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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 931

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 15/20, Beschluss v. 23.04.2020, HRRS 2020 Nr. 931


BGH 1 StR 15/20 - Beschluss vom 23. April 2020 (LG Augsburg)

BGHSt 65, 5; Berücksichtigung einer EU-ausländischen Strafe bei der Strafzumessung (konkrete Bezifferung des Nachteils; Bemessung des Nachteilsausgleichs im Urteil: Orientierung an den allgemein Strafzumessungsgründen bei der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe, keine Betrachtung der EU-ausländischen Rechtspraxis und der örtlichen Bedingungen erforderlich).

Art. 3 Abs. 1 EURaBes 2008/675; § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB; § 55 Abs. 1 StGB; § 46 Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 2 Satz 1 StPO

Leitsätze

1. Der Ausgleich für die fehlende Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung mit einer (noch nicht vollständig vollstreckten) EU-ausländischen Strafe ist im Falle der Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe bei der Strafzumessung konkret - durch eine Bezifferung des Nachteils - vorzunehmen. (BGHSt)

2. Der bislang vorgenommene unbezifferte Härteausgleich dürfte Art. 3 Abs. 1 EURaBes 2008/675 und der vom EuGH geforderten Gleichsetzung inländischer und ausländischer Strafen bei der Strafzumessung nicht ausreichend Rechnung tragen. (Bearbeiter)

3. Auf welche Weise der Tatrichter den Ausgleich konkret bestimmt, steht in seinem Ermessen. Er kann den Umstand, dass eine Gesamtstrafenbildung mit der früheren Strafe ausscheidet, unmittelbar bei der Festsetzung der neuen Strafe - unter Bezifferung des abzuziehenden Teils - berücksichtigen oder etwa auch von einer unter Heranziehung der ausländischen Strafe gebildeten „fiktiven Gesamtstrafe“ ausgehen und diese um die ausländische Strafe mindern. Erforderlich ist nur, dass er einen angemessenen Ausgleich vornimmt und diesen - vergleichbar der Gesamtstrafenbildung nach §§ 54, 55 StGB - in den Urteilsgründen beziffert und begründet. (Bearbeiter)

4. Für die Bemessung des Nachteilsausgleichs gilt Folgendes: Eine vollständige Anrechnung der ausländischen Strafen ist grundsätzlich nicht erforderlich. Entscheidend für den Umfang des Ausgleichs ist vielmehr der durch die Unmöglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafenbildung tatsächlich eintretende Nachteil. Es ist Sache des Tatrichters, diesen im Rahmen der Strafzumessung zu bestimmen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die auch bei einer Gesamtstrafenbildung aus inländischen Strafen maßgeblichen Strafzumessungskriterien zu beachten, so dass der einer ausländischen Vorverurteilung zugrundeliegende Sachverhalt in der Regel ebenso wie der Vollstreckungsstand festzustellen ist. Auch der Umstand einer Aussetzung der ausländischen (Freiheits-)Strafe zur Bewährung wird bei der Bestimmung des Nachteils in den Blick zu nehmen sein. (Bearbeiter)

5. Demgegenüber wird es im Regelfall nicht erforderlich sein, das Gewicht des durch ihre Vollstreckung drohenden Übels dadurch näher zu bestimmen, dass die ausländische Strafrechtsordnung und die tatsächliche Praxis und die Bedingungen vor Ort - namentlich die Strafaussetzungspraxis, die Strafvollzugsbedingungen oder etwaige Amnestieregelungen - näher in den Blick genommen werden. Denn - wie der Europäische Gerichtshof ausgeführt hat - ist die ausländische Strafe grundsätzlich so zu berücksichtigen, wie sie von dem EU-Mitgliedstaat verhängt wurde. Eine - wie auch immer ausgestaltete - Transformation in das deutsche Recht findet nicht statt. Das folgt aus dem europarechtlichen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 2. Oktober 2019 im Strafausspruch aufgehoben; die zugehörigen Feststellungen bleiben jedoch aufrecht erhalten.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Zudem hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 6.000 € angeordnet.

Hiergegen richtet sich die auf den Strafausspruch beschränkte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am 20. Februar 2001 brachte der Angeklagte den Geschädigten unter Vorhalten eines Messers dazu, ihm die Schlüssel für dessen Pkw zu überlassen, um den Pkw sodann an sich zu nehmen und dauerhaft zu behalten. Bereits am Folgetag verursachte der Angeklagte mit dem Fahrzeug, das einen Wert von 6.000 € hatte, einen Unfall; dieses erlitt einen Totalschaden.

Der Angeklagte ist italienischer Staatsangehöriger und in Italien mehrfach vorbestraft. Die Verurteilungen durch die italienischen Strafgerichte hat das Landgericht in den Urteilsgründen so dargestellt, dass es den ins Deutsche übersetzten italienischen Strafregisterauszug einkopiert hat. Weitergehende Feststellungen zu den italienischen Vorverurteilungen hat es nicht getroffen.

Aus dem Registerauszug ergeben sich zwölf Verurteilungen des Angeklagten, die teilweise vor (Verurteilungen Nrn. 1 bis 9 des Registerauszugs) und teilweise nach (Verurteilungen Nrn. 10 bis 12 des Registerauszugs) der Tatzeit im vorliegenden Verfahren liegen. In dem Auszug enthalten sind weder die Tatzeiten für sämtliche den Verurteilungen zugrundeliegenden Taten noch ergibt sich aus ihm, inwiefern aus den jeweils verhängten Sanktionen Gesamtstrafen gebildet wurden; zudem werden im Rahmen der einzelnen Verurteilungen in der Regel mehrere Strafen aufgeführt, deren Verhältnis zueinander ebenfalls unklar bleibt. Von 2005 bis 2012 befand sich der Angeklagte zur Vollstreckung einiger dieser Strafen (wohl aus den Verurteilungen Nrn. 1 bis 4, 6 und 8 bis 10 des Registerauszugs) in Italien im Strafvollzug; die Vollstreckung der Strafen aus den beiden letzten Verurteilungen (Nrn. 11 und 12 des Registerauszugs) steht offenbar noch aus. Insoweit wurde der Angeklagte am 7. Juli 2015 (Nr. 11 des Registerauszugs) wegen Diebstahlsund Waffendelikten zu verschiedenen Strafen, u.a. zu Freiheitsstrafen von zwei Jahren sowie von vier Monaten, verurteilt und am 3. August 2015 (Nr. 12 des Registerauszugs) wurden gegen ihn wegen Flucht aus amtlichem Gewahrsam (Tatzeit 2. August 2015) ebenfalls verschiedene Sanktionen verhängt, u.a. eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten. Aus den durch die genannten Verurteilungen verhängten Strafen wurde - zumindest mutmaßlich - am 17. Mai 2016 eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten gebildet. Darauf, dass diese vollstreckt worden wäre, findet sich weder in dem Registerauszug noch in den sonstigen Urteilsfeststellungen ein Hinweis.

Die italienischen Vorverurteilungen hat das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung strafmildernd dergestalt berücksichtigt, dass der Angeklagte nach Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat wegen der „Verurteilungen in Italien dort eine mehrjährige Haftstrafe zu verbüßen“ hatte (UA S. 55).

II.

1. Das Urteil hält im Strafausspruch sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Dies folgt bereits daraus, dass das Landgericht bei der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten darauf abgehoben hat, dass eine Schadenswiedergutmachung nicht erfolgt sei. Diese Erwägung ist durchgreifend rechtsfehlerhaft, da die Strafkammer damit das Fehlen von Strafmilderungsgründen - eine Schadenswiedergutmachung - strafschärfend berücksichtigt (vgl. BGH, Urteile vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Motiv 2 Rn. 17 und vom 29. März 2012 - 3 StR 422/11 Rn. 10; Beschlüsse vom 23. März 2011 - 2 StR 35/11 Rn. 3 und vom 30. März 2011 - 5 StR 12/11 Rn. 8; zudem LK/Schneider, StGB, 13. Aufl., § 46 Rn. 62).

2. Die zugrundeliegenden Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch stehende Feststellungen bleiben zulässig.

III.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat hinsichtlich eines Nachteilsausgleichs im Hinblick auf eine - nach deutschem Recht - an sich gegebene Gesamtstrafenfähigkeit mit der italienischen Vorverurteilung vom 7. Juli 2015 (Nr. 11 des Registerauszugs) auf Folgendes hin:

1. Dem Angeklagten droht (zusätzlich) eine Vollstreckung der durch das Urteil des Berufungsgerichts Neapel vom 7. Juli 2015 u.a. verhängten Freiheitsstrafen von zwei Jahren und von vier Monaten (Verurteilung Nr. 11 des Registerauszugs). Mit diesen Strafen hätte - sofern es sich um eine Verurteilung durch ein deutsches Gericht handeln würde - nach Wegfall der Zäsurwirkung der durch das Urteil des Berufungsgerichts Neapel vom 18. Juni 2007 verhängten Strafe (Verurteilung Nr. 10 des Registerauszugs) infolge deren Vollstreckung - nach deutschem Recht - eine Gesamtstrafe gebildet werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November 2013 - 4 StR 426/13 Rn. 2).

Eine Gesamtstrafenbildung mit ausländischen Strafen scheidet jedoch aus; da die Einbeziehung in eine neue Gesamtstrafe dazu führt, dass die frühere Verurteilung nicht mehr vollstreckt werden darf, ist sie aufgrund des damit verbundenen Eingriffs in die Rechtskraft der ausländischen Verurteilung und die Vollstreckungshoheit des ausländischen Staates aus völkerrechtlichen Gründen unzulässig (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2018 - 1 StR 599/17, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 23 Rn. 5; Urteil vom 30. April 1997 - 1 StR 105/97 Rn. 2, BGHSt 43, 79; vgl. zudem LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 5; van Gemmeren, JR 2010, 132; Mosig, Nachteilsausgleich bei nicht möglicher Gesamtstrafenbildung, S. 87 ff.).

2. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Nachteilen, die dadurch entstehen, dass eine Gesamtstrafenbildung mit der ausländischen Strafe nicht möglich ist, im Rahmen der Strafzumessung regelmäßig durch einen - unbezifferten - Härteausgleich Rechnung zu tragen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 1 StR 508/18 Rn. 6 mwN und im Anschluss daran Beschlüsse vom 28. Januar 2020 - 4 StR 599/19 und vom 3. Juli 2019 - 4 StR 256/19; vgl. auch LK/Schneider, StGB, 13. Aufl., Vorbemerkungen zu den §§ 46 bis 50 Rn. 3).

a) Dem liegt - bezogen auf mehrere durch inländische Gerichte verhängte Strafen - der allgemeine Gedanke zugrunde, dass, wenn nach § 55 StGB eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung an sich möglich ist, sie aber an zufälligen, vom Täter nicht beeinflussbaren Umständen scheitert, die darin liegende Härte bei der Bemessung der zuletzt zu verhängenden Strafe auszugleichen ist (st. Rspr.; vgl. im Einzelnen BGH, Urteil vom 30. April 1997 - 1 StR 105/97 Rn. 3 f., BGHSt 43, 79, 80 mwN; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2008 - 2 BvR 1532/07 Rn. 5). Denn der Täter soll durch den Zufall gemeinsamer oder getrennter Aburteilung weder besser noch schlechter gestellt werden (BGH aaO Rn. 5 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist diesem Rechtsgedanken auch dann Rechnung zu tragen, wenn eine im Ausland und eine im Inland begangene Straftat jedenfalls vom zeitlichen Ablauf her gleichzeitig hätten abgeurteilt werden können; denn auch insoweit hängt die getrennte oder gemeinsame Aburteilung von Umständen ab, auf die der Angeklagte keinen Einfluss hat, wie insbesondere nationale Regelungen über den Geltungsbereich des jeweiligen Strafrechts; eine Schlechterstellung des Angeklagten ist daher nicht gerechtfertigt (vgl. BGH aaO Rn. 6 und Beschluss vom 15. März 2000 - 1 StR 483/99 Rn. 11).

b) Geht es um frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, ergibt sich dies nunmehr auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 26; ebenso Urteil vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 26 ff.). Hiernach haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass frühere in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen in gleichem Maße bei der Strafzumessung berücksichtigt werden wie nach innerstaatlichem Recht im Inland erfolgte frühere Verurteilungen (vgl. EuGH, Urteile vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 26 und vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 28). Dieser Grundsatz soll stets und ohne weitere Bedingungen gelten. Daher kann es für die Frage der Berücksichtigung EU-ausländischer Verurteilungen auch nicht - wie vor den genannten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs teilweise vertreten (vgl. insbesondere BGH, Urteil vom 10. Juni 2009 - 2 StR 386/08) - darauf ankommen, ob für die im Ausland begangenen und abgeurteilten Taten auch ein Gerichtsstand in Deutschland eröffnet gewesen wäre (so bereits BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 1 StR 508/18 Rn. 6; ebenso nunmehr BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2020 - 4 StR 599/19 und vom 3. Juli 2019 - 4 StR 256/19).

3. Aus der von dem Europäischen Gerichtshof geforderten Gleichsetzung inländischer und ausländischer Strafen bei der Strafzumessung folgt aus Sicht des Senats darüber hinaus, dass bei der Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe die - nach diesem „stets und ohne weitere Bedingungen geltenden“ Grundsatz - an sich gebotene Gesamtstrafenbildung im Falle von EU-ausländischen Vorverurteilungen bei der Strafzumessung konkret - durch eine Bezifferung des Nachteils - vorzunehmen ist. Der bislang vorgenommene unbezifferte Härteausgleich dürfte diesem - gleichsam absolut formulierten - Grundsatz nicht ausreichend Rechnung tragen. Dafür sind folgende Überlegungen maßgeblich:

a) Der Europäische Gerichtshof bezieht sich in seinem Urteil vom 21. September 2017 (Rn. 25 ff.; ebenso EuGH, Urteil vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 27 ff.) auf den Rahmenbeschluss 2008/675 des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008 (Abl. EU 2008 Nr. L220, S. 32 ff.), in dem festgelegt wird, unter welchen Voraussetzungen frühere Verurteilungen, die in einem Mitgliedstaat gegen eine Person ergangen sind, in einem neuen Strafverfahren gegen dieselbe Person in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat zu berücksichtigen sind (Art. 1 Abs. 1 Rahmenbeschluss).

Nach Art. 3 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses unter Berücksichtigung des Erwägungsgrundes fünf dieses Beschlusses haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass dabei frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen, zu denen im Rahmen geltender Rechtsinstrumente über die Rechtshilfe oder den Austausch von Informationen aus Strafregistern Auskünfte eingeholt wurden, zum einen in dem Maß berücksichtigt werden wie nach innerstaatlichem Recht im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass ihnen zum anderen gleichwertige tatsächliche beziehungsweise verfahrens- oder materiellrechtliche Wirkungen zuerkannt werden wie nach diesem Recht im Inland ergangene frühere Verurteilungen (vgl. EuGH, Urteile vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 26 und vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 28). Diese Verpflichtung gilt gemäß Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses im Stadium vor dem Strafverfahren, im Strafverfahren selbst und bei der Strafvollstreckung insbesondere im Hinblick auf die anwendbaren Verfahrensvorschriften einschließlich der Vorschriften über die rechtliche Einordnung des Tatbestands, Art und Umfang der Strafe sowie die Vollstreckungsvorschriften. Damit ergibt sich aus den Erwägungsgründen zwei und sieben dieses Rahmenbeschlusses, dass das innerstaatliche Gericht, auch, um die Einzelheiten des Strafvollzugs entsprechend festlegen zu können, die in den anderen Mitgliedstaaten ergangenen Verurteilungen heranziehen können muss und dass diese Verurteilungen in jeder dieser Phasen des Verfahrens gleichwertige Wirkungen entfalten sollten wie im Inland ergangene Entscheidungen (EuGH, Urteile vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 27 und vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 29).

Der Rahmenbeschluss 2008/675 wurde mit Gesetz vom 2. Oktober 2009 (Umsetzungsgesetz Rahmenbeschlüsse Einziehung und Vorverurteilungen) in Deutschland umgesetzt (BGBl. I 2009 Nr. 66, S. 3214 ff.). Dabei wurde allerdings vom Gesetzgeber im Hinblick auf Art. 3 des Rahmenbeschlusses kein Änderungsbedarf gesehen, da ein Ausgleich für die infolge der getrennten Aburteilung entstehende Härte bereits von der Rechtsprechung praktiziert werde (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2009, BT-Drucks. 16/13673, S. 5).

b) Aus der vom Europäischen Gerichtshof nunmehr vorgenommenen Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/675 folgt nach Auffassung des Senats, dass die Art und Weise der Berücksichtigung EU-ausländischer Vorverurteilungen möglichst weitgehend derjenigen inländischer Vorverurteilungen anzugleichen ist.

Im Falle einer inländischen Vorverurteilung wäre - so auch im vorliegenden Fall - nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden; dies scheidet jedoch bei ausländischen Vorverurteilungen - wie bereits dargelegt - aus. Um einer - nachträglichen - Gesamtstrafenbildung, bei der aus konkret bezifferten Einzelstrafen - durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe - eine ebenfalls konkret zu beziffernde Gesamtstrafe gebildet wird (§§ 54, 55 StGB), möglichst nahe zu kommen, ist es aus Sicht des Senats erforderlich, den aus der fehlenden Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret auszuweisen und von der neu zu verhängenden (Gesamt-)Strafe in Abzug zu bringen. Dafür spricht, dass es sich bei der Gesamtstrafenbildung um einen eigenständigen, gesamtstrafenspezifischen Zumessungsakt handelt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 - 1 StR 415/19 Rn. 3; Urteil vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15 Rn. 20; jeweils mwN), der grundsätzlich auch isoliert anfechtbar ist (BGH, Urteile vom 28. Februar 2013 - 4 StR 537/12 Rn. 6; vom 28. März 2012 - 2 StR 16/12 Rn. 7 und vom 8. September 1999 - 3 StR 285/99 Rn. 3). Für die Bemessung der nachträglich zu bildenden Gesamtstrafe gelten die Grundsätze des § 54 StGB (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 2003 - 2 StR 125/03 Rn. 5; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 30; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 55 Rn. 14).

Auf welche Weise der Tatrichter den Ausgleich konkret bestimmt, steht dabei in seinem Ermessen. Er kann den Umstand, dass eine Gesamtstrafenbildung mit der früheren Strafe ausscheidet, unmittelbar bei der Festsetzung der neuen Strafe - unter Bezifferung des abzuziehenden Teils - berücksichtigen oder etwa auch von einer unter Heranziehung der ausländischen Strafe gebildeten „fiktiven Gesamtstrafe“ ausgehen und diese um die ausländische Strafe mindern. Erforderlich ist nur, dass er einen angemessenen Ausgleich vornimmt und diesen - vergleichbar der Gesamtstrafenbildung nach §§ 54, 55 StGB - in den Urteilsgründen beziffert und begründet. Dadurch wird die Transparenz hinsichtlich des gewährten Nachteilsausgleichs, aber auch bezüglich der Straffestsetzung insgesamt erhöht. Dies ermöglicht auch die gebotene Überprüfung der „Gesamtstrafenbildung“ durch das Revisionsgericht.

c) Für die Bemessung des Nachteilsausgleichs gilt Folgendes:

aa) Eine vollständige Anrechnung der ausländischen Strafen ist grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Januar 2010 - 2 StR 403/09 Rn. 9; vgl. auch BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2009 - 5 StR 433/09, BGHSt 54, 259 Rn. 13; van Gemmeren, JR 2010, 132, 134). Entscheidend für den Umfang des Ausgleichs ist vielmehr der durch die Unmöglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafenbildung tatsächlich eintretende Nachteil (van Gemmeren aaO mwN). Es ist Sache des Tatrichters, diesen im Rahmen der Strafzumessung zu bestimmen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die auch bei einer Gesamtstrafenbildung aus inländischen Strafen maßgeblichen Strafzumessungskriterien zu beachten, so dass der einer ausländischen Vorverurteilung zugrundeliegende Sachverhalt in der Regel ebenso wie der Vollstreckungsstand festzustellen sind. Auch der Umstand einer Aussetzung der ausländischen (Freiheits-)Strafe zur Bewährung wird bei der Bestimmung des Nachteils in den Blick zu nehmen sein.

bb) Demgegenüber wird es im Regelfall nicht erforderlich sein, das Gewicht des durch ihre Vollstreckung drohenden Übels dadurch näher zu bestimmen, dass die ausländische Strafrechtsordnung und die tatsächliche Praxis und die Bedingungen vor Ort - namentlich die Strafaussetzungspraxis, die Strafvollzugsbedingungen oder etwaige Amnestieregelungen - näher in den Blick genommen werden. Denn - wie der Europäische Gerichtshof ausgeführt hat - ist die ausländische Strafe grundsätzlich so zu berücksichtigen wie sie von dem EU-Mitgliedstaat verhängt wurde (vgl. EuGH, Urteile vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 36 ff., 44 ff. und vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 38 ff., 45). Eine - wie auch immer ausgestaltete - Transformation in das deutsche Recht findet nicht statt (vgl. EuGH aaO).

Hintergrund ist, dass mit dem Rahmenbeschluss 2008/675, wie in seinem zweiten Erwägungsgrund ausgeführt wird, der in Art. 82 Abs. 1 AEUV vorgesehene Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen in Strafsachen umgesetzt werden soll (vgl. EuGH, Urteile vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 36 und vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 38; näher zum Anerkennungsprinzip: Kloska, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht, S. 132 ff.). Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen beruht seinerseits auf dem Prinzip wechselseitigen Vertrauens in die Grundrechtskonformität des Verhaltens sämtlicher Mitgliedstaaten (vgl. Kloska aaO S. 225 ff.; Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., Einleitung Rn. 107). Beiden Grundsätzen kommt im Unionsrecht fundamentale Bedeutung zu, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019 - C-625/19 PPU Rn. 33). Die gegenseitige Anerkennung beruht auf der Prämisse, dass zwischen den Mitgliedstaaten ein gegenseitiges Vertrauen besteht im Sinne der Gewissheit, dass alle europäischen Bürger Zugang zu einem Justizwesen haben, das hohe Qualitätsnormen erfüllt (vgl. Schlussanträge vom 11. April 2019 - C-324/17 Rn. 79). Folglich verlangt sie, dass die Mitgliedstaaten, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten die im Unionsrecht anerkannten Grundsätze beachten, und impliziert, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sein können, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen (EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019 - C-625/19 PPU Rn. 33 mwN; Schlussanträge aaO). Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar (Schlussanträge aaO Rn. 80; vgl. den Hinweis auf den Grundrechtsschutz in Art. 1 Abs. 2 und Erwägungsgrund 12 Rahmenbeschluss 2008/675).

cc) Die europäischen Prinzipien der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens gebieten es daher, von der Einhaltung gemeinsamer Mindeststandards durch die EU-Mitgliedstaaten und einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit der europäischen Strafrechtsordnungen in dem einheitlichen Rechtsraum auszugehen. Nur wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese Vergleichbarkeit im Einzelfall nicht gegeben ist, hat das Tatgericht hinsichtlich der Strafaussetzungspraxis, der Strafvollzugsbedingungen oder auch etwaiger Amnestieregelungen weitergehende Feststellungen zu treffen.

4. Die Strafzumessung des Landgerichts genügt diesen Anforderungen nicht, indem es die noch nicht vollstreckten Strafen gar nicht in seine Betrachtung einbezogen, sondern lediglich die in Italien - in der Vergangenheit von 2005 bis 2012 - verbüßte Haft zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt hat. Das neue Tatgericht wird daher den Nachteil, den der Angeklagte durch die (zusätzlich) drohende Vollstreckung der durch das Urteil des Berufungsgerichts Neapel vom 7. Juli 2015 u.a. verhängten Freiheitsstrafen von zwei Jahren und von vier Monaten (Verurteilung Nr. 11 des Registerauszugs) zu erwarten hat, in den Blick zu nehmen haben. Um den aus der fehlenden Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil bemessen zu können, sind konkrete Feststellungen zu dieser Vorverurteilung notwendig.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 931

Externe Fundstellen: BGHSt 65, 5; NJW 2020, 3185; NStZ 2021, 217

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede