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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 79

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 583/06, Urteil v. 19.12.2006, HRRS 2007 Nr. 79


BGH 1 StR 583/06 - Urteil vom 19. Dezember 2006 (LG Landshut)

Keine Verletzung der Öffentlichkeit durch teilweise Aufrechterhaltung der Öffentlichkeit (Recht auf Nichtöffentlichkeit); verminderte Schuldfähigkeit bei Sexualdelikten im hohen Alter; redaktioneller Hinweis.

§ 338 Nr. 6 StPO; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 176 StGB; § 21 StGB; § 336 Satz 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine nähere Erörterung der Schuldfähigkeit ist zwar nicht bei jedem Täter geboten, der jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht. Sie kann aber dann angezeigt sein, wenn weitere Besonderheiten bestehen, die auf eine für die Beurteilung der Schuldfähigkeit relevante Möglichkeit altersbedingter Enthemmtheit hinweisen. Solche Besonderheiten ergeben sich nicht allein aus einer festgestellten Impotenz.

2. § 338 Nr. 6 StPO ist nur einschlägig, wenn die Öffentlichkeit in ungesetzlicher Weise beschränkt worden ist, also nicht, wenn unter Nichtanwendung oder Verletzung der Vorschriften über den möglichen Ausschluss der Öffentlichkeit öffentlich verhandelt worden ist (st. Rspr., vgl. schon BGHSt 10, 202, 206 f.).

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 9. August 2006 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Der 1934 geborene, nicht vorbestrafte Angeklagte wurde wegen einer Reihe von Sexualdelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Tatopfer waren Enkelinnen seiner Lebensgefährtin. Die erste abgeurteilte Tat beging er 2001 zum Nachteil der 1988 geborenen V. R., weitere Taten zwischen 2005 und 2006 zum Nachteil der 1999 geborenen Zwillinge S. und Sa. R.

Seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützte Revision bleibt erfolglos.

1. Der Angeklagte hatte zu Beginn der Hauptverhandlung den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt (§ 171b GVG). Die Strafkammer kam diesem Antrag weitgehend nach, jedoch wurde die Öffentlichkeit erst nach Verlesung der Anklageschrift und nicht bei der Urteilsverkündung ausgeschlossen.

Die Revision hält es unter Hinweis auf § 338 Nr. 6 StPO für rechtsfehlerhaft, dass die Öffentlichkeit nicht auch für die genannten Verfahrensabschnitte ausgeschlossen wurde. Die Rüge versagt schon im Ansatz:

a) § 338 Nr. 6 StPO ist nur einschlägig, wenn die Öffentlichkeit in ungesetzlicher Weise beschränkt worden ist, also nicht, wenn unter Nichtanwendung oder Verletzung der Vorschriften über den möglichen Ausschluss der Öffentlichkeit öffentlich verhandelt worden ist (st. Rspr., vgl. schon BGHSt 10, 202, 206 f.; vgl. auch Kuckein in KK 5. Aufl. § 338 Rdn. 84 m.w.N.).

b) Im Übrigen sind Entscheidungen gemäß § 171b Abs. 1 und Abs. 2 GVG gemäß § 171b Abs. 3 GVG unanfechtbar und daher gemäß § 336 Satz 2 StPO der Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Dies gilt auch für solche Entscheidungen, durch die, wie hier, der Ausschluss der Öffentlichkeit in einem geringeren Umfang als beantragt beschlossen worden ist (BGH NStZ 1996, 243 m.w.N.).

2. Die Sachrüge bleibt ebenfalls erfolglos:

a) Der Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei. Soweit der Angeklagte im Fall C. I. der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil von V. R.) auch wegen sexueller Nötigung verurteilt wurde, liegen dem folgende Feststellungen zu Grunde: Der Angeklagte "packte" die Geschädigte und "zog" sie zu sich. Sie leistete "Widerstand", indem sie ihn "wegdrückte", er "zog sie jedoch wieder zu sich", entblößte sie und schob seinen Finger in ihre Scheide. Dabei leistete die Geschädigte "keinen weiteren Widerstand", sondern sie war "starr vor Angst".

Der Senat teilt nicht die Auffassung der Revision, hieraus ergebe sich, dass der Angeklagte keine "Gewalt in Form von körperlichem Zwang zur Vorbereitung der eigentlichen sexuellen Handlung aufgewandt" habe. Der Angeklagte hat gegen V. Gewalt zur Überwindung körperlichen Widerstands jedenfalls dadurch ausgeübt, dass er sie gegen ihr Sträuben - erneut - an sich heranzog, um an ihr sexuelle Handlungen vorzunehmen. Dies hat auch der Generalbundesanwalt schon in seinem Antrag vom 15. November 2006 zutreffend näher ausgeführt. Hierauf nimmt der Senat Bezug. Auch im Übrigen ist der Schuldspruch rechtsfehlerfrei.

b) Ebenso hält auch der Strafausspruch rechtlicher Überprüfung stand.

(1) Dies gilt auch, soweit die Strafkammer die Möglichkeit einer erheblichen Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten verneint hat.

Wie der Generalbundesanwalt hierzu im Ansatz zutreffend ausführt und belegt, ist eine nähere Erörterung der Schuldfähigkeit zwar nicht bei jedem Täter geboten, der - wie der Angeklagte - jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht. Sie kann aber dann angezeigt sein, wenn weitere Besonderheiten bestehen, die auf eine für die Beurteilung der Schuldfähigkeit relevante Möglichkeit altersbedingter Enthemmtheit hinweisen. Solche Besonderheiten - so der Generalbundesanwalt - lägen hier vor. Die Strafkammer habe zwar ausdrücklich festgestellt, dass der Angeklagte "geistig und körperlich gesund" sei, aber auch, dass er "seit etwa anderthalb Jahren impotent" sei.

Der Senat sieht keinen Rechtsfehler.

Die Strafkammer, die sich der Bedeutung des Alters des Angeklagten und seiner bisherigen Straflosigkeit für die Strafzumessung erkennbar bewusst war, stellt ausdrücklich fest, dass der Angeklagte "gesund" sei. Eine hiergegen gerichtete Aufklärungsrüge ist nicht erhoben. Besonderheiten, die die Annahme von Gesundheit ohne weitere Darlegung schon aus sachlich-rechtlichen Gründen als lückenhaft erscheinen lassen könnten (vgl. die in BGH NStZ 1999, 297 im Einzelnen aufgeführten und belegten Beispiele für derartige Besonderheiten; vgl. auch BGH NStZ-RR 2006, 38, wo der Angeklagte seit vielen Jahren wegen einer Nervenkrankheit medikamentös behandelt werden musste), sind nicht ersichtlich. Insbesondere ergeben sich solche Besonderheiten nicht aus der festgestellten Impotenz.

(2) Auch die Ausführungen der Revision vermögen die Möglichkeit eines Rechtsfehlers nicht zu verdeutlichen. Die Revision verkennt, dass der Tatrichter nicht gehalten ist, den Strafrahmen, der sich aus der Angabe der einschlägigen Strafvorschriften ergibt, auch noch zahlenmäßig zu bezeichnen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 StR 190/06; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl. Rdn. 792). Dies gilt auch dann, wenn sich der anzuwendende Strafrahmen, wie hier im Fall der Tat zum Nachteil von V. R., aus § 52 Abs. 2 StGB ergibt.

(3) Auch im Übrigen ist der Strafausspruch rechtsfehlerfrei.


[Redaktioneller Hinweis: Zur Frage eines Rechts auf Nichtöffentlichkeit vgl. auch Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, Duncker &Humblot 2007, S. 222, 771 ff.]

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 79

Externe Fundstellen: NStZ 2007, 328; StV 2008, 10

Bearbeiter: Karsten Gaede