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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 99

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 315/11, Beschluss v. 25.10.2011, HRRS 2012 Nr. 99


BGH 3 StR 315/11 - Beschluss vom 25. Oktober 2011 (auswärtige große Strafkammer des LG Kleve in Moers)

Mündlichkeitsprinzip; Inbegriff der Hauptverhandlung; Verlesung eines psychiatrischen Behandlungsberichts; Anordnung des Vorsitzenden (Antrag auf Entscheidung der Kammer; Rüge der Verletzung zwingenden Rechts).

§ 238 StPO; § 261 StPO; § 250 StPO; § 251 StPO; § 256 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Antrag nach § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der gesamten Kammer ist nicht Voraussetzung dafür, dass ein Verstoß gegen § 250 StPO mit der Revision zulässig geltend gemacht werden kann.

2. Bedarf eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses, so ist - falls der Vorsitzende die Maßnahme gleichwohl allein anordnet - schon der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 StPO nicht eröffnet. Es besteht demgemäß kein Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 StPO. Dieses kann damit auch nicht Voraussetzung einer zulässigen Rüge im Revisionsverfahren sein.

3. Die Verletzung zwingenden Rechts oder das Unterlassen unverzichtbarer Maßnahmen durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist.

4. Da es bei der Entscheidung des Vorsitzenden über die Zulässigkeit der Verlesung nach § 256 Abs. 1 StPO allein darum geht, die gegebenen Verfahrenstatsachen unter die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm zu subsumieren, handelt sich insoweit um die Anwendung zwingenden Rechts. Daher ist ein Verstoß auch dann revisibel, wenn nicht gemäß § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der Kammer angetragen wurde.

5. Zwar ist dem Vorsitzenden im Falle des Vorliegens der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verlesung gem. § 256 Abs. 1 StPO bei der Entscheidung über die Verlesung ein Ermessensspielraum eröffnet. Dies ändert jedoch an der Verzichtbarkeit des Antrags nach § 238 Abs. 2 StPO nichts, soweit die Revision lediglich rügt, dass schon die - keinen Ermessenspielrum eröffnenden - Voraussetzungen der Norm nicht vorgelegen hätten, und nicht die Ausübung des Ermessens durch den Vorsitzenden angreift. 5. Der Senat lässt offen, ob er sich dem Ansatz des 1. Strafsenats anzuschließen vermöchte, wonach die Verletzung eines Rechts, auf das der Angeklagte nach seinem Belieben verzichten kann, mit der Revision nur rügbar ist, wenn der Angeklagte zuvor nach § 238 Abs. 2 StPO auf eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers angetragen hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der auswärtigen großen Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers vom 6. April 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und Bedrohung sowie wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

I. Die Revision beanstandet zu Recht, das Landgericht habe seiner Entscheidung unter Verstoß gegen § 250 StPO Erkenntnisse zugrunde gelegt, die nicht durch Verlesung in die Hauptverhandlung hätten eingeführt werden dürfen.

1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Das Landgericht vernahm im Verlauf der eintägigen Hauptverhandlung die Nebenklägerin zu den Tatvorwürfen. Während dieser Vernehmung wurde auf Anordnung des Vorsitzenden in Auszügen ein Bericht über die psychotraumatologische und allgemeinpsychiatrische Behandlung der Nebenklägerin verlesen, der von Ärzten eines Krankenhauses in der Trägerschaft einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung erstellt worden war. Die Verlesung wurde von keinem Verfahrensbeteiligten als unzulässig beanstandet. Ein Gerichtsbeschluss über die Verlesung erging nicht. In den Urteilsgründen zog das Landgericht den Bericht als Beleg für die Folgen der Taten und für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin heran, die in wesentlichen Teilen in Widerspruch zu denen des überwiegend nicht geständigen Angeklagten standen. Es führte aus, der Umstand, dass die Nebenklägerin von Vergewaltigungen des Angeklagten nicht sogleich berichtet habe, sei auf ihre erhebliche Traumatisierung zurückzuführen, die durch den mittels Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführten Bericht bestätigt worden sei.

2. Dies beanstandet die Revision zu Recht.

a) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist die Rüge zulässig erhoben. Es bedurfte keines Vortrags, dass in der Hauptverhandlung gegen die Anordnung des Vorsitzenden, den Bericht zu verlesen, durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger gemäß § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der gesamten Kammer angetragen worden sei; denn ein entsprechender Antrag ist nicht Voraussetzung dafür, dass der Verstoß gegen § 250 StPO mit der Revision zulässig geltend gemacht werden kann.

Dem Protokoll der Hauptverhandlung lässt sich nicht entnehmen, auf welcher rechtlichen Grundlage der Bericht "auszugsweise" verlesen wurde. Es erscheint bereits fraglich, ob ein (verteidigter) Angeklagter in einem Fall, in dem hierfür mehrere Verfahrensvorschriften in Betracht kommen, überhaupt verpflichtet sein kann zu prüfen, auf welche Norm der Vorsitzende sich gestützt haben könnte, und ihm, wenn insoweit (auch) eine Vorschrift in Betracht kommt, deren fehlerhafte Anwendung nur nach Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO mit der Revision gerügt werden kann, obliegt, vorsorglich diesen Zwischenrechtsbehelf zu erheben. Doch kann dies dahinstehen; denn die Verletzung beider Bestimmungen, auf die sich der Vorsitzende hier gestützt haben könnte, kann auch ohne Vorgehen nach § 238 Abs. 2 StPO mit der Revision zulässig beanstandet werden. Im Einzelnen:

aa) Sollte der Vorsitzende - wofür allerdings nichts ersichtlich ist und was angesichts der Umstände eher fernliegt - § 251 Abs. 1 StPO herangezogen haben, so bedurfte seine Anordnung schon wegen der mit ihr verbundenen Kompetenzüberschreitung keiner Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO.

(1) Gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO obliegt es nicht dem Vorsitzenden, sondern dem gesamten Spruchkörper, über die Verlesung nach § 251 Abs. 1 StPO zu beschließen. Bedarf aber eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses, so ist schon der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 StPO nicht eröffnet und es besteht demgemäß kein Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 StPO. Dieses kann damit auch nicht Voraussetzung einer zulässigen Rüge im Revisionsverfahren sein (vgl. BGH, Urteil vom 8. Oktober 1953 - 5 StR 245/53, BGHSt 4, 364, 366; Beschluss vom 20. Juli 2011 - 3 StR 44/11, NStZ 2011, 647). Einen Verstoß gegen § 250 StPO wegen einer kompetenzwidrigen Anordnung des Vorsitzenden auf der Grundlage des § 251 Abs. 1 StPO konnte der Angeklagte daher mit der Revision auch dann geltend machen, wenn er diese Verfahrensweise in der Hauptverhandlung nicht gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hatte (BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 657/98, NJW 1999, 1724, 1725, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 44, 361 ff.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. September 1979 - 5 StR 531/79; Beschluss vom 26. Februar 1988 - 4 StR 51/88, NStZ 1988, 283; Beschluss vom 14. März 2000 - 4 StR 3/00, BGHR StPO § 251 Abs. 4 Gerichtsbeschluss 4).

(2) Dies gilt auch dann, wenn der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zuzustimmen wäre, wonach die Verletzung eines Rechts, auf das der Angeklagte nach seinem Belieben verzichten kann, mit der Revision nur rügbar ist, wenn der Angeklagte zuvor nach § 238 Abs. 2 StPO auf eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers angetragen hat (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301). Zwar folgt aus § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, dass der Angeklagte unter den dort näher bestimmten Umständen auf die Einhaltung des Grundsatzes der persönlichen Vernehmung nach § 250 StPO verzichten kann. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO lässt aber einen Verzicht des Angeklagten (und seines Verteidigers) nicht genügen, sondern fordert ausdrücklich das Einverständnis der Staatsanwaltschaft und eine durch Beschlussfassung dokumentierte Ermessensentscheidung des gesamten Spruchkörpers zugunsten der Verlesung. Steht die Abweichung von einem Prozessgrundsatz unter solchen qualifizierten Voraussetzungen, so gibt das Gesetz damit zu erkennen, dass von seiner Einhaltung nicht formlos durch allseitiges Schweigen auf eine Anordnung des Vorsitzenden abgesehen werden kann. Entsprechend greifen die Erwägungen des 1. Strafsenats in dieser Konstellation nicht, ohne dass der Senat entscheiden müsste, ob er sich dem vom 1. Strafsenat vertretenen Ansatz als solchem anzuschließen vermöchte.

bb) Aber auch dann, wenn sich der Vorsitzende - was näher liegt - für die teilweise Verlesung des Berichts auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a oder Nr. 2 StPO gestützt haben sollte, könnte der Angeklagte mit seiner Revision zulässig geltend machen, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmungen für die Verlesung des Berichts nicht vorgelegen haben, obwohl er dies in der Hauptverhandlung nicht durch Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat (im Ergebnis ebenso BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 657/98, NJW 1999, 1724, 1725, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 44, 361 ff.).

Zwar trifft die Anordnung über die Verlesung eines Schriftstücks nach § 256 Abs. 1 StPO der Vorsitzende im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis nach § 238 Abs. 1 StPO (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 29). Soweit er hierbei über die Zulässigkeit der Verlesung befindet, hat er indes nach den bindenden Vorgaben des § 256 Abs. 1 StPO die gegebenen Verfahrenstatsachen unter die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm zu subsumieren. Es handelt sich insoweit mithin um die Anwendung zwingenden Rechts. Die Verletzung zwingenden Rechts oder das Unterlassen unverzichtbarer Maßnahmen durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist (BGH, Urteil vom 7. März 1996 - 4 StR 737/95, BGHSt 42, 73, 77 f.; Beschluss vom 9. März 2010 - 4 StR 606/09, BGHSt 55, 65, 69; s. etwa auch BGH, Urteil vom 11. November 2009 - 5 StR 530/08, BGHSt 54, 184, 185; Beschluss vom 27. April 2010 - 5 StR 460/08, StV 2010, 562; Beschluss vom 18. Januar 2011 - 3 StR 504/10, NStZ-RR 2011, 151). Es liegt somit keine Fallgestaltung vor, in der die Rechtsprechung die Erhebung eines Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO deshalb als Zulässigkeitsvoraussetzung einer späteren entsprechenden Revisionsrüge erachtet, weil dem Vorsitzenden bei der Bewertung der tatbestandlichen Voraussetzungen seiner prozessleitenden Anordnung ein Beurteilungsspielraum oder auf der Rechtsfolgenseite Ermessen zusteht, und die rechtsmittelbefugten anderen Prozessbeteiligten durch die Nichtbeanstandung der Maßnahme zu erkennen gegeben haben, dass sie den dem Vorsitzenden zustehenden Entscheidungsspielraum durch seine Anordnung nicht in unzulässiger Weise als überschritten ansehen (BGH, Urteil vom 16. November 2006 - 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144, 148; Beschluss vom 27. April 2010 - 1 StR 155/10; noch offen BGH, Urteil vom 27. Oktober 2005 - 4 StR 235/05, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 7; vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. März 2010 - 4 StR 606/09, BGHSt 55, 65, 69: "Bewertung der tatsächlichen Grundlagen" eines Verlöbnisses im Hinblick auf § 52 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 StPO). Die Revision macht nicht geltend, der Vorsitzende habe das ihm durch § 256 Abs. 1 StPO eingeräumte Ermessen ("Verlesen werden können ...") in unzulässiger Weise ausgeübt, sondern vielmehr, dass er die zwingenden tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlesung nach dieser Vorschrift verkannt habe.

Hinzu kommt hier folgendes: Wird gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein ärztliches Attest verlesen, so wird sich regelmäßig erst in der Urteilsberatung ergeben, ob das Gericht das Schriftstück allein zum Nachweis einer Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört, heranzieht oder - unter Überschreitung der durch die Bestimmung gezogenen Grenzen - unzulässig als Beleg für darüber hinausgehende Umstände verwertet. Für den Angeklagten wird ein solcher Rechtsfehler erst aus den schriftlichen Urteilsgründen ersichtlich, mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem er von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO keinen Gebrauch mehr machen kann. Dieser kann daher schwerlich Zulässigkeitsvoraussetzung einer Rüge der Verletzung des § 250 StPO sein (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2008 - 3 StR 429/08, BGHR StPO § 59 Abs. 1 Rügevoraussetzungen 2; ähnlich BGH, Urteil vom 29. März 1955 - 2 StR 406/54, BGHSt 7, 281, 282 f.). Zwar lag der Sachverhalt hier ausnahmsweise anders, weil der verlesene Bericht keine Aussagen zu einer Körperverletzung enthielt, die nicht zu den schweren zählt, so dass seine Verlesung nicht auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt werden konnte. Dies rechtfertigt indes keine Relativierung obiger Überlegungen; denn im Interesse der Rechtsklarheit muss die Frage, ob die zulässige Rüge einer Verletzung von § 256 Abs. 1 Nr. 2, § 250 StPO die Erhebung des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO in der tatrichterlichen Hauptverhandlung voraussetzt, nicht nach - tatsächlich schwer abgrenzbaren - Einzelfallumständen entschieden, sondern einheitlich behandelt werden.

b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet.

Die Vernehmung der die Nebenklägerin behandelnden Ärzte durfte nach § 250 StPO nicht durch die Verlesung ihrer schriftlichen Erklärung ersetzt werden. Einer der in § 251 StPO oder § 256 Abs. 1 StPO genannten Fälle, der die Einführung mittels Urkundenbeweises ausnahmsweise erlaubte, lag nicht vor. Insbesondere handelte es sich bei dem Bericht weder um das Zeugnis oder Gutachten einer öffentlichen Behörde noch diente er zum Nachweis einer Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört. Vielmehr zog ihn das Landgericht als Beleg für die Folgen insbesondere der von ihm festgestellten Vergewaltigungen und für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin heran.

Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen § 250 StPO. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht die Folgen der von ihm festgestellten Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die Glaubhaftigkeit der für eine Verurteilung in allen Fällen maßgeblichen Angaben der Nebenklägerin anders eingeschätzt hätte, wenn es sich über das Vorliegen bzw. Art und Umfang einer Traumatisierung als einem medizinischen Befund prozessordnungsgemäß durch Vernehmung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen unterrichtet hätte.

II. Das Urteil ist auf die zulässige und begründete Verfahrensrüge insgesamt mit den von der Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO), ohne dass es noch auf die von der Revision weiter vorgetragenen Beanstandungen ankäme. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

Ob deutsches Strafrecht nach den §§ 3 ff. StGB Anwendung findet, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens offen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Nebenklägerin - wie für eine Eröffnung der deutschen Strafgewalt nach § 7 Abs. 1 StGB erforderlich - deutsche Staatsangehörige ist. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, dem das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege zugrunde liegt (BGH, Urteil vom 7. Februar 1995 - 1 StR 681/94, NJW 1995, 1844, 1845), ist bisher nicht hinreichend geklärt. Zum einen fehlen Erkenntnisse dazu, der Angeklagte werde, obwohl die Tat auslieferungsfähig sei, nicht ausgeliefert, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt oder die Auslieferung nicht ausführbar sei. Zum anderen ist unklar, ob die vom Angeklagten begangenen Taten in der Türkei mit Strafe bedroht sind, wobei der Senat dazu neigt, trotz des für alle Varianten des § 7 StGB einheitlichen Bezugs auf eine "am Tatort mit Strafe" bedrohte Tat im Falle des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte davon abhängig zu machen, dass die Tat am Tatort nicht nur strafbar, sondern auch verfolgbar ist (offen BGH, Beschluss vom 24. Juni 1992 - StB 8/92, BGHR StGB § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 1; Beschluss vom 31. März 1993 - StB 4/93, BGHR StGB § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 2; Beschluss vom 8. März 2000 - 3 StR 437/99, BGHR StGB § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 4).

Sollte das Landgericht sich von der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nicht überzeugen können, wird das Verfahren in den Fällen II. 2. a) und II. 2. b) wegen eines von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses im Sinne des § 260 Abs. 3 StPO einzustellen sein (BGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - 3 StR 472/85, BGHSt 34, 1, 3; Urteil vom 7. Februar 1995 - 1 StR 681/94, NJW 1995, 1844, 1845).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 99

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 585; StV 2012, 202

Bearbeiter: Ulf Buermeyer