beeinflussung durch das Gericht und damit der Verfahrensfairness dient, ausgeblendet. Der auf die Kontrolle durch die Öffentlichkeit abzielende Schutzgehalt des § 243 Abs. 4 StPO beansprucht unabhängig vom Aussageverhalten des Angeklagten Geltung und muss bei der Beruhensprüfung stets Berücksichtigung finden (BVerfG aaO, NJW 2020, 2461, 2464). Auch insoweit liegt hier, unter anderem mit Blick auf die umfangreiche Teileinstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO, kein Ausnahmefall vor, bei dem zweifelsfrei ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf das Urteil ausgeschlossen werden könnte.

c) Das Urteil unterliegt daher der Aufhebung, auch mit den Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Die Sache bedarf insgesamt erneuter tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung.

III.

Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Es begegnet im Hinblick auf § 261 StPO erheblichen Bedenken, dass vom Verteidiger vor im Zusammenhang mit den Erörterungen über eine mögliche Verständigung dem Gericht ein Geständnisentwurf durch E-Mail übersandt wurde, um zu prüfen, ob es „in Ordnung“ sei, was anschließend von der Strafkammer bestätigt wurde.

2. Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, bei der Bemessung der Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung deutlicher als bisher die unterschiedlichen Beitragsbemessungsgrenzen in den west- bzw. ostdeutschen Bundesländern (vgl. § 157, § 159, § 228a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, § 341 Abs. 4 SGB III) in den Blick zu nehmen. Es wird zu berücksichtigen haben, dass für deren Anwendung jeweils der Ort der Beschäftigung nach § 9 SGB IV entscheidend ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 119

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 245; NStZ-RR 2022, 80; StV 2022, 428

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß