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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 108

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 427/14, Beschluss v. 19.11.2014, HRRS 2015 Nr. 108


BGH 4 StR 427/14 - Beschluss vom 19. November 2014 (LG Paderborn)

Tatrichterliche Beweiswürdigung ("Aussage gegen Aussage"-Konstellationen, Anforderungen an die Urteilsbegründung).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. In einer Konstellation, in der "Aussage gegen Aussage" steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen, muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr).

2. Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als bewusst falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden (vgl. BGHSt 44, 153, 158). Dann muss der Tatrichter jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 23. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge und eine Verfahrensrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestrafte Angeklagte an einem Tag zwischen dem 1. Februar 2013 und dem 30. Juni 2013 den sechsjährigen M. D. und die fünfjährige L. D. im Badezimmer auf den heruntergeklappten Toilettendeckel gestellt, beiden Kindern Hose und Unterhose heruntergezogen und sie mit den nackten Unterleibern zusammengedrückt, so dass sie im Bereich der Geschlechtsteile aneinander rieben (Fall 4 der Anklage).

Zur Aufdeckung dieser Tat kam es am Morgen des 6. Dezember 2013, als sich die älteren Kinder T. S. und A. D. in Gegenwart der Mutter der Geschwister D. über das Verhalten des Angeklagten unterhielten. T. S., der Neffe des Angeklagten, äußerte, dieser mache Sachen mit M. Auf Nachfrage der Mutter berichtete M., der Angeklagte habe verlangt, dass er seinen Penis anfasse und habe den Penis in seinen Po gesteckt. Auch habe der Angeklagte ihn und L. im Bad zusammengedrückt. Die Mutter holte daraufhin L. aus dem Kindergarten und befragte sie. L. erzählte, dass der Angeklagte ihr den Penis in die "Mumu" und in den Po gesteckt habe. Auf der Rückfahrt äußerte sie spontan, dass der Angeklagte M. und sie im Bad zusammengedrückt habe.

2. Die zugelassene Anklage warf dem Angeklagten darüber hinaus vor, an unterschiedlichen Tagen zwischen dem 1. Februar 2013 und dem 22. November 2013 in fünf weiteren Fällen sexuelle Übergriffe gegen M. und L. D. und T. S. begangen zu haben. Der Angeklagte soll zweimal im Wohnzimmer bis zum Samenerguss onaniert haben, davon einmal vor den Augen von M. D. und das andere Mal in Gegenwart des neun- oder zehnjährigen T. S. (Fälle 1 und 3 der Anklage). Er soll weiterhin L. s Hand genommen und sie in Richtung seines Penis geführt haben, das Mädchen habe die Hand immer wieder weggezogen (Fall 2 der Anklage). Schließlich soll der Angeklagte in zwei Fällen Analverkehr bis zum Samenerguss durchgeführt haben, einmal mit L. nach Manipulation an deren Scheide (Fall 5 der Anklage) und einmal mit M. (Fall 6 der Anklage). Von diesen Vorwürfen hat die Strafkammer den Angeklagten freigesprochen, weil die Zeugen T. S., M., L. und A. D., die bei einer ersten Vernehmung in der Hauptverhandlung entsprechende Taten "im Ansatz" bekundet hatten, bei einer weiteren Vernehmung eingeräumt haben, insoweit die Unwahrheit gesagt zu haben. Zu derartigen Taten des Angeklagten sei es nicht gekommen. Diese hätten sich A. D. und T. S. ausgedacht und M. und L. D. überredet, entsprechende unwahre Angaben zu machen.

3. Hinsichtlich der ausgeurteilten Tat hält das Landgericht die Aussage von M. D. trotz der eingeräumten Lügen für glaubhaft. Es sei kein Grund ersichtlich, warum der Zeuge wahrheitswidrig einen Tatvorwurf aufrecht erhalten haben sollte. L. D. habe den Vorfall in der Hauptverhandlung zwar nicht bestätigt, sie habe ihn aber ihrer Mutter unmittelbar vor der Anzeigeerstattung spontan geschildert. T. S. und A. D. hätten ausgesagt, L. und M. nicht zu dieser Schilderung überredet zu haben. Über den Vorfall im Badezimmer sei nicht gesprochen worden.

II.

Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge im Umfang der Anfechtung Erfolg, so dass es auf die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge nicht ankommt. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält aus sachlich-rechtlichen Gründen der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

In einer Konstellation, in der "Aussage gegen Aussage" steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen, muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 - 1 StR 700/13 Rn. 3; Beschluss vom 12. September 2012 - 5 StR 401/12 Rn. 8; Beschluss vom 19. August 2008 - 5 StR 259/08, NStZ-RR 2008, 349 f. jeweils mwN). Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als bewusst falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden (BGH, Urteil vom 19. April 2007 - 4 StR 23/07 Rn. 11; Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158; Urteil vom 17. November 1998 - 1 StR 450/98, BGHSt 44, 256, 257 jeweils mwN). Dann muss der Tatrichter jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.

1. Der Zeuge M. D. hat eingeräumt, bei der Polizei und im ersten Hauptverhandlungstermin "gelogen" zu haben und "Sachen erzählt" zu haben, "die der Angeklagte nicht gemacht habe". Das Landgericht hat seine Angaben zu der ausgeurteilten Tat dennoch als glaubhaft bewertet. Es hat dabei die Glaubhaftigkeit der auf das Tatgeschehen bezogenen Angaben des Zeugen nicht grundlegend von der Nullhypothese ausgehend bewertet, sondern nur unter wenigen Aspekten, was bereits Bedenken begegnet. Aber auch die vom Landgericht herangezogenen Gesichtspunkte vermögen seine Wertung der Aussage als glaubhaft nicht zu tragen.

Das Landgericht hat im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der Zeuge den ausgeurteilten Vorfall konstant gegenüber seiner Mutter, bei der Polizei und in beiden Hauptverhandlungsterminen geschildert habe. Dies greift bereits deshalb zu kurz, weil der Zeuge auch die übrigen Vorfälle, die nicht der Wahrheit entsprachen, zuvor konstant geschildert hat. Soweit das Landgericht insoweit bei der Vernehmung im ersten Hauptverhandlungstermin bei den erlogenen Vorfällen "auffällige Unsicherheiten" bemerkt haben will, sind diese in den Urteilsgründen nicht belegt. Darüber hinaus hat der Zeuge hinsichtlich des ausgeurteilten Vorfalls nunmehr eine Mehrbelastung des Angeklagten zum Kerngeschehen nicht aufrecht erhalten. Die Erklärung des Landgerichts, dass nicht jederzeit jede Einzelheit im Gedächtnis abrufbar sei, begegnet Bedenken, wenn der Zeuge - wie offenbar hier - die Mehrbelastung früher mehrfach geäußert hat. Auch dass kein Grund ersichtlich sei, der den Zeugen veranlasst haben sollte, bei seiner nunmehr den Angeklagten entlastenden Aussage wahrheitswidrig doch einen Vorfall aufrecht zu erhalten, kann die Glaubhaftigkeit der Angaben nicht belegen. Denn das Landgericht hat auch kein Motiv für die umfassende Falschbeschuldigung des Angeklagten durch alle vier Kinder aufzudecken vermocht.

Die Strafkammer hat zwar erkannt, dass eine suggestive Beeinflussung durch die älteren Kinder T. S. und A. D. vorgelegen haben könnte, schließt dies aber für die ausgeurteilte Tat unter Hinweis auf die zeugenschaftlichen Angaben der beiden älteren Kinder aus. Über den Vorfall im Badezimmer sei nicht gesprochen worden. Da die Zeugen ansonsten im zweiten Hauptverhandlungstermin eingeräumt hätten, die Unwahrheit gesagt zu haben, sei kein Grund ersichtlich, warum sie nicht auch einräumen sollten, M. und L. den Vorfall im Badezimmer eingeredet zu haben, wenn es denn so gewesen wäre. Diese Bewertung der Angaben der beiden älteren Kinder lässt sich ohne nähere Darstellung ihrer früheren Angaben nicht nachvollziehen. Sollten sich die beiden älteren Kinder bereits bei der Polizei oder gegenüber ihrer Mutter zu dem Vorfall im Bad geäußert haben, könnte dies ein Beleg dafür sein, dass doch mit den beiden jüngeren Kindern darüber gesprochen worden ist.

2. Wird die Aussage des einzigen Belastungszeugen hinsichtlich einzelner Taten und Tatmodalitäten widerlegt, so ist damit seine Glaubwürdigkeit in schwerwiegender Weise in Frage gestellt. Seinen übrigen Angaben kann dann nur gefolgt werden, wenn außerhalb der Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorliegen. Solche zeigt das Landgericht nicht auf.

Der Aussage der vermeintlich ebenfalls bei dem ausgeurteilten Vorfall Geschädigten L. im zweiten Hauptverhandlungstermin misst die Strafkammer keinerlei Bedeutung bei, allerdings sieht sie in ihrer "Spontanäußerung" gegenüber ihrer Mutter am 6. Dezember 2013 eine Bestätigung der Aussage des M. D. Dass Abstellen auf die Spontaneität der Äußerung greift jedoch zu kurz, denn ihre Mutter ist zum Kindergarten gefahren, um L. abzuholen und zu den Vorwürfen zu befragen. Danach hat L. dann auf der Fahrt den weiteren Vorfall erzählt. Es liegt nahe, dass ursächlich auch hierfür die vorangegangene Befragung war. Da die Strafkammer auf die "Spontanäußerung" der Zeugin abstellt, während sie in beiden Hauptverhandlungsterminen widersprüchliche Angaben gemacht hat, hätte in den Urteilsgründen auch dargelegt werden müssen, was im Einzelnen die Zeugin ihrer Mutter und bei der Polizei zu dem Vorfall im Bad erzählt hat. Auffällig ist insoweit jedenfalls, dass die "Spontanäußerung" frühestens fünf Monate nach dem Vorfall erfolgte, als auch die Falschbelastungen durch T. S. und A. D. initiiert wurden. Bei der Vernehmung im zweiten Hauptverhandlungstermin hatte L. zunächst bekundet, sie - die Kinder - hätten bei ihren Aussagen gelogen. T. und A. hätten ihnen alles vorgesagt. Auf Nachfrage hat sie dann den Vorfall im Bad bestätigt, wobei sie nach Überzeugung der Strafkammer allerdings nahezu jede Frage ohne Nachdenken zustimmend beantwortet hat. Auch dies lässt den Beweiswert ihrer "Spontanäußerung" fraglich erscheinen.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Das sehr junge Alter der beiden Opferzeugen der ausgeurteilten Tat und die bewussten Falschbelastungen legen es nahe, die Glaubhaftigkeit der Angaben beider Zeugen durch ein aussagepsychologisches Gutachten näher zu untersuchen.

Der neue Tatrichter wird auch eingehender als bisher zu belegen haben, dass bei der Tat eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit sicher vorgelegen hat. Bei den beiden einschlägigen Vorverurteilungen des Angeklagten war eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit lediglich nicht auszuschließen.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 108

Externe Fundstellen: NStZ 2015, 602; NStZ-RR 2015, 86

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel