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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 72

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BVR 1922/03, Beschluss v. 04.12.2003, HRRS 2004 Nr. 72


BVerfG 2 BVR 1922/03 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 4. Dezember 2003

Substantiierung der Verfassungsbeschwerde; Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht; Freiheit der Person (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Unterbringung im Maßregelvollzug); Anforderungen an die gerichtliche Entscheidung (Vermeidung allgemeiner Wendungen; substantiierte Offenlegung der Bewertung ob eine vom Verurteilten ausgehende Gefahr den Freiheitsanspruch aufwiegt; Erwartung weiterer Taten; Bezugsetzung zwischen Dauer des Freiheitsentzuges und der möglichen Gefährdung der Allgemeinheit).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 67d Abs. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden darf (Art. 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG). Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie die des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts und daher auch die Anstaltsunterbringung gefährlicher Verurteilter zum Schutze der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180, 219; 90, 145, 172).

2. Je länger eine Unterbringung im Maßregelvollzug dauert, desto strenger sind die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung, um der Gefahr von Routinebeurteilungen vorzubeugen und sicherzustellen, dass der Richter eine das Gewicht des Freiheitsanspruchs berücksichtigende eigene Entscheidung auf gesicherter Tatsachengrundlage aufbaut. Der Richter hat allgemeine Wendungen zu vermeiden und seine Würdigung eingehend abzufassen, um seine Bewertung substantiiert offen zu legen, nach der die vom Verurteilten ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufwiegt (vgl. BVerfGE 70, 297, 310 f., 316). Die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit muss zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung gesetzt werden (vgl. BVerfGE 70, 297 311 f.).

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie hat keine Aussicht auf Erfolg, weil sie nicht hinreichend substantiiert begründet wurde (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG).

1. Der verfassungsrechtliche Maßstab für die Überprüfung von Aussetzungsentscheidungen nach § 67d Abs. 2 StGB ist geklärt (vgl. BVerfGE 70, 297 <307 ff.>). Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden darf (Art. 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG). Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie die des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts und daher auch die Anstaltsunterbringung gefährlicher Verurteilter zum Schutze der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 58, 208 <224 f.>; 66, 191 <195>; 70, 297 <307>; 90, 145 <172>). Ebenso wie für die Anordnung gilt auch für jede Überprüfung und Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung, dass aus dem Freiheitsrecht sowohl Anforderungen an das Verfahren und dabei insbesondere an eine zuverlässige Wahrheitserforschung folgen als auch eine strenge Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen hat (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 66, 191 <195>; 70, 297 <308 f., 311 f.>; 86, 288 <317, 326>).

Je länger eine Unterbringung im Maßregelvollzug dauert, desto strenger sind diese Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung, um der Gefahr von Routinebeurteilungen vorzubeugen und sicherzustellen, dass der Richter eine das Gewicht des Freiheitsanspruchs berücksichtigende eigene Entscheidung auf gesicherter Tatsachengrundlage aufbaut. Der Richter hat allgemeine Wendungen zu vermeiden und seine Würdigung eingehend abzufassen, um seine Bewertung substantiiert offen zu legen, nach der die vom Verurteilten ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufwiegt (vgl. BVerfGE 70, 297 <310 f., 316>). Die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit muss zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung gesetzt werden (vgl. BVerfGE 70, 297 <311 f.>).

Die richterliche Entlassungsprognose erfordert nicht die sichere Erwartung zukünftigen Wohlverhaltens des Untergebrachten, zumal bei lang andauerndem Freiheitsentzug mit völligem Wohlverhalten nach der bedingten Entlassung kaum jemals zu rechnen sein wird (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 67d Rn. 6c). Maßgeblich ist, ob mit der Aussetzung ein vertretbares Risiko eingegangen wird. Die Bindung der Unterbringung an ihren Zweck erfordert zudem, dass nur auf die Gefahr solcher rechtswidriger Taten abzustellen ist, die ihrer Art und ihrem Gewicht nach ausreichen würden, auch eine Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB zu tragen. Insoweit ist die vom Untergebrachten ausgehende Gefahr vom Strafvollstreckungsgericht bei der Entscheidung gemäß § 67d Abs. 2 StGB hinreichend zu konkretisieren. Der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen. Deren bloße Möglichkeit vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen. Auf die Besonderheiten des Falles ist einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist vor allem aber auf die seit der Anordnung der Maßregel gegebenenfalls veränderten Umstände, die für die zukünftige Entwicklung bestimmend sind (vgl. BVerfGE 70, 297 <313 f.>).

2. Auf der Grundlage des von der Beschwerdeführerin mitgeteilten Akteninhalts kann nicht geprüft und festgestellt werden, dass die angegriffenen Entscheidungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung getragen haben. Die Verfassungsbeschwerde hat außer der aktuellen gutachterlichen Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Taufkirchen keine weiteren psychiatrischen Befunde vorgelegt oder hinreichend mitgeteilt. Das wäre erforderlich gewesen, weil die Beschwerdeführerin bereits früher von einem anderen Sachverständigen begutachtet worden war. Dessen Ergebnisse stimmen mit den Diagnosen der behandelnden Ärztinnen überein. Der Hinweis auf die fehlende Qualifikation der bisherigen Sachverständigen und auf die ebenfalls nicht substantiiert mitgeteilten gegenteiligen ärztlichen Stellungnahmen genügt nicht, eine Verletzung des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung durch die Fachgerichte zu belegen. Angesichts dieser Substantiierungsmängel kann aus dem Umstand, dass die Fachgerichte von der Einholung eines externen Sachverständigengutachtens abgesehen haben, eine mögliche Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht nicht gefolgert werden.

Die Verfassungsbeschwerde enthält zudem keine näheren Ausführungen zu Art, Schwere und Häufigkeit der Anlasstaten der Beschwerdeführerin, die zur Anordnung der Unterbringung und zum Widerruf der Bewährungsaussetzung geführt haben. Ohne Kenntnis der Anlasstaten kann der Grad der Gefährlichkeit als Indiz für künftige neue Taten nicht beurteilt werden. Die angegriffenen Entscheidungen weisen in diesem Punkt keine so erheblichen Begründungsmängel auf, die eine Verletzung des auch durch das Übermaßverbot geschützten Freiheitsrechts der Beschwerdeführerin nahe legen. Für die Zukunft werden die Fachgerichte aber neben der Frage einer externen Begutachtung zu prüfen und zu begründen haben, dass von der Beschwerdeführerin weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, die einen fortdauernden Freiheitsentzug rechtfertigen.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 72

Bearbeiter: Stephan Schlegel