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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 524/02, Urteil v. 27.03.2003, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 524/02 - Urteil vom 27. März 2003 (LG Traunstein)

Beweiswürdigung (Grenzen der Revisibilität; erschöpfende; Aussage gegen Aussage; fehlende Aussagekonstanz und Maßstab bei der Prüfung eines möglichen Belastungsmotivs; Aussagepsychologie; Gleichgewichtsmerkmal).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (vgl. § 337 StPO). Ein sachlich-rechtlicher Fehler kann indessen dann vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muss insbesondere auch erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Aus den Urteilsgründen muss sich zudem ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 16, 24, Überzeugungsbildung 30). Schließlich hängt der dem Tatgericht abzuverlangende Begründungsaufwand von der jeweiligen Beweislage ab (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2003 - 5 StR 39/03; siehe zur Situation "Aussage gegen Aussage" BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257).

2. Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muss er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, dass der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewusst falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257).

3. Bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer Zeugenaussage kommt es hinsichtlich eines möglichen Rachemotivs darauf an, ob sie als Motiv für eine Falschbezichtigung des Angeklagten ausgeschlossen oder jedenfalls für wenig wahrscheinlich erachtet werden kann, nicht hingegen darauf, dass sich das Gericht von einem Rachemotiv überzeugen kann. Für die Begutachtung ist eine Analyse der Aussagemotivation erforderlich sowohl für den Fall, dass die Aussage subjektiv (nach der Vorstellung des Zeugen) wahr ist, als auch für den Fall, dass sie bewusst falsch ist. In diesem Zusammenhang kommt dem sog. Gleichgewichtsmerkmal besonderes Gewicht zu: Verzichtet der Zeuge auf solche Mehrbelastungen, die ihm möglich wären und dann nicht widerlegt werden könnten, und weisen seine Angaben zugleich auch selbstbelastende Elemente auf, so spricht dies gegen eine falsche Belastung. Aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen lässt sich jedoch nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage schließen (BGHSt 45, 164, 175).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 15. Juli 2002 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Vom Vorwurf dreier weiterer Vergewaltigungen und einer vorsätzlichen Körperverletzung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen die Verurteilung. Das Rechtsmittel ist begründet.

I.

1. Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte entschloß sich am 30. Juni 2000 nach einem heftigen Streit, sich endgültig von seiner Freundin, der Zeugin B., zu trennen. Er forderte sie auf, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Nachdem er selbst aus der Wohnung gegangen war und wieder zurückkehrte, fand er die Zeugin dort noch auf dem Bett liegend vor. Er entschloß sich nun, mit ihr geschlechtlich zu verkehren. Dies entsprang nicht einem Wunsch nach Versöhnung, sondern war als Bestrafung gedacht.

Als er begann, der Zeugin mit einer Hand die Hose herunterzuziehen, wehrte sich diese und sagte, daß sie nichts von ihm wolle. Der Angeklagte packte die Zeugin an den Füßen, drehte sie in die Bauchlage und führte sowohl den vaginalen als auch den analen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß an ihr durch, obwohl die Zeugin schrie und ihn aufforderte, damit aufzuhören. Die Ausführung des Verkehrs erfolgte "in roher Weise". Die Zeugin blutete im Genitalbereich und trug blutende Haarrisse in der Haut der Scheidenwand davon.

Kurz darauf erklärte er der Zeugin, er werde ihre Sachen aus dem Fenster werfen, wenn sie nicht innerhalb von fünfzehn Minuten die Wohnung verließe.

2. Bei ihrer Beweisführung gegen den bestreitenden Angeklagten folgt die Strafkammer im wesentlichen der Aussage der Zeugin B. Zwar hat der von ihr zugezogene aussagepsychologische Sachverständige W. ausgeführt, die Aussage der Zeugin könne aus aussagepsychologischer Sicht nicht als verläßlich angesehen werden. Die Kammer geht indessen dennoch von deren Glaubhaftigkeit aus und stellt dabei auf die sonstigen Ergebnisse der Beweisaufnahme, namentlich außerhalb der Aussage liegende Beweisanzeichen ab.

3. Der Freispruch von den Vorwürfen dreier zeitlich vorgelagerter Vergewaltigungen zum Nachteil der Zeugin B. gründet im wesentlichen darin, daß die Strafkammer insoweit Zweifel an der uneingeschränkten Glaubhaftigkeit der entsprechenden Angaben der Zeugin B. nicht zu überwinden vermochte.

Der aussagepsychologische Sachverständige W. ist davon ausgegangen, daß die Bekundungen der Zeugin B. zum Kerngeschehen zu wenig detailliert seien; zum Teil hat er auch Widersprüche in den verschiedenen Aussagen der Zeugin aufgezeigt. Er hat auch insoweit die sog. "Nullhypothese" für nicht widerlegt gehalten (vgl. BGHSt 45, 164, 167/168). Die Kammer hält schließlich für möglich, daß die Zeugin Gewaltanwendung des Angeklagten, die in der Beziehung nicht unüblich war, mit den Sexualakten vermengt oder verknüpft habe; möglicherweise sei dies unbewußt geschehen.

II.

Die der Verurteilung des Angeklagten (Fall 4 der Anklage) zugrundeliegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Obgleich sie sehr ausführlich ist, begegnet sie durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (vgl. § 337 StPO). Ein sachlich-rechtlicher Fehler kann indessen dann vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muß insbesondere auch erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Aus den Urteilsgründen muß sich zudem ergeben, daß die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 16, 24, Überzeugungsbildung 30; BGH NStZ 2000, 48). Schließlich hängt der dem Tatgericht abzuverlangende Begründungsaufwand von der jeweiligen Beweislage ab (vgl. BGH, Beschluß vom 26. Februar 2003 - 5 StR 39/03; siehe zur Situation "Aussage gegen Aussage" BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257). Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muß er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, daß der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewußt falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257).

2. Diesen Maßstäben wird die Würdigung der Strafkammer nicht vollends gerecht. Freilich war die Beweissituation im vorliegenden Fall ungewöhnlich schwierig. Es stand nicht nur Aussage gegen Aussage. Allein aufgrund der Analyse der Bekundungen der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin B. konnten sowohl die Strafkammer als auch der mit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung zunächst beauftragte Sachverständige W., dem die Kammer trotz eines methodenkritischen weiteren Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. S. gefolgt ist, die Angaben der Zeugin nicht als zuverlässig bewerten.

Diese waren nämlich zum Kerngeschehen und insbesondere zur Gewaltanwendung nicht hinreichend detailliert. Das war der wesentliche Grund für die Freisprüche von den zeitlich vorgelagerten Vorwürfen. Zu der konfliktreichen Beziehung der Zeugin zum Angeklagten kamen weitere für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung bedeutsame Umstände hinzu: Es gab konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Motivs für eine bewußte Falschbelastung.

Die Zeugin war, insbesondere durch Angehörige, zu der Strafanzeige gedrängt worden; sie hatte überdies ihren Vater - möglicherweise zu Unrecht - bezichtigt, sie früher sexuell mißbraucht zu haben. Die psychiatrische Sachverständige hat ihr hysteroide Persönlichkeitszüge attestiert. Aus alldem ergeben sich hier besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung.

a) Die Strafkammer hätte bei der Beweiswürdigung zum Fall 4 der Anklage (Verurteilung) im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen auch diejenigen Umstände erkennbar in die Bewertung mit einbeziehen müssen, welche sie mit bewogen haben, den Angeklagten von den weiteren Vergewaltigungsvorwürfen freizusprechen. Dieses Erfordernis ergab sich hier auch daraus, daß die Kammer in jenen Fällen eine Vermengung von anderweitiger Gewaltanwendung des Angeklagten mit Sexualakten durch die Zeugin B. für möglich gehalten hat. Sie hat dabei nicht hinreichend verdeutlicht, ob die Zeugin verschiedene Sachverhalte etwa auch bewußt verknüpft haben könnte.

In den mit Freispruch entschiedenen Fällen hat der aussagepsychologische Sachverständige W. teils die erforderlichen Realkennzeichen und die nötige Aussagekonstanz vermißt, des weiteren teilweise auch Widersprüche hervorgehoben. Insoweit ist ihm die Strafkammer gefolgt. Sie hat darüber hinaus zum Fall 1 der Anklage ausgeführt, die von der Zeugin B. beschriebenen Ohrfeigen könnten plausibel auch ihrem vorangegangenen Streit mit dem Angeklagten zugeordnet werden und wären "einer gedanklichen Übertragung auf die Durchführung der Sexualakte zugänglich" (UA S. 98). In der Beweiswürdigung zum Fall 2 der Anklage hebt die Strafkammer hervor, sie könne die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Schläge im Verlaufe eines Eifersuchtsstreites erfolgten und die anschließenden Geschlechtsakte von der Zeugin widerwillig und ohne für den Angeklagten erkennbaren Widerstand vollzogen worden seien, die Zeugin schließlich die Schläge - "auch eventuell unbewußt" - mit den Sexualakten verknüpft habe (UA S. 106). Im Fall 3 der Anklage begründet die Strafkammer den Freispruch unter anderem ähnlich damit, sie könne nicht ausschließen, daß die Zeugin B. frühere sexuelle Vorgänge mit dem Bruder des Angeklagten und dessen Freund, mit denen sie einvernehmlich und zu dritt sexuellen Verkehr hatte, "mit erkennbaren Verdrängungstendenzen erinnert" und "möglicherweise unbewußt" mit ihren Erinnerungen zu dem Vorfall mit dem Angeklagten "vermengt" habe (UA S. 150).

Diese Formulierungen lassen offen, ob die Zeugin etwa gar bewußt eine Verknüpfung anderweitiger Gewaltanwendung mit dem Geschlechts- bzw. Analverkehr vorgenommen hat ("eventuell unbewußt", "möglicherweise unbewußt").

Wäre dem so, hätte das Auswirkungen auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zum Fall 4 der Anklage, in dem der Angeklagte verurteilt worden ist. Deshalb hätte das Landgericht diese Frage beantworten und gegebenenfalls in die Gesamtwürdigung aller Beweise einbeziehen müssen (vgl. dazu BGH NStZ 2000, 551, 552). Der Senat hat erwogen, ob die in Rede stehenden Wendungen sinngemäß dahin verstanden werden können, daß die Strafkammer allein von einer unbewußten Verknüpfung von Sachverhalten ausgegangen ist, also nur diese für möglich gehalten hat und eine bewußte Vermengung ausschließen wollte. Wegen des Zusammenhangs mit den nachfolgend aufgeführten Mängeln der Beweiswürdigung vermag er dies jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit anzunehmen.

b) Die Strafkammer hat - da konkrete Umstände dazu Anlaß gaben - zu Recht geprüft, ob die Zeugin B. ein Motiv hatte, den Angeklagten zu Unrecht zu belasten ("Rachehypothese"). Ihre Erwägungen lassen jedoch besorgen, daß sie von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem so nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist.

aa) Die Kammer führt im Zusammenhang mit der Würdigung der Aussage der Zeugin B. zum Fall 4 der Anklage aus, sie habe sich nicht von einer Rachsucht der Zeugin als möglichem Motiv einer Falschaussage überzeugen können (UA S. 78). Dieser Ansatz ist nicht tragfähig. Es kam vielmehr - anders gewendet - darauf an, ob Rache als Motiv für eine Falschbezichtigung des Angeklagten ausgeschlossen oder jedenfalls für wenig wahrscheinlich erachtet werden konnte.

bb) Darüber hinaus läßt die in diesem Zusammenhang gebrauchte Wendung, ein Rachemotiv sei generell keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage (UA S. 79 unten) befürchten, die Strafkammer könne von einem so nicht bestehenden allgemeingültigen Erfahrungssatz ausgegangen sein und sich über gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinweggesetzt haben.

Rache kann - je nach Lage des Einzelfalles - ein Beweggrund für eine unwahre Anschuldigung sein. Richtig ist allerdings, daß ein Vergewaltigungsopfer auch in berechtigtem Zorn auf den Vergewaltiger mittels wahrer Aussage dessen Bestrafung erstreben kann. Insofern kann Rache als Motiv für eine Beschuldigung durchaus ambivalent sein. Aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen läßt sich deswegen nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage schließen (BGHSt 45, 164, 175). In der Aussagepsychologie ist anerkannt, daß die "Rachehypothese" im Rahmen der Begutachtung bei der sog. Motivationsanalyse als mögliche Quelle einer fehlerhaften Aussage bei konkreten Anhaltspunkten - wie sie hier vorliegen - als naheliegende Möglichkeit mit zu bedenken ist (vgl. BGHSt 45, 164, 173). Rachetendenzen, die etwa auch nur zu Übertreibungen führen, kommen seit jeher vor und können immer wieder beobachtet werden (siehe nur Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 3. Aufl., S. 97). Dessen ungeachtet ist gleichermaßen bekannt, daß häufig zu Unrecht ein Rachemotiv vermutet wird (ders. aaO). Rachegefühle müssen indes nicht zu einer unwahren Aussage oder zu Übertreibungen führen; sie können auch bei einer wahren Aussage vorhanden sein, aber von der Aussageperson beherrscht werden.

Für die Begutachtung ist eine Analyse der Aussagemotivation erforderlich sowohl für den Fall, daß die Aussage subjektiv (nach der Vorstellung des Zeugen) wahr ist, als auch für den Fall, daß sie bewußt falsch ist (vgl. Greuel/ Offe u.a., Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S. 173; siehe auch Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht Bd. 1, 2. Aufl. Rdn. 204). In diesem Zusammenhang kommt dem sog. Gleichgewichtsmerkmal besonderes Gewicht zu: Verzichtet der Zeuge auf solche Mehrbelastungen, die ihm möglich wären und dann nicht widerlegt werden könnten, und weisen seine Angaben zugleich auch selbstbelastende Elemente auf, so spricht dies gegen eine falsche Belastung (vgl. Bender/Nack, aaO Rdn. 279).

Der Tatrichter ist bei konkreten Anhaltspunkten für Rache als Motiv einer Falschbelastung gehalten, diese naheliegende Möglichkeit zu prüfen. Er ist dabei freilich nicht an die strikten methodischen Vorgaben gebunden, die für den aussagepsychologischen Sachverständigen und seine hypothesengeleitete Begutachtung als Standard gelten (vgl. BGHSt 45, 164). Für ihn gilt der Grundsatz freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Mitbestimmend hierfür sind indes die in der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Anforderungen, daß insbesondere seine Beweiswürdigung auch insoweit je nach der Beweislage im übrigen erschöpfend zu sein hat; sie darf nicht lückenhaft sein und erörterungsbedürftige Möglichkeiten unerwogen lassen. Sie darf schließlich anerkannten Erfahrungssätzen der Aussagepsychologie nicht widerstreiten. Zieht der Tatrichter allerdings einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu, so gilt dasselbe wie für die Würdigung aller Sachverständigengutachten: Will er dem Gutachten folgen, so muß er in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben. Einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgrün den bedarf es regelmäßig nicht (BGHSt 45, 164, 182). Folgt der Tatrichter dem Gutachten nicht, so muß er die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende Auffassung begründen. Lehnt er ein Gutachten ab und folgt einem anderen, etwa im Blick auf die Beweisergebnisse im übrigen, so muß er auch hierfür die Gründe angeben (vgl. nur BGHSt 34, 29, 31; BGH NStZ 2000, 550; 2001, 45; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 267 Rdn. 13 m.w.N.).

Das Landgericht hat sich zwar ausführlich mit den gutachtlichen Äußerungen der beiden aussagepsychologischen und der psychiatrischen Sachverständigen auseinandergesetzt. Der von ihm aufgestellte Grundsatz, ein Rachemotiv sei "generell" keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage, besteht indessen so nicht. Die Strafkammer hat überdies zwar einige auffällige Gesichtspunkte angeführt, derentwegen sie sich überzeugt sieht, daß die Zeugin B. keine rachegeleitete Falschaussage getätigt habe. Das geschieht aber nicht im Rahmen der gebotenen umfassenden Bewertung, insbesondere - bei zum Teil gegenläufigen Sachverständigenbewertungen - nicht im Hinblick auf das sog. Gleichgewichtsmerkmal. Diese Erwägungen vermögen im Blick auf die vorangestellten maßstäblichen Wendungen (keine "Überzeugung" von einem Rachemotiv, das zudem "generell keine taugliche Hypothese" für eine Falschaussage sei) mithin nicht die Besorgnis auszuräumen, die Strafkammer könne von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen sein.

c) Die Strafkammer prüft zu Recht, ob die Zeugin B., nachdem sie aus ihrer Familie zur Strafanzeige gedrängt wurde, tatsächlich stattgefundene nicht einverständliche sexuelle Handlungen als - worauf es entscheidend ankommt - durch Gewalt erzwungen geschildert hat. Diese Möglichkeit widerlegt die Strafkammer insbesondere mit zwei Kurzmitteilungen (SMS-Short Message Service), die die Zeugin B. mittels Mobiltelefon im Zusammenhang mit der Tat im Fall 4 an ihre Freundin M. versandt habe. Das wäre tragfähig, wenn die Strafkammer näher dargelegt hätte, daß die zweite - aufgrund ihres Inhalts beweiskräftige - Nachricht tatsächlich im Zusammenhang mit der Tat übermittelt wurde. Daran fehlt es aber.

Die Strafkammer würdigt eine Abweichung zwischen den Angaben der Zeugin B. und der Zeugin M. hierzu nicht ausdrücklich. M. hat bekundet, sie habe von der Zeugin B. zwei SMS-Kurzmitteilungen auf ihrem Mobiltelefon erhalten: Die erste mit dem Text "Hilfe"; die zweite mit dem Hinweis, vergewaltigt worden zu sein. Die Zeugin B. hat sich nicht an diese zweite Kurzmitteilung erinnern können (UA S. 56 ff.). Das erscheint bei einem außergewöhnlichen Ereignis wie dem hier in Rede stehenden eher ungewöhnlich.

Da die Strafkammer sich bei ihrer Beweisführung aber auch auf die zweite Kurzmitteilung stützt (UA S. 60), hätte sie sich auch mit dem Nichterinnern der Zeugin B. in seiner Bedeutung für die Beweiswürdigung auseinandersetzen müssen.

d) Ähnlich verhält es sich mit der Bedeutung einer etwaigen Falschbezichtigung des Vaters der Zeugin durch diese: Die Zeugin hatte u.a. gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Bi. eingeräumt, ihren Vater früher zu Unrecht des sexuellen Mißbrauchs zu ihrem Nachteil beschuldigt zu haben. Solche Vorwürfe gegen ihren Vater hatte sie unter anderem gegenüber einer Freundin, gegenüber der Ehefrau des Zahnarztes, bei dem sie tätig war, und bei ihrer Nervenärztin erhoben. Die Strafkammer hat sich außerstande gesehen, davon auszugehen, daß die Zeugin ihren Vater "bewußt wahrheitswidrig" des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt habe: Diese Frage müsse offenbleiben. Hypothetisch müsse erwogen werden, daß der Mißbrauch zutreffend sei und die Zeugin sich nicht mehr in der Lage sehe, dies zu offenbaren (UA S. 74).

Diese Würdigung läßt für sich gesehen besorgen, daß die Strafkammer die Frage einer bewußt wahrheitswidrigen Bezichtigung des Vaters in ihrer Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin im abgeurteilten Fall 4 der Anklage nicht hinreichend bedacht hat. Selbst wenn die Strafkammer meinte dahinstellen zu sollen, ob die Bezichtigung zutraf oder nicht, hätte sie im Rahmen einer Gesamtschau auch auf die Bedeutung dieses Vorgangs für die Beweiswürdigung im Fall 4 der Anklage eingehen müssen.

Dabei hätte sie, wenn sie den anderweitigen Vorwurf der Zeugin gegen ihren Vater nicht meinte klären zu können, auch dessen Unwahrheit in Betracht ziehen und diese Möglichkeit in eine Gesamtbewertung der Beweislage einstellen müssen. Denn daraus hätten sich Zweifel an der Richtigkeit der Aussage im Fall 4 der Anklage ergeben können.

3. Auf diesen rechtserheblichen Erörterungsmängeln kann das angefochtene Urteil beruhen. Der Senat sieht sich angesichts der Besonderheiten des Falles und der ersichtlich schwierigen Beweissituation nicht in der Lage, diese Mängel auch bei verständiger Lesart der betroffenen Urteilsstellen und der Betrachtung des gesamten Urteilszusammenhanges teils lediglich als Fassungsmängel, teils als weniger bedeutsame Einzelheiten zu begreifen und für nicht durchgreifend zu erachten. Zwar standen der Strafkammer im Fall 4 der Anklage gewichtige Beweisanzeichen außerhalb der Aussage der Zeugin zur Verfügung, insbesondere der von der Gynäkologin zeitnah diagnostizierte achtförmige Blutschaum um Anus und Scheide, deren Verursachung bei einem in der vorausgegangenen Nacht möglicherweise stattgefundenen einvernehmlichen Verkehr eher fernliegend erscheint. Der Senat vermag jedoch angesichts der übrigen substantiellen Bedenken gegen die Aussage der Zeugin, insbesondere der Detailarmut der Schilderung zum Kerngeschehen, nicht sicher auszuschließen, daß die Bewertung im Ergebnis hätte anders ausfallen können, wenn der Tatrichter die genannten Gesichtspunkte ausdrücklich in eine abschließende Würdigung aller Umstände mit einbezogen hätte und von einem zutreffenden Ansatz zur Prüfung der Motivationslage der Zeugin für eine etwaige Falschaussage ausgegangen wäre. Das gilt zumal auch im Blick darauf, daß die neben den aussagepsychologischen Sachverständigen hinzugezogene psychiatrische Sachverständige Dr. Bi. - wenngleich wohl auf die Erstaussage der Zeugin bezogen - ausgeführt hat, die Aussage "müsse nicht falsch" sein; nur lasse sich schwer trennen, inwieweit sie auf Erlebtem oder Nichterlebtem beruhe. Die Aussagen der Zeugin seien in Belastungssituationen nicht zuverlässig.

Nach allem muß die Sache zum Fall 4 der Anklage neu verhandelt und entschieden werden. Der neue Tatrichter wird naheliegender Weise wieder den Rat eines forensisch hocherfahrenen aussagepsychologischen Sachverständigen in Anspruch nehmen. Die im freisprechenden - und rechtskräftigen - Teil des Ersturteils enthaltenen Feststellungen sind für ihn nicht bindend (§ 358 Abs. 1 StPO; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. Einl. Rdn. 170 m.w.N.).

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2003, 206; StV 2003, 486

Bearbeiter: Karsten Gaede