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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1008

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 354/20, Beschluss v. 30.09.2021, HRRS 2022 Nr. 1008


BGH 2 StR 354/20 - Beschluss vom 30. September 2021 (LG Aachen)

Beweiswürdigung; Vergewaltigung (Unfähigkeit zur Bildung eines entgegenstehenden Willens: Vorliegen, Beurteilung des Zustands des Tatopfers, entsprechende Anwendung der Grundsätze zu den Fragen der Bewusstseinsstörung und der schweren anderen seelischen Störung eines Täters, Gesamtbetrachtung, Unfähigkeit zur Bildung jeglichen natürlichen Willens; tatbestandsausschließende Zustimmung der geschützten Person: natürlicher Wille, aus objektiver Sicht kein vernünftiger Zweifel, Versicherung, Feststellung, Verhältnis zwischen Täter und Opfer, moralische Bewertung des Willen der Person nicht bedeutsam).

§ 261 StPO; § 177 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Vorschrift des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB stellt sexuelle Handlungen mit einer Person unter Strafe, die zur Tatzeit zur Bildung oder Äußerung eines entgegenstehenden Willens nicht in der Lage, mithin dazu „absolut unfähig“ ist. Erfasst werden insbesondere sexuelle Handlungen an einer Person, die sich in einem Zustand tiefgreifender Bewusstseinsbeeinträchtigung, in Ohnmacht, Schlaf, Narkose oder in einem schweren Rauschzustand befindet. Die Gesetzesmaterialien nennen beispielhaft eine Betäubung durch K.O.-Tropfen; Enthemmung, Verlangsamung oder Hilfsbedürftigkeit des Opfers genügen hingegen nicht.

2. Für die Beurteilung des Zustands des Tatopfers sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu den Fragen der Bewusstseinsstörung und der schweren anderen seelischen Störung eines Täters entsprechend anwendbar. Das Tatgericht hat - gegebenenfalls mithilfe eines Sachverständigen - aufgrund einer Gesamtbetrachtung, in die das aktuelle Tatgeschehen einzubeziehen ist, die geistig-seelische Verfassung des Opfers und deren Auswirkungen auf das Opferverhalten zu prüfen.

3. Ein Ausschluss der Tatbestandsverwirklichung nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die Zustimmung der geschützten Person zur jeweiligen sexuellen Handlung dergestalt vor deren Vornahme eingeholt und nicht zurückgenommen wurde, dass diese ihren entsprechenden eigenen „natürlichen Willen“ ausdrücklich oder konkludent erklärt hat und aus objektiver Sicht „kein vernünftiger Zweifel an der Zustimmung“ besteht. Zu bedenken ist dabei, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch in ihren Fähigkeiten erheblich eingeschränkte Personen grundsätzlich zu einer wirksamen Zustimmung in der Lage sind.

4. Bei der Feststellung des natürlichen Willens ist das sich insgesamt zeichnende Bild des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen. Nicht bedeutsam ist hingegen, wie der Wille der erheblich eingeschränkten Person moralisch zu bewerten ist oder ob er „unsinnig“ erscheint.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 2. April 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) im Schuldspruch hinsichtlich der Taten II. 3

b) der Urteilsgründe (Fälle 2 und 3 der Anklage) und b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen W. und B. insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freisprechung im Übrigen - wegen Vergewaltigung in vier Fällen, davon in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Insbesondere lässt das Urteil aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen, soweit dieser hinsichtlich der Taten II. 3 a) der Urteilsgründe (Fälle 1 und 4 der Anklage) jeweils wegen Vergewaltigung verurteilt worden ist.

I.

Das Landgericht hat hinsichtlich der Taten II. 3 b) der Urteilsgründe (Fälle 2 und 3 der Anklage) im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der u.a. wegen Vergewaltigung einschlägig vorbestrafte Angeklagte suchte ab Frühjahr 2018 in für die Straßenprostitution bekannten Gegenden von A., B. und K. sowie über ein Portal im Internet nach suchtmittelabhängigen oder anderweitig sozial benachteiligten Frauen. Diese wollte er für die von ihm präferierten, sadistisch akzentuierten und teils fetischbehafteten Sexualpraktiken gegen ein möglichst geringes Entgelt gewinnen, da er von ihnen aufgrund ihrer Verfassung kaum oder keinen diesbezüglichen Widerstand erwartete. Mit den Nebenklägerinnen W. und B. kam es in diesem Zusammenhang zu mehreren Treffen, die die entgeltliche Durchführung sexueller Handlungen mit dem Angeklagten zum Gegenstand hatten.

2. Tat zum Nachteil der Nebenklägerin W.

a) Bei der zur Tatzeit etwa 35-jährigen Nebenklägerin W. besteht eine langjährige Substanzmittelabhängigkeit, vorwiegend von Opiaten und Kokain; zudem leidet sie unter einer chronisch rezidivierenden Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Die Nebenklägerin ist nach betreuungsrechtlichen Gutachten aus den Jahren 2015 und 2016 lediglich partiell geschäftsfähig, so dass die Einrichtung und Verlängerung einer Betreuung, zuletzt mit umfassendem Wirkungskreis, mehrfach „anempfohlen“ wurde.

b) Der Angeklagte brachte die Nebenklägerin am 7. März 2018 zur Durchführung sexueller Handlungen gegen Entgelt in seine Wohnung in D., wobei er aufgrund der ihm bereits offenbar gewordenen Depravation und des Suchtdrucks der Nebenklägerin nicht mit Widerstand gegen die von ihm gewünschten Sexualpraktiken rechnete und dies ausnutzen wollte. Um sich „rechtlich abzusichern“, ließ der Angeklagte die Nebenklägerin zunächst vor der laufenden Kamera seines Mobiltelefons „ein umfassendes […] Einverständnis in sämtliche später durchgeführte sexuelle Handlungen“ einschließlich „Prügel“ bei ihn nicht zufriedenstellender Ausführung erklären. Die Nebenklägerin erhob zu den von dem Angeklagten im Einzelnen angekündigten Praktiken keinen Widerspruch, sondern verblieb weitgehend regungslos, äußerte an einzelnen Stellen ein zustimmendes „Mmh“ und antwortete auf seine abschließende Frage „Einverstanden?“ mit „Ja“.

Sodann kam es zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin zu den abgesprochenen sexuellen Handlungen, von denen der Angeklagte mit seinem Mobiltelefon einzelne Sequenzen aufzeichnete. Auf seine Anweisungen hin führte die Nebenklägerin insbesondere mehrfach den Oralverkehr an ihm aus, wobei er teilweise - auch untermauert durch Schläge - eine intensivere Ausführungsweise einforderte. Außerdem duldete die Nebenklägerin, dass er ihren Genitalbereich mit heißem Kerzenwachs beträufelte und in ihren Mund urinierte. Sie erhielt dafür ein Entgelt von maximal 100 € und erbrachte entsprechende sexuelle Dienste in der Folge noch bei zwei weiteren Treffen in der Wohnung des Angeklagten.

c) Nach den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen, die sich die Strafkammer zu Eigen gemacht hat, wies die Nebenklägerin zur Tatzeit „einen gravierenden und chronifizierten Störungskomplex aus einer Verquickung von Psychose mit psychotischem Residualsymptom mit der Suchterkrankung“ auf, was - fortbestehend - „zu einer vollständigen psychosozialen Depravation“ geführt habe. Sie habe sich „in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand“ befunden und sei „zu einer Willensäußerung auf Basis eines freien Willens nicht in der Lage“ gewesen.

3. Tat zum Nachteil der Nebenklägerin B.

a) Die zur Tatzeit 25-jährige Nebenklägerin B. leidet unter einer Lern- und Entwicklungsbehinderung sowie einer Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend emotional instabilen Anteilen; seit spätestens 2017 besteht außerdem eine Abhängigkeit von Alkohol und Kokain. Sie ist nach betreuungsrechtlichen Gutachten in der Geschäftsfähigkeit „hochgradig eingeschränkt“ und steht für die Bereiche Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmungsrecht und Vermögensangelegenheiten unter gesetzlicher Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt. Im Rahmen eigener Beschaffungskriminalität konnte eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit der Nebenklägerin nicht ausgeschlossen werden.

b) Der Angeklagte brachte am 10. Mai 2018 die Nebenklägerin, die an diesem Tag bereits Wodka in unbekannter Menge konsumiert hatte, zur Durchführung sexueller Handlungen gegen Entgelt in seine Wohnung in D. Ihm war dabei bewusst, dass sie „mit zunehmender Intensität einen Zustand mittel- bis hochgradiger Substanzintoxikation“ aufwies; deshalb und angesichts des ihm bekannten Suchtdrucks der Nebenklägerin rechnete er „nicht mehr mit einem auch nur verbalen Widerstand“ und wollte „diesen eine freie Willensbildung ausschließenden Zustand gezielt für die von ihm gewünschten“ Sexualpraktiken ausnutzen. Ob vorab eine von dem Angeklagten geltend gemachte Absprache mit der Nebenklägerin über die im Einzelnen durchzuführenden sexuellen Handlungen per Chat erfolgte, hat die Strafkammer offengelassen.

Zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin kam es zu verschiedenen sexuellen Handlungen einschließlich Schlägen gegen den Kopf und auf die Vagina der Nebenklägerin, wovon der Angeklagte wiederum mit seinem Mobiltelefon Videosequenzen aufnahm. Auf seine Anweisungen hin führte die Nebenklägerin, die eine unkoordinierte Motorik und verwaschene Aussprache zeigte, insbesondere mehrfach an ihm den Oralverkehr durch, und duldete, nachdem sie kurzzeitig fast einzuschlafen schien, dass ihr der Angeklagte in den Mund urinierte. Die Nebenklägerin erhielt dafür das vereinbarte Entgelt von maximal 100 €. Auch in der Folge erbrachte sie sexuelle Dienste gegen Entgelt bei mehreren weiteren, nicht näher aufklärbaren Treffen mit dem Angeklagten.

c) Nach den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen, welche sich die Strafkammer auch insoweit zu Eigen gemacht hat, wies die Nebenklägerin zur Tatzeit einen chronischen psychiatrischen Störungskomplex auf, „der gravierendes selbstschädigendes Verhalten ebenso zur Folge hat wie die Unfähigkeit, vernünftige Entscheidungen zu treffen und die Tragweite von Entscheidungen zu überschauen“. Vor dem Hintergrund dieses „schweren multifaktoriellen Störungskomplexes mit bereits fortgeschrittener - und auch dem Angeklagten erkennbarer - psychosozialer Depravation“ habe die Nebenklägerin bei zugleich akuter Substanzintoxikation „lediglich noch die Willenskraft zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung“ gehabt und sei „weder in der Lage, sich willentlich selbst zu entscheiden noch eine eigene Willensentscheidung auch nach außen erkennbar kenntlich zu machen“.

4. Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten jeweils als Vergewaltigung („§§ 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 und Abs. 6 Nr. 1 StGB“) in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gewertet.

Beide Nebenklägerinnen seien im Zeitpunkt der sexuellen Handlungen jeweils aufgrund ihres multifaktoriellen Störungsbildes weder in der Lage gewesen, einen entgegenstehenden freien Willen zu bilden, noch zu äußern. Deshalb sei auch „nicht entscheidungserheblich“, ob es zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin B. vorab - ähnlich wie mit der Nebenklägerin W. - zu einer näheren Absprache über die durchzuführenden Handlungen gekommen sei. Hinsichtlich der Körperverletzungen durch Schläge und - gegenüber der Nebenklägerin W. - durch das Beträufeln des Genitalbereiches mit Wachs fehle es jeweils an einer rechtswirksamen „unter vorhandener Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit im Voraus, mit vollem Verständnis der Sachlage“ erteilten rechtfertigenden Einwilligung.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten hinsichtlich der Taten II. 3 b) der Urteilsgründe (Fälle 2 und 3 der Anklage) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Soweit die Strafkammer angenommen hat, dass sich die Nebenklägerinnen W. und B. zur Tatzeit jeweils in einem die freie Willensbildung und -äußerung ausschließenden Zustand befanden, gründet dies auf einer lückenhaften Beweiswürdigung. Darin liegt - auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs - ein durchgreifender Rechtsfehler, der insoweit zur Aufhebung des Schuldspruchs mit den Feststellungen führt.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (vgl. Senat, Urteil vom 5. April 2017 - 2 StR 593/16, juris Rn. 11; BGH, Urteil vom 27. März 2003 - 1 StR 524/02, NStZ-RR 2003, 206, 207).

Lückenhaft ist die Beweiswürdigung, wenn sich das Tatgericht nicht mit allen wesentlichen, den Angeklagten belastenden und entlastenden Indizien auseinandergesetzt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 - 5 StR 524/09, NStZ-RR 2010, 152, 153, und vom 18. August 2009 - 5 StR 278/09, NStZ-RR 2009, 377). Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht die für den Schuldspruch bedeutsamen Beweise erschöpfend gewürdigt, dass es die entscheidungserheblichen Umstände erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt hat; eine Beweiswürdigung, die Feststellungen nicht in Betracht zieht, welche geeignet sind die Entscheidung zu beeinflussen, oder naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert, ist rechtsfehlerhaft (vgl. Senat, Beschluss vom 28. April 2020 - 2 StR 494/19, NStZ 2020, 693; BGH, Urteile vom 13. Juli 2016 ? 1 StR 94/16, juris Rn. 9, und vom 27. März 2003 - 1 StR 524/02, NStZ-RR 2003, 206, 207).

b) Gemessen hieran hat sich die Strafkammer bei der Annahme, dass die Nebenklägerinnen W. und B. zum Zeitpunkt der jeweils mit dem Angeklagten durchgeführten sexuellen Handlungen nicht im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB in der Lage waren, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern, nicht ausreichend mit rechtsfehlerfrei festgestellten, gegenläufigen Umständen auseinandergesetzt.

aa) Die Vorschrift des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB stellt sexuelle Handlungen mit einer Person unter Strafe, die zur Tatzeit zur Bildung oder Äußerung eines entgegenstehenden Willens nicht in der Lage, mithin dazu „absolut unfähig“ ist (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 23; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 177 Rn. 35; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn. 26; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 177 Rn. 42). Erfasst werden insbesondere sexuelle Handlungen an einer Person, die sich in einem Zustand tiefgreifender Bewusstseinsbeeinträchtigung, in Ohnmacht, Schlaf, Narkose oder in einem schweren Rauschzustand befindet (vgl. nur MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 177 Rn. 69; Schönke/Schröder/Eisele, aaO, Rn. 28, jeweils mwN). Die Gesetzesmaterialien nennen beispielhaft eine Betäubung durch K.O.-Tropfen; Enthemmung, Verlangsamung oder Hilfsbedürftigkeit des Opfers genügen hingegen nicht (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 23 f.).

bb) Für die Beurteilung des Zustands des Tatopfers sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu den Fragen der Bewusstseinsstörung und der schweren anderen seelischen Störung eines Täters entsprechend anwendbar (vgl. Senat, Urteil vom 15. März 1989 - 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 147 zur Vorgängervorschrift des § 179 Abs. 1 aF StGB). Das Tatgericht hat - gegebenenfalls mithilfe eines Sachverständigen - aufgrund einer Gesamtbetrachtung, in die das aktuelle Tatgeschehen einzubeziehen ist, die geistig-seelische Verfassung des Opfers und deren Auswirkungen auf das Opferverhalten zu prüfen (vgl. Senat, Urteil vom 15. März 1989 - 2 StR 662/88, aaO).

c) Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich insoweit als lückenhaft.

aa) Das Landgericht begründet die Unfähigkeit der Nebenklägerinnen W. und B. im Sinne von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB unzureichend, weil es die gebotene umfassende Gesamtbetrachtung unterlässt.

(1) Ungeachtet dessen, dass sich die Strafkammer hinsichtlich der Nebenklägerin W. auf Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen stützt, die die gebotene Konkretisierung nicht ohne weiteres erkennen lassen (vgl. dazu Senat, Beschlüsse vom 27. Januar 2016 - 2 StR 314/15, juris Rn. 6; vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, juris Rn. 5), stellt das Landgericht in ihre Betrachtung zwar den äußeren Zustand und den leeren Gesichtsausdruck der Nebenklägerin, ihre roboterhafte Beantwortung von Fragen des Angeklagten sowie eine eher grobmotorische Ausführung sexueller Handlungen ein. Dass die Nebenklägerin dem Angeklagten gegenüber mehrfach und gerade hinsichtlich der Ausführung einzelner sexueller Handlungen ein Verhalten zeigte, das sich als Kundgabe von Widerwillen darstellt und von dem Angeklagten naheliegend auch so gedeutet wurde, findet sich hingegen nicht erkennbar berücksichtigt. Dies wäre als bedeutsam gegen ihre Unfähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens streitender Umstand aber zwingend in die Betrachtung einzustellen gewesen.

So äußerte die Nebenklägerin W. etwa, sie kriege keine Luft, als der Angeklagte ihren Kopf bei der Ausführung sexueller Handlungen mit seinen Beinen festklemmte, woraufhin er sie - wenn auch mit Verzögerung und den Worten „Mir egal“ - aus der beanstandeten Umklammerung entließ. Ein Urinieren in ihren Mund unterbrach die Nebenklägerin mit den Worten „Ich kann nicht mehr“, woraufhin der Angeklagte äußerte „Ist jetzt auch vorbei“. Als dieser sein Vorgehen fortsetzte, beharrte die Nebenklägerin darauf, dass sie doch nicht so viel trinke, wonach er die Vornahme einer anderen sexuellen Handlung verlangte. Nachdem sich dergleichen Äußerungen nicht ohne Weiteres als bloße Reaktion auf eine rein körperlich empfundene Bedrängnis deuten lassen, sondern sie vielmehr auch den Angeklagten zu einer Anpassung seines Verhaltens veranlassten, bedurften sie im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung erkennbarer Erörterung.

(2) Hinsichtlich der Nebenklägerin B. hat die Strafkammer im Anschluss an die Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen angenommen, dass diese zur Tatzeit „in Zusammenschau des chronischen Störungskomplexes mit der erkennbaren Substanzwirkung“ nicht mehr die „Fähigkeit zu intrinsischer Willensbildung und die Fähigkeit, das Verhalten nach eigener kritischer Willensbildung zu steuern“ gehabt habe; die verlangsamte Motorik der Nebenklägerin, ihre verwaschene Sprache und das zeitweise Zufallen ihrer Augen während des Tatgeschehens wird dabei angeführt. Auch hier sind indes gegenläufige Umstände nicht erkennbar in die gebotene Gesamtbetrachtung eingestellt worden. Das Urteil setzt sich nicht damit auseinander, dass die Nebenklägerin während des Tatgeschehens mehrfach einzelne Modalitäten der sexuellen Handlungen mit dem Angeklagten abgelehnt hat.

So befreite sich die Nebenklägerin B. etwa aus dem Griff des Angeklagten, als dieser bei Durchführung des Oralverkehrs ihren Kopf in Richtung seines Penis drückte, und äußerte - in Bezug auf ein auf dem Nachttisch liegendes Besteck-Set samt Messer - „Ja, aber tu Messer weg“. Sie wiederholte dies auch, als der Angeklagte, bei dem die Strafkammer einen Verwendungsvorsatz hinsichtlich des Messers nicht hat feststellen können, sie nicht sofort verstanden hatte. Seinem Begehren, Kerzenwachs auf ihren Genitalbereich tropfen zu lassen, hielt die Nebenklägerin entgegen, „Das tut weh“ und schlug als Alternative die weitere Durchführung von Oralverkehr vor, wozu es - nachdem der Angeklagte ihr zunächst mehrere Schläge versetzte - sodann auch kam. Ohne Berücksichtigung solcher gewichtig gegen ihre Unfähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens sprechenden Umstände erweist sich die Beweiswürdigung als lückenhaft.

(3) Die gebotene Gesamtbetrachtung gilt im Übrigen auch vor dem Hintergrund, dass die Strafkammer die Bekundungen der Nebenklägerinnen in der Hauptverhandlung „nicht herangezogen“ hat, weil jeweils „in Zusammenschau mit den Ausführungen der Sachverständigen“ erhebliche Zweifel an deren Belastbarkeit bestünden. Zustand und Aussageverhalten der Nebenklägerinnen in der Hauptverhandlung machen eine umfassende Würdigung ihrer Äußerungen in der konkreten Tatsituation nicht entbehrlich.

bb) Angesichts der rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung kann der Senat dahingestellt sein lassen, ob der (engeren) Auffassung in der Literatur zu folgen ist, wonach die Tatbestandsverwirklichung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB voraussetzt, dass das Opfer unfähig ist, jeglichen natürlichen Willen zu bilden (so MüKo-StGB/Renzikowski, aaO, Rn. 68). Der Senat neigt dazu nicht. Bereits der Wortlaut der Vorschrift, nach der auch Handlungen des Opfers selbst erfasst sind (vgl. dazu auch MüKo-StGB/Renzikowski, aaO, Rn. 73), bedingt notwendigerweise einen dahingehenden natürlichen Willen; der Gesetzeswortlaut hebt zudem - dem Schutzzweck der Norm entsprechend - maßgeblich auf die Unfähigkeit zur Bildung oder Äußerung eines „entgegenstehenden“ Willens ab.

d) Der Schuldspruch wegen Vergewaltigung ist insoweit aufzuheben; eine Schuldspruchänderung (§ 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB) kommt nicht in Betracht.

Strafbar nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB macht sich, wer es im Rahmen sexueller Handlungen ausnutzt, dass das Tatopfer aufgrund seines körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn der Täter hat sich dessen Zustimmung versichert. Eine dahingehend abschließende Bewertung scheidet allerdings hier aus, weil die Urteilsgründe schon die Angaben der Nebenklägerinnen zum Tatgeschehen nicht (Nebenklägerin B.) bzw. allenfalls bruchstückhaft (Nebenklägerin W.) mitteilen, was sich aufgrund der besonderen, in der Person der Zeuginnen liegenden Umstände als rechtlich bedenklich erweist (vgl. insoweit auch BGH, Urteil vom 27. April 2017 - 4 StR 434/16, juris Rn. 8 f.; Beschluss vom 17. Dezember 1982 - 3 StR 453/82, NStZ 1983, 133; MüKo-StPO/Wenske, § 267 Rn. 204 mwN).

e) Mit Aufhebung des Schuldspruchs wegen Vergewaltigung hinsichtlich der Taten II. 3 b) der Urteilsgründe (Fälle 2 und 3 der Anklage) entfällt auch die Verurteilung des Angeklagten wegen jeweils tateinheitlich begangener vorsätzlicher Körperverletzungen.

2. Der Rechtsfolgenausspruch hat insgesamt keinen Bestand.

a) Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht die Aufhebung des Ausspruchs über die für die Taten II. 3 b) der Urteilsgründe (Fälle 2 und 3 der Anklage) verhängten Einzelstrafen mit den zugehörigen Feststellungen nach sich. Dies entzieht auch dem Gesamtstrafausspruch und der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung die Grundlage.

b) Um dem neuen Tatgericht - insbesondere mit Blick auf den zeitlichen und inneren Zusammenhang der Sexualstraftaten - eine einheitliche Entscheidung über die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe zu ermöglichen, hebt der Senat auch die Einzelstrafaussprüche zu den Taten II. 3 a) der Urteilsgründe (Fälle 1 und 4 der Anklage) auf.

III.

Soweit das neue Tatgericht die Wertung in Betracht ziehen sollte, die Nebenklägerinnen W. und B. seien zu den jeweiligen Tatzeitpunkten in der Bildung oder Äußerung ihres Willens im Sinne von § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB erheblich eingeschränkt gewesen, weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Auf Grundlage einer ebenfalls umfassenden Gesamtbetrachtung wäre insbesondere zu prüfen, ob sich der Angeklagte tatbestandsausschließend der Zustimmung der Nebenklägerinnen zu den durchgeführten sexuellen Handlungen versichert haben könnte.

aa) Ein Ausschluss der Tatbestandsverwirklichung nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die Zustimmung der geschützten Person zur jeweiligen sexuellen Handlung dergestalt vor deren Vornahme eingeholt und nicht zurückgenommen wurde, dass diese ihren entsprechenden eigenen „natürlichen Willen“ ausdrücklich oder konkludent erklärt hat und aus objektiver Sicht „kein vernünftiger Zweifel an der Zustimmung“ besteht (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 24 f.; BeckOK-StGB/Ziegler, 54. Ed., § 177 Rn. 23 f.; MüKo-StGB/Renzikowski, aaO, Rn. 80 ff.). Zu bedenken ist dabei, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch in ihren Fähigkeiten erheblich eingeschränkte Personen grundsätzlich zu einer wirksamen Zustimmung in der Lage sind (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 24 f.; kritisch insoweit Matt/Renzikowski/Eschelbach, aaO, Rn. 48; MüKo-StGB/Renzikowski, aaO, Rn. 75: „klarer Selbstwiderspruch“).

Bei der Feststellung des natürlichen Willens ist das sich insgesamt zeichnende Bild des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen (vgl. BeckOK-StGB/Ziegler, aaO, Rn. 25). Bedeutung entfalten könnten insoweit ein dominantes und gewalttätiges Auftreten des Angeklagten, das freilich im Kontext der angefragten sadomasochistischen Sexualpraktiken zu sehen wäre, und ein möglicherweise durch akuten Suchtdruck bestimmtes Handeln der Nebenklägerinnen. Nicht bedeutsam ist hingegen, wie der Wille der erheblich eingeschränkten Person moralisch zu bewerten ist oder ob er „unsinnig“ erscheint (vgl. Schönke/Schröder/Eisele, aaO, Rn. 37; kritisch insoweit auch MüKo-StGB/ Renzikowski, aaO, Rn. 81).

bb) Der Gesetzeswortlaut verlangt im Übrigen, dass sich der Täter der Zustimmung des Opfers „versichert“ hat. Das sich bei einer Gesamtbetrachtung zeichnende Verhältnis zwischen Täter und Opfer ist danach auch in die Bewertung der inneren Tatseite einzustellen.

b) Sofern nicht von der Möglichkeit einer Beschränkung des Verfahrensstoffes Gebrauch gemacht wird, wäre im Hinblick auf etwaige, jeweils tateinheitlich verwirklichte Körperverletzungen zum Nachteil der Nebenklägerinnen W. und B. gemäß § 223 Abs. 1 StGB - unbeschadet der durch § 228 StGB weit gesteckten Grenzen (vgl. hierzu Senat, Urteile vom 26. Mai 2004 - 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 169 zu sadomasochistischen Handlungen; vom 15. August 2018 - 2 StR 152/18, NStZ-RR 2018, 314) - die Einwilligungsfähigkeit der Nebenklägerinnen eingehender zu prüfen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1008

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 341

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede