HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2022
23. Jahrgang
PDF-Download

Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

1290. BGH 4 StR 168/21 - Beschluss vom 19. Oktober 2022 (LG Bochum)

BGHSt; Irrtum über Tatumstände (irrige Annahme von Umständen, die ein milderes Gesetz erfüllen: Auslegung, Regelungskonzept, Funktionen, Besserstellung des Täters, Anwendung des milderen Tatbestandes anstatt des schwereren, Herstellen jugendpornographischer Schriften, Irrtum über das Alter des Tatopfers, kein privilegierendes lex specialis zu § 184c Abs. 1 StGB, Alternativität, strafbegründende Analogie); Revisionsbegründung (Darlegungsanforderungen: Bekanntmachung des Fortsetzungstermin, lediglich mündliche Bekanntmachung gegenüber der Pflichtverteidigerin, Bürogemeinschaft von Wahlverteidiger und Pflichtverteidigerin, Kenntnis von den Terminen auf andere Weise als durch Ladung).

§ 16 Abs. 2 StGB; § 184b Abs. 1 StGB a.F.; § 184c Abs. 1 StGB a.F.; § 344 StPO; Art. 103 Abs. 2 GG

1. Ein milderes Gesetz im Sinne des § 16 Abs. 2 StGB ist allein eine privilegierende lex specialis. Diese Voraussetzung erfüllt § 184c Abs. 1 StGB im Verhältnis zu § 184b Abs. 1 StGB nicht. (BGHSt)

2. Die auf der Rechtsfolgenseite des § 16 Abs. 2 StGB gewählte Formulierung, dass der Täter wegen vorsätzlicher Begehung „nur“ nach dem milderen Gesetz bestraft werden kann, macht deutlich, dass sich diese Regelung auf Fälle bezieht, in denen der Vorsatz des Täters alle Umstände umfasst, die den Tatbestand des schwereren Deliktes erfüllen, so dass er ohne die zu seiner Begünstigung geschaffene Regelung des § 16 Abs. 2 StGB aus diesem zu bestrafen wäre, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen in objektiver und subjektiver Hinsicht vollständig vorliegen. Eine solche Konstellation liegt vor, wenn es sich bei dem Tatbestand des „milderen Gesetzes“ um die Privilegierung eines mit höherer Strafe bedrohten Grunddeliktes handelt. Sie ist nicht gegeben, wenn die beiden in Rede stehenden Delikte zueinander im Verhältnis der Alternativität stehen und der festgestellte Sachverhalt in objektiver Hinsicht das schwerere Delikt verwirklicht, während der Täter irrig von Umständen ausgeht, die – lägen sie vor – den Tatbestand des anderen, „milderen“ Delikts erfüllen würden. (Bearbeiter)

3. Nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers hat § 16 Abs. 2 StGB in erster Linie die Funktion, in den bezeichneten Irrtumsfällen die Anwendung des schwereren Tatbestands auszuschließen, um den Täter besser zu stellen, als er ohne die Regelung stehen würde. Dieser Funktion entspricht auch die systematische Stellung der Norm im Gefüge der Irrtumsvorschriften. Denn sowohl der vorstehende § 16 Abs. 1 StGB als auch der nachstehende § 17 StGB sind Vorschriften, die den Täter unter den Voraussetzungen eines Tatsachen- bzw. Rechtsirrtums begünstigen. (Bearbeiter)

4. Die zweite Funktion des § 16 Abs. 2 StGB liegt – gleichsam als Kehrseite – darin, die Bestrafung des Täters wegen Vollendung des milderen Tatbestands zu ermöglichen, obwohl dogmatisch-konstruktiv nur ein Versuch vorliegt, da der Täter ein objektives Merkmal des milderen Tatbestands – nämlich dasjenige, das dessen Anwendung anstelle des schwereren Tatbestands bewirkt – lediglich irrtümlich annimmt. Ungeachtet der Frage, ob § 16 Abs. 2 StGB die Erfüllung des objektiven Tatbestands des milderen Strafgesetzes fingiert, um das „dogmatisch Unmögliche positivgesetzlich möglich zu machen“, oder diese Rechtsfolge aus der „materielle[n] Wertstruktur des Privilegierungsirrtums“ folgt, belegt die strafbegründende Wirkung der Irrtumsregelung ihren Ausnahmecharakter. Dies spricht dafür, sie eng auszulegen und auf Fälle der Privilegierung zu beschränken. (Bearbeiter)


Entscheidung

1244. BGH 5 ARs 34/22 - Beschluss vom 27. September 2022

Anfrageverfahren zum Vorsatz hinsichtlich der Quasikausalität (Aufgabe der Rechtsprechung des 5. Strafsenats).

§ 132 Abs. 3 GVG; § 13 StGB; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 S. 1 StGB

Der 5. Strafsenat gibt die in der Entscheidung zur Manipulation der Organvergabe vertretene Ansicht, der Unterlassungsvorsatz erfordere die Vorstellung, das eigene Tatverhalten werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Taterfolg auslösen, auf die Anfrage des 4. Strafsenates auf.


Entscheidung

1263. BGH 6 StR 435/22 - Beschluss vom 2. November 2022 (LG Saarbrücken)

Körperverletzung und gefährliche Körperverletzung (konkurrenzrechtliche Beurteilung); Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe.

§ 223 Abs. 1 StGB; § 224 Abs. 1 StGB; § 52 Abs. 1 StGB; § 55 Abs. 1 StGB

Wird dieselbe Person durch mehrere Handlungen des Täters verletzt, handelt es sich um eine einheitliche (gefährliche) Körperverletzung, wenn die einzelnen Akte ohne wesentliche Zäsur in engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen und mit der Mehrheit der Handlungen das tatbestandliche Unrecht intensiviert wird. Der Grundtatbestand des § 223 StGB tritt dabei hinter § 224 StGB zurück.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

1289. BGH 4 StR 134/22 - Beschluss vom 12. Oktober 2022 (LG Essen)

Computerbetrug (unbefugte Verwendung von Daten: unbefugt, betrugsspezifische Auslegung; Erlangen von zur Durchführung von Zahlungsvorgängen erforderlichen Kreditkartendaten durch Täuschung: Tatbestandserfüllung, Gefährdungsschaden, nachfolgende Verwendungen der Kartendaten, Vertiefung des Betrugsschadens; Näheverhältnis; Vermögensschaden: durch unbefugte Datenverwendung zustande gekommener Personenbeförderungsvertrag, Vermögensgefährdung); Beihilfe (Konkurrenzen: Tateinheit, Tatmehrheit, Anzahl der Beihilfehandlungen, Anzahl der geförderten Haupttaten, Umfang des erbrachten Tatbeitrags); Einziehung des Wertes von Taterträgen (Gesamtschuld: Mitverfügungsgewalt).

§ 263a StGB; § 27 StGB; § 52 StGB; § 53 StGB; § 73c StGB

1. Der Anwendungsbereich der Variante der unbefugten Verwendung von Daten gemäß § 263a Abs. 1 StGB ist unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Zwecks der Vorschrift durch die Struktur- und Wertgleichheit mit dem Betrugstatbestand bestimmt. Mit § 263a StGB sollte (lediglich) die Strafbarkeitslücke geschlossen werden, die dadurch entstanden war, dass der Tatbestand des Betruges menschliche Entscheidungsprozesse voraussetzt, die beim Einsatz von EDV-Anlagen fehlen. Das Tatbestandsmerkmal „unbefugt” erfordert daher eine betrugsspezifische Auslegung. Unbefugt ist die Verwendung der Daten dann, wenn sie gegenüber einer natürlichen Person Täuschungscharakter hätte.

2. Ein durch unbefugte Datenverwendung zustande gekommener Personenbeförderungsvertrag bedingt für sich gesehen bereits einen Vermögensschaden – jedenfalls in Form der konkreten Vermögensgefährdung –, sodass es für die Vollendung des Tatbestands keines Fahrt- bzw. Flugantritts bedarf.

3. Ob im Fall der Beihilfe Tateinheit oder Tatmehrheit anzunehmen ist, hängt von der Anzahl der Beihilfehandlungen und der vom Gehilfen geförderten Haupttaten ab. Maßgeblich ist dabei der Umfang des erbrachten Tatbeitrags. Tatmehrheit nach § 53 StGB ist anzunehmen, wenn mehreren Haupttaten jeweils eigenständige Beihilfehandlungen zuzuordnen sind. Dagegen liegt eine Beihilfe im Sinne des § 52 StGB vor, wenn der Gehilfe mit einer einzigen Unterstützungshandlung zu mehreren Haupttaten eines anderen Hilfe leistet.


Entscheidung

1192. BGH 1 StR 171/22 - Beschluss vom 22. September 2022 (LG München I)

Untreue (Untreue eines Rechtsanwalts durch Einzahlung von Fremdgeldern auf sein Geschäftskonto: kein Vermögensnachteil bei fehlender Geldempfangsvollmacht, nachträgliche Genehmigung der Einzahlung durch den Treugeber).

§ 266 Abs. 1 StGB; § 362 Abs. 2 BGB; § 185 Abs. 2 Satz 1 BGB

1. Ein Rechtsanwalt, der sich zur Weiterleitung bestimmte, ihm in diesem Sinne anvertraute Fremdgelder auf sein Geschäftskonto einzahlen lässt, bewirkt jedenfalls dann einen Vermögensschaden zu Lasten seines Mandanten, wenn er mit diesen Buchgeldern eigene Verbindlichkeiten begleicht, es sei denn, er ist uneingeschränkt dazu bereit und jederzeit fähig, diese Fehlbeträge aus eigenen flüssigen Mitteln auszugleichen und entsprechende Beträge an seinen Mandanten auszukehren (st. Rspr.).

2. Das gilt jedoch nicht, wenn der Rechtsanwalt keine Geldempfangsvollmacht hat, da dann der Zahlung keine Erfüllungswirkung (§ 362 Abs. 2 BGB) zukommt. In diesem Falle leistet der Schuldner an den Rechtsanwalt als Nichtberechtigten auf eigenes Risiko; die Kontoverfügungen des Rechtsanwalts lassen das Vermögen des

Treugebers unbeeinflusst. Anderes gilt aber, wenn der Treugeber das Einziehen der Forderung durch den Rechtsanwalt nachträglich genehmigt (§ 185 Abs. 2 Satz 1 Variante 1, § 362 Abs. 2 BGB).