HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2022
23. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Unreflektierter Beitrag des Staates an "Cum-Ex"?

Von Rechtsanwalt Dr. Gerhard Strate, Hamburg[*]

Eigentlich scheint ja alles sehr einfach zu sein. Dennoch: die für die amtliche Sammlung des Bundesgerichtshofs vorgesehene Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 28. Juli 2021 umfasst in der Originalausfertigung 61 Blatt. Die Fassung in BGHSt 66, 182-219 erreicht stattliche 37 Druckseiten. Der "Michael Kohlhaas" des Heinrich von Kleist hat in etwa den gleichen Umfang (ist allerdings kurzweiliger und in der Sprachgewalt sehr viel packender).

Aber immerhin: Unter der Randnummer 79 findet sich folgender Satz, der alles auf den Punkt bringt:

"Die Zurechnung der vom Leerverkäufer noch zu beschaffenden Aktien bis zu ihrer Lieferung an die Einziehungsbeteiligte kommt auch deshalb nicht in Betracht, weil dies der Grundannahme des § 39 AO widersprechen würde, wonach ein Wirtschaftsgut und die daraus fließenden Erträge nicht zur selben Zeit zwei Steuersubjekten exklusiv persönlich zugerechnet werden können. Anderenfalls würde es zu einer mit dem Wesen der Steuererstattung nicht zu vereinbarenden Vervielfältigung – wie in den verfahrensgegenständlichen Fällen oder gar in einer Lieferkette zugunsten mehrerer Leerkäufer – von anzurechnenden Ansprüchen kommen, obwohl Kapitalertragsteuer nur einmal, nämlich vom Emittenten der Aktien auf die Dividenden, einbehalten wurde."

Die zentrale Aussage betrifft die Zurechnungsvorschrift des § 39 AO: Ein Wirtschaftsgut und die daraus fließenden Erträge können nicht zur selben Zeit zwei Steuersubjekten exklusiv persönlich zugerechnet werden. Es ist im Grunde der in der klassischen Philosophie und Logik anerkannte Satz vom Widerspruch, der sich hier erneut zur Geltung bringt, nachzulesen in der "Metaphysik" des Aristoteles: "Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme.   Die Transposition dieses Satzes in die Welt der Abgabenordnung hat der 1. Strafsenat vollzogen. Aber warum so viel Text?

Man muss dem 1. Strafsenat zugutehalten, dass die Kompliziertheit des Steuerrechts, gelegentlich aber auch Zweideutigkeiten des Gesetzgebers geeignet sind, Verwirrung zu stiften. Darauf werde ich sogleich zurückkommen. Dennoch: Mein Hinweis auf die althergebrachten Gesetze der Logik soll die Frage markieren, warum nicht schon sehr viel früher die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und erst recht des Bundesfinanzhofs sich klar dazu bekannt hatte, dass eine nur einmal einbehaltene Kapitalertragsteuer nicht zu ihrer zweimaligen Erstattung führen kann. Eigentlich hätte hier auch ein Blick auf § 37 Abs. 2 AO hilfreich sein können, nämlich die dort getroffene Regelung, dass der Anspruch auf Erstattung einer Steuer nur dann besteht, wenn sie ohne Rechtsgrund gezahlt worden ist (§ 37 Abs. 2 AO). Eine Erstattung findet nur statt, wenn ihr eine Zahlung vorausgegangen ist. Dennoch: Über einen Zeitraum von ca. 15 Jahren blieben die Cum-Ex-Gestaltungen ohne ein klares Wort der Gerichte. Eine Steuererstattung, die nach einer Zahlung zweimal oder gar mehrmals erfolgt, setzt eigentlich magische Künste voraus, wie sie ehedem dem legendären Zauberer Kalanag gelangen, dessen ausgeschütteter Krug sich von selbst immer wieder mit Wasser füllte. Das Zauberstück hieß "Wasser aus Indien". Das wurde die heimliche Losung der Cum-Ex-Akteure.

Der 1. Strafsenat des BGH zitiert in seinem Urteil vom 28.07.2021 u.a. eine Entscheidung des 1. Senats des Bundesfinanzhofs vom 16.04.2014[1], in der dieser sich zu Cum-Ex-Gestaltungen äußert. Dessen Leitsatz liest sich aber so, als habe er nur einen Sonderfall zu entscheiden gehabt:

"Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt derjenige, dem die Anteile an dem Kapitalvermögen im Zeitpunkt des Gewinnverteilungsbeschlusses nach § 39 Abs. 1 AO rechtlich oder --wenn ein anderer als der Eigentümer die tatsächliche Herrschaft über die Anteile hat-- nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO wirtschaftlich zuzurechnen sind . Wirtschaftliches Eigentum über die Anteile in diesem Sinne scheidet bei sog. cum/ex-Geschäften mit Aktien aus, wenn der Erwerb der Aktien mit dem (hier:) durch ein Kreditinstitut initiiertes und modellhaft aufgelegtes Gesamtvertragskonzept verbunden ist, nach welchem der Initiator den Anteilserwerb fremdfinanziert, der Erwerber die Aktien unmittelbar nach ihrem Erwerb dem Initiator im Wege einer sog. Wertpapierleihe (bis zum Rückverkauf) weiterreicht und der Erwerber das Marktpreisrisiko der Aktien im Rahmen eines
sog. Total Return Swap-Geschäfts auf den Initiator überträgt."

"Wirtschaftliches Eigentum" ist nach Auffassung des BFH jedenfalls dann zu verneinen, wenn der Erwerb der Aktien mit einem durch ein Kreditinstitut initiierten und modellhaft aufgelegten "Gesamtvertragskonzept" verbunden ist. So der Grundbass dieser Entscheidung. Dass der Bundesfinanzhof keineswegs mit dieser Entscheidung Cum-Ex-Geschäften einen Riegel vorschieben wollte, wird deutlich bei näherer Betrachtung der Entscheidungsgründe. Es sei "nicht zweifelsfrei", ob der Anteilserwerber auch im Falle eines sog Leerverkaufs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses wirtschaftliches Eigentum erwerben kann. Dies sei "in der Literatur umstritten". Unter den bejahenden Stimmen zitiert der 1. Senat des BFH unter anderem auch Hanno Berger. Und er bekräftigt dessen Position mit dem Hinweis: "Entgegen dem Vorbringen des BMF in der mündlichen Verhandlung" sei der "Gesetzgeber … erklärtermaßen (davon) ausgegangen".[2]

Allerdings schien das "Wasser aus Indien" zeitweise ein Flussbett gefunden zu haben durch Formulierungen im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Jahressteuergesetz 2007[3], wo es im Hinblick auf den neu eingefügten § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG erläuternd heißt:

"Die Regelung dient der Verringerung von Steuerausfällen, die derzeit bei der Abwicklung von Aktiengeschäften an der Börse in zeitlicher Nähe zum Gewinnverteilungsbeschluss dadurch entstehen, dass Kapitalertragsteuer bescheinigt wird, die nicht abgeführt wurde."[4]

Darüber hinaus wird dort konstatiert:

"Zusätzlich wird im Rahmen der augenblicklichen Praxis auch der Einbehalt von Kapitalertragsteuer in einem Umfang bescheinigt, der ebenfalls über die tatsächlich von der Aktiengesellschaft abgeführte Summe hinausgeht. Durch die vorgeschlagenen Änderungen sollen die negativen Auswirkungen auf das Steueraufkommen insoweit verringert werden, als das inländische Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut des Leerverkäufers zur Abführung von Kapitalertragsteuer verpflichtet wird."[5]

Diese Formulierungen konstatieren zwar nur einen Ist-Zustand, wurden in der steuerrechtlichen Literatur jedoch ernsthaft dahingehend ausgelegt, der Gesetzgeber habe die Praxis, falsche Bescheinigungen über die Höhe der einbehaltenen Kapitalertragsteuer auszustellen, hingenommen und lediglich angestrebt, deren negative Auswirkungen zu verringern.

Die Referenz, die der BFH auf die Gesetzgebungsmaterialien des Jahressteuergesetzes 2007 nimmt, feuerten die Befürworter der Cum-Ex-Gestaltungen regelrecht an. In einem zweiteiligen Beitrag von Hartmut Klein im Betriebsberater 2015[6] hebt er hervor, "dass der Gesetzgeber eine mehrfache Anrechnung von Kapitalertragsteuern wissentlich in Kauf genommen" habe.

Erst mit dem Urteil vom 10.04.2016 des Hessischen Finanzgericht bekam die Rechtsprechung zu den Cum-Ex-Geschäften klare Konturen und akzentuierte sie[7].

"Dass es zur Anrechnung der Kapitalertragsteuer als Erhebungsform der Körperschaftsteuer vergleichbar einer Steuervorauszahlung zunächst der Erhebung der Steuer bedarf, ist nach der Systematik der Anrechnung evident und Grundvoraussetzung für die Anrechnung der Abzugsteuer (vgl. BFH, Urteil vom 23.4.1996 VIII R 30/93, BFHE 181, 7; Urteil vom 20.10.2010 I R 54/09, BFH/NV 2011, 641). Die Ansicht, eine Anrechnung von Abzugssteuern sei unabhängig von deren Erhebung möglich, ist abwegig und verstößt gegen den eindeutigen Wortlaut des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG. Gleiches gilt für die mehrmalige Anrechnung einmal erhobener Steuern."

Zu gegenteiligen Äußerungen der die Cum-Ex-Geschäfte schönredenden Stimmen aus der Steuerrechtsliteratur setzte das Hessische Finanzgericht folgenden Kontrapunkt:

"Dieses Ergebnis eines mehrfachen wirtschaftlichen Eigentums an einer Aktie ist aber weder mit dem Regelungsverständnis des wirtschaftlichen Eigentums in § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO noch mit dessen Wortlaut zu vereinbaren und verstößt gegen die fundamentalen Grundsätze des deutschen Rechts."[8]

Das hinderte die Soldschreiber der Cum-Ex-Industrie nicht daran, "Wasser aus Indien" weiterhin für möglich zu halten:

"Diese Faktizität des Aktienhandels erfordert einen ‚verfeinerten‘ wirtschaftlichen Eigentumsbegriff. Im Übrigen sind Mehrfachzuweisungen dem deutschen Rechtssystem durchaus nicht fremd und nicht mit Floskeln wie, dies sei mit ‚fundamentalen Grundsätzen des deutschen Rechts nicht vereinbar‘ oder mit Formulierungen wie: diese seien schon ‚unlogisch‘, ‚denklogisch nicht möglich‘ wegzuleugnen." [9]

Auch hier ist es Hartmut Klein, der sich mit einem unter dem Titel "Die vertane Chance im sog. ‚Cum/Ex-Verfahren‘ – Nachschau des Hessischen FG-Urteils vom 12.2.2016 – 4 K 1684/14" veröffentlichten Beitrag in der ungebrochenen Propaganda für Cum-Ex-Gestaltungen betätigte. Dieser Beitrag will den damaligen stellvertretenden Leiter der Steuerverwaltung in der Hamburger Finanzbehörde, Michael Wagner, in seiner Skepsis gegenüber der Entscheidung des Hessischen Finanzgerichts bestärkt und die in der

Hamburger Steuerverwaltung 2016 getroffene Entscheidung, auf die Rückforderung von 47 Mio. Euro an die Warburg Bank ausgezahlter Kapitalertragsteuer zu verzichten, maßgeblich beeinflusst haben. Hartmut Klein sei "nicht irgendwer". Damit hatte er allerdings recht. Er war ein unmittelbar von Hanno Berger mit ausgehaltener Vasall[10].

Liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich habe deutlich zu machen versucht, dass die Meinungsbildung zu den Cum-Ex-Geschäften nicht nur durch mächtige und zahlungskräftige Teilhaber an diesen Geschäften möglich wurde. Die ins Feld gezogene Armada von Lohnschreibern hatte Rückendeckung zumindest durch den Gesetzgeber des Jahressteuergesetzes 2007. Ohne ihn hätte es – über einen Zeitraum von wenigstens 15 Jahren – nicht die blühende Cum-Ex-Industrie gegeben. Die Justiz – vor allem der Finanzgerichtsbarkeit – hätte sich schon sehr viel früher positionieren können. Sie hat es aber nicht getan, sondern die Akteure des Cum-Ex-Geschehens über viele Jahre frei walten und schalten lassen.

Den Lohnschreibern will ich den geringsten Vorwurf machen. Sie gehören einfach zur Szenerie der Justiz sowie der sie begleitenden Wissenschaft. Sie werden nicht alle. In der Regel kann man sie aber mit einem gewissen Maß an Urteilskraft und Menschenkenntnis schnell ausmachen.

Wenn man der Lohnschreiber müde geworden ist, findet man immer wieder Aufsätze in den juristischen Fachzeitschriften, in denen es nur um Wahrheit und die Regelhaftigkeit juristischen Denkens und Argumentierens geht – die alte Denkungsart, mit der wir groß geworden sind. Ein erfrischendes Beispiel aus jüngster Zeit ist der Beitrag von Sören Lichtenthäler: "Zur Anwendung von § 301 StPO im Rahmen der Revision des Nebenklägers und ihrer Reichweite"[11]. Darin ist jeder Satz frei von Nebeninteressen. So sollte es sein!


[*] Es handelt sich um einen Vortrag, den der Verfasser am 25.11.2022 auf dem diesjährigen Forum des ECLE in Frankfurt am Main gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Auf die übliche Auswuchtung des Fußnotenapparats wurde deshalb verzichtet. Besonderer Erwähnung bedarf allerdings der jüngst erschienene Beitrag von Franz Salditt in Festschrift für Roman Leitner, Wien 2022, S. 461 ff. Salditt markiert ebenfalls die fatalen Zweideutigkeiten von Gesetzgeber und begleitender Rechtsprechung in der Befassung mit Cum-Ex-Geschäften .

[1] BFHE 246, 15.

[2] Rdnr. 31 der Entscheidung unter Hinweis auf BT-Drucksache 16/2712, S. 46 ff., S. 47.

[3] BT-Drucksache 16/2712, 46 ff. = BR-Drucksache 622/06, S. 76 ff.

[4] Ebenda, S. 46/47.

[5] Ebenda, S. 47.

[6] Hier: BB 2015, 725-735.

[7] Hessisches FG, Urteil v. 10.02.2016 – 4 K 1684/14 (bei Juris – Rdnr. 81).

[8] Hessisches FG a.a.O. (Rdnr. 72).

[9] Hartmut Klein, BB 2016, 2200, 2207.

[10] https://www.tagesschau.de/investigativ/panorama/cum-ex-159.html.

[11] NStZ 2022, 518 ff.