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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 31

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 197/20, Beschluss v. 11.11.2020, HRRS 2021 Nr. 31


BGH 5 StR 197/20 - Beschluss vom 11. November 2020 (LG Hamburg)

BGHSt 65, 155; regelmäßig kein Beruhen des Urteils bei unterlassener Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren (gleichwertige Alternative zum Verlesen der Urkunde; Verstoß gegen Verfahrensrecht; „Widerspruchslösung“).

§ 249 Abs. 2 StPO; § 238 Abs. 2 StPO; § 337 StPO

Leitsätze

1. Auf dem Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen, weil dieses Verfahren eine gleichwertige Alternative zum Verlesen einer Urkunde ist (Aufgabe von BGHSt 57, 306). (BGHSt)

2. Der Inhalt einer Urkunde erschließt sich gerade bei umfangreicheren Schriftstücken durch Selbstlesen regelmäßig besser als durch Zuhören beim Vorlesen. Beim Selbstlesen besteht die Möglichkeit, Pausen einzulegen, vor- und zurückzublättern, Passagen mehrfach zu lesen, diese zu markieren und sinnstiftende Zusammenhänge hervorzuheben. Da der Urkundenbeweis der Ermittlung des durch Lesen erfassbaren gedanklichen Inhalts eines Schriftstücks, sonstigen Schriftträgers oder einer elektronischen Urkunde dient, ist mit dem Selbstleseverfahren keine Einbuße an Qualität hinsichtlich des Beweiserhebungsvorgangs verbunden. (Bearbeiter)

3. Für den Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO gilt - wie bei § 238 Abs. 2 StPO -, dass das Unterlassen eines Gerichtsbeschlusses nach Anrufung des Gerichts die Revision regelmäßig nur begründet, wenn die beanstandete Maßnahme des Vorsitzenden gegen das Verfahrensrecht verstoßen hat. Dabei muss sich im Fall des § 249 Abs. 2 S. 2 StPO dieser Verstoß nicht auf die Einführung des Urkundeninhalts überhaupt („ob“), sondern auf die Einführung gerade im Wege des Selbstleseverfahrens („wie“) beziehen. (Bearbeiter)

4. Ein Rechtsfehler bei dieser Wahl ist nur in seltenen Ausnahmefällen denkbar, weil sich die Unterschiede in der Form der Beweiserhebung regelmäßig nicht in einem anderen Beweisinhalt niederschlagen und die Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten in beiden Fällen gewahrt bleiben. Anderes kann lediglich gelten, wenn sich gerade die besondere Form der Urkundeneinführung auswirkt, etwa weil der Angeklagte nicht lesen kann, er nicht auf die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt verzichtet hat und dieses Defizit auch nicht kompensiert worden ist. (Bearbeiter)

5. Ein Widerspruch gegen die Verwertung von Beweisen ist grundsätzlich zur Geltendmachung gesetzlich nicht geregelter disponibler Beweisverwertungsverbote erforderlich (sog. „Widerspruchslösung“, vgl. dazu aus neuerer Zeit BGH HRRS 2018 Nr. 637). Beschränkt sich der Widerspruch darauf, die Unverwertbarkeit eines Beweismittels geltend zu machen, bedarf es keiner Bescheidung in der Hauptverhandlung; die Frage der Verwertbarkeit kann der Schlussberatung vorbehalten bleiben. Anders kann es sein, wenn ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Anordnung des Vorsitzenden, einen Beweis zu erheben, vor Durchführung der Beweisaufnahme unter Verweis auf dessen Unverwertbarkeit beanstandet und der Vorsitzende nicht abhilft. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 30. Oktober 2019 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die mit Verfahrensrügen und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten ist im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO unbegründet (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts). Der Erörterung bedarf lediglich die Rüge, das Landgericht habe einen Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens entgegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht beschieden.

1. Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:

Der Vorsitzende traf am 13. Hauptverhandlungstag eine Anordnung zur Durchführung des Selbstleseverfahrens und verteilte Selbstleseordner an die Verfahrensbeteiligten. Inhaltlich ging es dabei um zwei Vermerke eines Kriminalbeamten über die Auswertung von Verkehrsdaten, zwei Vermerke eines weiteren Polizisten über Auswertungen von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung und ein Protokoll eines ins Deutsche übersetzten Telefongesprächs. Der Verteidiger beantragte, ihm bis zum nächsten Hauptverhandlungstag Gelegenheit zu geben, „der Selbstleseanordnung eventuell zu widersprechen“; dies wurde gewährt. Am folgenden Verhandlungstag erklärte der Verteidiger einen Widerspruch gegen die Einführung von Vermerken, in denen Inhalte von Telefongesprächen zusammengefasst werden, und beantragte, sämtliche in der Selbstlesemappe befindlichen verschrifteten Telefongespräche durch Abspielen in Augenschein zu nehmen. Einige der beanstandeten Telefongespräche waren schon vor Anordnung des Selbstleseverfahrens angehört worden. Am 19. Hauptverhandlungstag wurde das Selbstleseverfahren abgeschlossen. Eine Entscheidung über den Widerspruch erfolgte bis zum Urteil nicht. Dies rügt die Revision unter Bezugnahme auf den Beschluss des Senats vom 28. August 2012 (5 StR 251/12, BGHSt 57, 306) als Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO.

2. Die Rüge kann keinen Erfolg haben, denn auf einem bloßen Verstoß gegen die Bescheidungspflicht nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO kann ein Urteil regelmäßig nicht beruhen. An seiner entgegenstehenden Rechtsprechung (Beschluss vom 28. August 2012 - 5 StR 251/12, BGHSt 57, 306), der sich kein anderer Senat des Bundesgerichtshofs angeschlossen hat, hält der Senat nicht fest.

a) Auf einem Verstoß gegen Verfahrensrecht beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO), wenn nicht auszuschließen ist, dass sich der Verfahrensfehler auf die Entscheidung ausgewirkt hat (ausführlich Niemöller NStZ 2015, 489, 493). Die Beruhensprüfung bei Verstößen gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO bezieht sich dabei lediglich auf die Frage, ob bei alternativer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO ein abweichendes Ergebnis denkbar wäre, weil der Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens lediglich die Art und Weise der Beweiserhebung - Verlesen oder Selbstlesen - und nicht die Verwertung der Urkunden als solche betrifft (BGH, aaO, S. 309; abweichend Ventzke, StV 2014, 114, 117).

b) Regelmäßig ist auszuschließen, dass sich die Unterschiede bei der Erhebung des Urkundenbeweises nach § 249 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO auf das Urteil ausgewirkt haben (vgl. MüKoStPO/Kreicker, § 249 Rn. 82; LRStPO/Mosbacher, 27. Aufl., § 249 Rn. 111; ders., NStZ 2013, 199, 201; aA KKStPO/Diemer, 8. Aufl., § 249 Rn. 35; SSWStPO/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl., § 249 Rn. 46; Kudlich, JA 2012, 954, 956; Gössel JR 2013, 382, 383; unklar Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 249 Rn. 31). Denn nach der gesetzlichen Wertung sind das Verlesen nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO gleichwertig, das Verlesen von Urkunden also gegenüber dem Selbstleseverfahren keine vorzugswürdige Form der Erhebung des Urkundenbeweises (vgl. Arnoldi, NStZ 2013, 474, 475; Ventzke, StV 2014, 114, 118; Schlund, Das Selbstleseverfahren - Grund und Grenzen, 2018, S. 50 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 249 Rn. 17; MüKoStPO/Kreicker, § 249 Rn. 53; LRStPO/Mosbacher, 27. Aufl., § 249 Rn. 56 ff.; ders., NStZ 2013, 199, 202; abweichend SSWStPO/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl., § 249 Rn. 39).

aa) Der Gesetzgeber hat das Selbstleseverfahren nicht als sachliche Ausnahme vom Grundsatz des Verlesens nach § 249 Abs. 1 StPO konzipiert, sondern als gleichwertige Alternative (vgl. KKStPO/Diemer, 8. Aufl., § 249 Rn. 35; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 249 Rn. 17; Schlund, aaO, S. 75 ff.; Mosbacher, NStZ 2013, 199, 202).

(1) Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zur Regelung von § 249 Abs. 2 StPO in der heutigen Form. Dort heißt es: „… die Einführung einer Urkunde in die Hauptverhandlung nach Absatz 2 [bedeutet] gegenüber der Verlesung nach Absatz 1 keinen Verzicht auf ein Beweismittel oder auf eine nach der Vorstellung des Gesetzes höherwertige Art der Beweisaufnahme, sondern lediglich die Wahl zwischen zwei für die Prozessbeteiligten gleichwertigen Arten der Einführung eines Beweismittels in die Hauptverhandlung … Ebenso wenig kann Absatz 2 sachlich als eine Ausnahmeregelung vom Grundsatz des Absatzes 1 verstanden werden … Lediglich gesetzestechnisch stellt sich Absatz 2 als Ausnahme vom Verlesungsgebot des Absatzes 1 dar, sachlich sind beide Alternativen als gleichwertig anzusehen“ (BT-Drucks. 10/1313, S. 28).

(2) Aus der Einführung der Widerspruchsmöglichkeit in § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO im weiteren Gesetzgebungsverfahren durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ergibt sich nichts anderes.

Ursprünglich hatte der Gesetzgeber die Zulässigkeit des durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 vom 5. Oktober 1978 (BGBl. I S. 1645) eingeführten Selbstleseverfahrens an das Einverständnis der Verfahrensbeteiligten und die Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urkunden durch den Vorsitzenden geknüpft. Um die Akzeptanz des Selbstleseverfahrens in der Praxis zu fördern, wurde § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 vom 27. Januar 1987 (BGBl. I S. 475) in der heutigen Form eingeführt. Der Gesetzesvorschlag der Bundesregierung zu § 249 Abs. 2 StPO, der Ausgangspunkt der heute geltenden Regelung ist, sah einen Widerspruch zunächst nicht vor. Die Einführung der Widerspruchsmöglichkeit in der heute geltenden Form beruht auf einem unverändert übernommenen Vorschlag des Rechtsausschusses (vgl. BT-Drucks. 10/6592, S. 8). Zur Begründung hat der Rechtsausschuss ausgeführt, dass der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten und dem Verteidiger eine formalisierte Einflussnahme auf die Entscheidung, ob von der Verlesung abgesehen werden soll, weiterhin ermöglicht werden sollte (BT-Drucks. 10/6592, S. 22). Weiter heißt es: „Diese Regelung entspricht der des geltenden Rechts in § 273 Abs. 3 Satz 2 StPO für den Fall, daß der Vorsitzende einen Antrag auf wörtliche Protokollierung ablehnt. Ohne eine solche ausdrückliche Vorschrift könnte es zweifelhaft erscheinen, ob die Anordnung des Vorsitzenden, von der Verlesung abzusehen, sich als eine solche der Sachleitung im Sinne des § 238 Abs. 2 StPO darstellt und schon aus diesem Grunde die Anrufung des Gerichts zulässig wäre“ (BTDrucks. 10/6592, S. 23).

Der Gesetzgeber wollte den Verfahrensbeteiligten gegen die Entscheidung des Vorsitzenden, nach § 249 Abs. 2 StPO zu verfahren, einen förmlichen Zwischenrechtsbehelf an die Hand geben. Wie bei dem Vorbild des § 273 Abs. 3 Satz 2 StPO handelt es sich bei § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO demnach um eine Sondervorschrift zu dem engeren § 238 Abs. 2 StPO (vgl. zu § 273 StPO Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 273 Rn. 30; vgl. auch LRStPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 273 Rn. 60 mwN), wobei nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO anders als nach § 238 Abs. 2 StPO auch die Unzweckmäßigkeit der Maßnahme beanstandet werden kann (vgl. LRStPO/Mosbacher, 27. Aufl., § 249 Rn. 103).

Dass der Gesetzgeber den Widerspruch nur im Rahmen der Anwendung von § 249 Abs. 2 StPO vorsieht, findet seinen Grund in der Systematik beider Absätze. Weil § 249 Abs. 2 StPO gesetzestechnisch als Ausnahme vom Grundsatz der Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO formuliert worden ist, kann sich der Zwischenrechtsbehelf nur auf die Ausnahme, nicht aber auf den Grundsatz beziehen. Diese systematische Konzeption war dem Gesetzgeber bei der Regelung der Widerspruchsmöglichkeit bewusst (vgl. BT-Drucks. 10/1313, S. 28).

Der Rechtsausschuss hat in der Begründung seines Änderungsvorschlags die grundsätzlichen Erwägungen des Gesetzgebers zum Verhältnis von § 249 Abs. 1 zu § 249 Abs. 2 StPO nicht infrage gestellt (vgl. BT-Drucks. 10/6592, S. 22 f.). Das wäre aber zu erwarten gewesen, wenn der Rechtsausschuss dieses Verhältnis grundlegend anders gesehen hätte als der Regierungsentwurf. Durch die Beschlussfassung des Bundestags auf der Grundlage beider parlamentarischer Drucksachen ist der gesetzgeberische Wille zur Gleichstellung des Selbstleseverfahrens mit dem Verlesen von Urkunden klar zum Ausdruck gekommen.

bb) Die Einführung eines Urkundeninhalts im Wege des Selbstleseverfahrens ist gegenüber dem Verlesen weder im Hinblick auf den Beweiserhebungsvorgang noch in Bezug auf die Rechte der Verfahrensbeteiligten defizitär.

(1) Der Inhalt einer Urkunde erschließt sich gerade bei umfangreicheren Schriftstücken durch Selbstlesen regelmäßig besser als durch Zuhören beim Vorlesen (vgl. auch BT-Drucks. 10/1313, S. 28; MüKoStPO/Kreicker, § 249 Rn. 51). Beim Selbstlesen besteht die Möglichkeit, Pausen einzulegen, vor- und zurückzublättern, Passagen mehrfach zu lesen, diese zu markieren und sinnstiftende Zusammenhänge hervorzuheben (vgl. Arnoldi, NStZ 2013, 474, 475). Da der Urkundenbeweis der Ermittlung des durch Lesen erfassbaren gedanklichen Inhalts eines Schriftstücks, sonstigen Schriftträgers oder einer elektronischen Urkunde dient (vgl. LRStPO/Mosbacher, aaO, § 249 Rn. 1 mwN), ist mit dem Selbstleseverfahren keine Einbuße an Qualität hinsichtlich des Beweiserhebungsvorgangs verbunden.

(2) Ein weiterer Vorteil des Selbstleseverfahrens besteht darin, die Verfahrensdauer erheblich zu verkürzen, weil Selbstlesen regelmäßig weniger Zeit in Anspruch nimmt als Vorlesen und zu jeder Zeit außerhalb der Hauptverhandlung vorgenommen werden kann (vgl. Arnoldi, aaO, S. 475; LRStPO/Mosbacher, aaO, Rn. 57 mwN; Neumann, StRR 2015, 164). Gerade in Haftsachen kann die Durchführung des Selbstleseverfahrens in besonderer Weise eine der Verfahrensbeschleunigung dienende zusätzliche Konzentration des Prozessstoffs bewirken und deshalb vorzugswürdig sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2019 - StB 29/19 Rn. 23; vom 17. Juli 2019 - StB 18/19 Rn. 12).

(3) Demgegenüber geht die Durchführung des Selbstleseverfahrens im Vergleich zum Verlesen zwar mit Einschränkungen des Mündlichkeitsgrundsatzes einher (vgl. MüKoStPO/Kreicker, § 249 Rn. 51), lässt aber weitere Verfahrensgrundsätze im Wesentlichen unberührt (näher Mosbacher, aaO, Rn. 58 f. mwN; abweichend SSWStPO/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl., § 249 Rn. 39) und ist auch im Hinblick auf Verteidigungsbelange dem Verlesen von Urkunden nicht prinzipiell unterlegen (Ventzke, StV 2014, 114, 118; Mosbacher, NStZ 2013, 199, 202 f.; aA Kirchner, StraFo 2015, 52; Meyer-Lohkamp, StV 2014, 121, 123; Salditt, StraFo 2015, 1, 6; Knierim/Rettenmaier, StV 2006, 155, 157; Krahl GA 1998, 329). Insbesondere wird das Erklärungsrecht der Beteiligten (§ 257 StPO) durch das Selbstleseverfahren nicht beschränkt (MüKoStPO/Kreicker, § 249 Rn. 53), wie der Gesetzgeber bei Neuregelung des § 249 Abs. 2 StPO festgestellt hat: „Die prozessualen Rechte und Möglichkeiten der Prozeßbeteiligten, namentlich des Angeklagten, werden durch die Anwendung des § 249 Abs. 2 gegenüber der Verlesung nach § 249 Abs. 1 nicht beeinträchtigt. Die Prozeßbeteiligten können sich (vgl. dazu auch die vorgeschlagene Neufassung des § 257 Abs. 1) nach der Mitteilung der Verwertungsabsicht durch das Gericht und in ihren Schlussvorträgen zu dem Inhalt dieser Urkunden erklären“ (BT-Drucks. 10/1313, S. 28). Der Bedeutungsgehalt von § 257 StPO im Verhältnis zu § 249 Abs. 2 StPO ist im Lichte dieser Ausführungen des Gesetzgebers zu erschließen (vgl. Mosbacher, NStZ 2013, 199, 202).

c) Weil der Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO als besondere Form des Zwischenrechtsbehelfs gegen eine Entscheidung des Vorsitzenden konzipiert ist, gilt wie bei § 238 Abs. 2 StPO, dass das Unterlassen eines Gerichtsbeschlusses nach Anrufung des Gerichts die Revision regelmäßig nur begründet, wenn die beanstandete Maßnahme des Vorsitzenden gegen das Verfahrensrecht verstoßen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Februar 2019 - 5 StR 623/18; vgl. auch BGH, Urteil vom 23. April 1998 - 4 StR 57/98, BGHSt 44, 82, 91; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 238 Rn. 25; KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 238 Rn. 27; LRStPO/Becker, 27. Aufl., § 238 Rn. 49). Dabei muss sich im Fall des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO dieser Verstoß nicht auf die Einführung des Urkundeninhalts überhaupt („ob“), sondern auf die Einführung gerade im Wege des Selbstleseverfahrens („wie“) beziehen. Ein Rechtsfehler bei dieser Wahl ist nur in seltenen Ausnahmefällen denkbar, weil sich die Unterschiede in der Form der Beweiserhebung regelmäßig nicht in einem anderen Beweisinhalt niederschlagen und die Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten in beiden Fällen gewahrt bleiben.

Anderes kann lediglich gelten, wenn sich gerade die besondere Form der Urkundeneinführung auswirkt, etwa weil der Angeklagte nicht lesen kann, er nicht auf die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt verzichtet hat und dieses Defizit auch nicht (etwa durch einen „Vorleser“, vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300; LRStPO/Mosbacher, 27. Aufl., § 249 Rn. 80a f.) kompensiert worden ist. Derartige besondere Umstände sind vorliegend weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

d) Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob der „Widerspruch“ durch die Strafkammer nicht beschieden werden musste, weil er sich inhaltlich gegen die Beweisaufnahme durch Urkundenbeweis überhaupt und lediglich vor diesem Hintergrund gegen die Beweiserhebung in Form des Selbstleseverfahrens gerichtet haben könnte (ähnlich allerdings der Widerspruch in der von der Revision angeführten Entscheidung des Senats vom 28. August 2012 - 5 StR 251/12, BGHSt 57, 306). Dafür spricht trotz der Ankündigung, gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens eventuell Widerspruch erheben zu wollen, die Formulierung des Widerspruchs, wonach „… der Einführung und Verwertung nachfolgend im Einzelnen aufgeführter Urkunden durch Verlesung oder Einführung im Selbstleseverfahren widersprochen …“ werden soll. Auch in der Sitzungsniederschrift ist der Widerspruch als „Verwertungswiderspruch“ bezeichnet worden. Inhaltlich beschäftigt sich der Widerspruch überwiegend mit der Rüge möglicher Verstöße gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO).

Ein derartiger Widerspruch gegen die Verwertung von Beweisen wird vom Bundesgerichtshof regelmäßig zur Geltendmachung gesetzlich nicht geregelter disponibler Beweisverwertungsverbote verlangt (sogenannte „Widerspruchslösung“, vgl. dazu aus neuerer Zeit näher BGH, Urteil vom 9. Mai 2018 - 5 StR 17/18, NStZ 2018, 737; Berg, StraFo 2018, 327; Rode, StraFo 2018, 336; Wachter, JR 2019, 437). Beschränkt sich der Widerspruch darauf, die Unverwertbarkeit eines Beweismittels geltend zu machen, bedarf es keiner Bescheidung in der Hauptverhandlung; die Frage der Verwertbarkeit kann der Schlussberatung vorbehalten bleiben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. August 2007 - 1 StR 304/07, NStZ 2007, 719; vom 19. Oktober 2010 - 1 StR 462/10; BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 - 2 BvR 2025/07). Anders kann es sein, wenn ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Anordnung des Vorsitzenden, einen Beweis zu erheben, vor Durchführung der Beweisaufnahme unter Verweis auf dessen Unverwertbarkeit beanstandet und der Vorsitzende nicht abhilft (vgl. Berg, StraFo 2018, 327, 334; LRStPO/Becker, 27. Aufl., § 238 Rn. 11, 32 f.; KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 238 Rn. 13; Mosbacher, NStZ 2011, 606, 610; vgl. auch BGH, Urteil vom 24. März 1964 - 3 StR 60/63, BGHSt 19, 273, 280). Da die Rüge, bestimmte Urkundeninhalte hätten wegen Verstoßes gegen § 250 StPO nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden dürfen, keinen Widerspruch gegen die Beweisverwertung in der Hauptverhandlung erfordert (vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585), könnte der erhobene „Verwertungswiderspruch“ in erster Linie gegen die Einführung der Urkunden in die Hauptverhandlung gerichtet gewesen sein. Eine Rüge mit der Angriffsrichtung, eine solche Beanstandung sei entgegen § 238 Abs. 2 StPO nicht beschieden worden, hat der Revisionsführer indes nicht erhoben, so dass es nicht darauf ankommt, dass sie auch in der Sache keinen Erfolg gehabt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 31

Externe Fundstellen: BGHSt 65, 155; NJW 2021, 479; NStZ 2021, 246; StV 2021, 782

Bearbeiter: Christian Becker