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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 629

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 462/18, Urteil v. 13.03.2019, HRRS 2019 Nr. 629


BGH 2 StR 462/18 - Urteil vom 13. März 2019 (LG Marburg)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (besondere Anforderungen in Fällen von „Aussage gegen Aussage“); absolute Revisionsgründe (Nichtanwendung oder Verletzung der Vorschriften über den möglichen Ausschluss der Öffentlichkeit).

§ 261 StPO; § 338 Nr. 6 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO setzt voraus, dass unter Nichtanwendung oder Verletzung der Vorschriften über den möglichen Ausschluss der Öffentlichkeit öffentlich verhandelt worden ist.

2. Der eingeschränkte revisionsgerichtliche Prüfungsmaßstab gilt auch hinsichtlich der an die Würdigung des Beweisergebnisses zu stellenden besonderen Anforderungen, wenn Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben der Tatrichter folgt. Erforderlich sind insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung eines gegebenenfalls feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben. Die Anforderungen an eine umfassende Würdigung der festgestellten Tatsachen sind bei einem Freispruch nicht geringer als im Fall der Verurteilung.

Entscheidungstenor

Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Marburg vom 25. Mai 2018 wird verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Die unverändert zugelassene Anklage legt dem Angeklagten Folgendes zur Last:

1. In einer nicht näher bestimmbaren Nacht im Juli 2005 habe der Angeklagte während eines Familienurlaubs die Nebenklägerin unter ihrer Kleidung an der Brust und im Intimbereich berührt, was diese nicht gewollt und versucht habe, den Angeklagten wegzuschubsen. Der Angeklagte habe sie aber von hinten an sich herangezogen und mehrere Finger in ihre Vagina eingeführt.

2. Im Dezember 2005 habe die Nebenklägerin in einer Gaststätte ein Praktikum absolviert, in der der Angeklagte gearbeitet habe. In dieser Zeit sei der Angeklagte in einer nicht näher bestimmbaren Nacht gegen 1:00 Uhr von hinten an die Nebenklägerin herangetreten, habe ihr zunächst über der Kleidung an die Brust gefasst und sie sodann mit Kraft in den Vorraum der Toilette gezogen. Dort habe er sie um den Körper gefasst, hochgehoben und gegen einen Tisch gedrückt, seine und ihre Hose heruntergezogen und ihr seinen Penis mit Gewalt in den After eingeführt. Der Angeklagte habe der Nebenklägerin dabei mit einer Hand in den Schritt gefasst und mit der anderen deren Hüfte ergriffen. Er sei in der Nebenklägerin zum Samenerguss gekommen. Die Nebenklägerin habe bis zum kommenden Tag andauernde Schmerzen gehabt sowie Hämatome an den Armen und Beinen.

Darüber hinaus lag dem Angeklagten zur Last, an einem Morgen im Mai oder Juni 2006 in seiner Wohnung auf der Couch mit der Geschädigten gegen deren Willen Analverkehr vollzogen zu haben, was der Angeklagte aber nach kurzer Zeit beendet habe, weil seine Ehefrau und deren Mutter von einem Einkauf zurückgekehrt seien. Insoweit hat das Landgericht das Verfahren „vorläufig“ gemäß § 154 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 StPO im Hinblick auf die übrigen Tatvorwürfe eingestellt.

II.

Das Landgericht hat sich keine Überzeugung davon zu bilden vermocht, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat. Zwar habe die Nebenklägerin in ihrer Aussage vor der Strafkammer die Vorwürfe bekräftigt. Auch habe deren aussagepsychologische Begutachtung die These einer intentionalen oder einer vollständig nichtintentionalen Falschaussage nicht bestätigt. Gleichwohl seien nach der durchgeführten Beweisaufnahme erhebliche Zweifel verblieben; die bestreitende Einlassung des Angeklagten habe nicht widerlegt werden können.

III.

Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig (§ 400 Abs. 1 StPO), hat aber in der Sache keinen Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

Zu Unrecht sieht die Revision einen Verstoß gegen § 171b Abs. 3 Satz 1 StPO darin, dass das Landgericht die Öffentlichkeit bei der Inaugenscheinnahme von Tonbandaufzeichnungen früherer Vernehmungen der Geschädigten - anders als bei deren Vernehmung in der Hauptverhandlung - nicht ausgeschlossen hat.

a) Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO liegt nicht vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt dieser voraus, dass unter Nichtanwendung oder Verletzung der Vorschriften über den möglichen Ausschluss der Öffentlichkeit öffentlich verhandelt worden ist (vgl. nur BGH, Urteile vom 8. Februar 1957 - 1 StR 375/56, BGHSt 10, 202, 206 f.; vom 19. Dezember 2006 - 1 StR 583/06, NStZ 2007, 328).

b) Mit Blick auf eine Verletzung von Verfahrensrecht im Sinne des § 337 StPO kann der Senat ausschließen, dass der Freispruch des Angeklagten auf einem etwaigen Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Oktober 1993 - 3 StR 512/93, NStZ 1994, 230 [K]). Im Übrigen sind Entscheidungen gemäß § 171b Abs. 1 und 2 GVG gemäß § 171b Abs. 3 GVG unanfechtbar und daher gemäß § 336 Satz 2 StPO der Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2006 aaO).

2. Soweit sich die Revision der Nebenklägerin mit der Sachrüge gegen die Beweiswürdigung wendet, bleibt sie ebenfalls ohne Erfolg.

a) Eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 6. September 2016 - 1 StR 104/15, wistra 2017, 193; vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148, jeweils mwN) erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als nicht rechtsfehlerhaft. Dies gilt auch hinsichtlich der an die Würdigung des Beweisergebnisses zu stellenden besonderen Anforderungen, wenn, wie im vorliegenden Fall, Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben der Tatrichter folgt. Erforderlich sind insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung eines gegebenenfalls feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (Senat, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 92/14, NStZ-RR 2015, 52; Urteil vom 7. März 2012 - 2 StR 565/11 mwN). Die Anforderungen an eine umfassende Würdigung der festgestellten Tatsachen sind bei einem Freispruch nicht geringer als im Fall der Verurteilung (vgl. Senat, Urteil vom 21. Februar 2018 - 2 StR 431/17, NStZ-RR 2018, 151, 152 mwN).

b) Dem wird das angefochtene Urteil gerecht.

(1) Das Landgericht hat die Aussage der Nebenklägerin in den Urteilsgründen umfassend dargestellt, einer kritischen Würdigung unterzogen und sie mit anderen Beweisergebnissen in Beziehung gesetzt. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift näher ausgeführt hat, konnte es dabei maßgeblich u. a. darauf abstellen, dass sich in der Aussage der Nebenklägerin im Hinblick auf die nicht eingestellten Taten relevante, sowohl das Kern- als auch das Randgeschehen betreffende Inkonstanzen fanden, dass die Angaben der Nebenklägerin zur zeitlichen Einordnung des dem Angeklagten in Ziff. 1 der Anklageschrift zur Last gelegten Tat als sicher widerlegt angesehen werden konnten, dass ihr eine genaue zeitliche Einordnung des Tatvorwurfs zu Ziff. 2 der Anklageschrift nicht möglich war und die Nebenklägerin zur Überzeugung des Landgerichts zu einem sexuellen Kontakt zu einem Zeugen aus ihrem Umfeld falsche Angaben machte. Insoweit hat das Landgericht auch bedacht, dass die Einlassung der Nebenklägerin, bei der Tat zu Ziff. 2 der Anklage 17 Jahre alt gewesen zu sein, mit objektiven Beweismitteln (Foto, Praktikumsnachweise) nicht in Übereinstimmung zu bringen war. Dass die Strafkammer sich eine hinreichende Überzeugung davon, dass der Angeklagte die Taten beging, nicht zu verschaffen vermochte, ist vor diesem Hintergrund nicht rechtsfehlerhaft. Vielmehr ist die Widerlegung der Aussage des einzigen Belastungszeugen hinsichtlich einzelner Taten oder Tatmodalitäten geeignet, dessen Glaubwürdigkeit in schwerwiegender Weise in Frage zu stellen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2014 - 4 StR 427/14, NStZ 2015, 602 mwN).

(2) Auch die Würdigung der Ergebnisse des von der Strafkammer eingeholten Sachverständigengutachtens zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin lässt in diesem Zusammenhang Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten nicht erkennen.

Schon das Gutachten hat hinsichtlich Ziff. 3 der Anklage jedenfalls „in Teilbereichen“ eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine nichtintentionale Falschaussage der Nebenklägerin ergeben. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht eine von dem Gutachten der Sachverständigen, das es auch hinsichtlich der wesentlichen Anknüpfungstatsachen ausreichend wiedergibt (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 2. Oktober 2007 - 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39; vom 24. Mai 2012 - 5 StR 52/12, NStZ 2012, 650 f.), abweichende eigene Beurteilung der Aussagekonstanz und den sich daraus für die Glaubhaftigkeit der Nebenklägerin ergebenden Folgerungen vorgenommen hat. Denn der Tatrichter ist nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) regelmäßig zu einer solchen eigenständigen Beurteilung verpflichtet (BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 - 5 StR 173/00, NStZ 2000, 550, 551 mwN). Die Urteilsgründe belegen, dass sich die Strafkammer auch umfassend mit den Ausführungen der Sachverständigen auseinandergesetzt hat. Vor diesem Hintergrund hat sie ihre Auffassung, insoweit von der Sachverständigen abweichend, auch in den Fällen 1 und 2 der Anklage könne eine nichtintentionale Falschaussage nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden, tragfähig belegt.

(3) Die Würdigung weiterer, außerhalb der Aussage der Nebenklägerin liegender Beweisanzeichen lässt Rechtsfehler ebenfalls nicht erkennen. Dies gilt insbesondere für die Bewertung der Aussagen der Eltern der Nebenklägerin einerseits und der Ehefrau des Angeklagten andererseits sowie derjenigen der Zeugen G. und P. .

(4) Schließlich lassen die - insoweit allerdings knappen - Urteilsgründe auch die erforderliche Würdigung des gesamten Beweisstoffes (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110, 111) hinreichend erkennen. Dass das Landgericht das Gewicht des Beweisergebnisses insgesamt zum Vorteil des Angeklagten verkannt haben könnte, besorgt der Senat danach nicht.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 629

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner