HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2022
23. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

1156. BGH 5 StR 175/22 – Beschluss vom 4. August 2022 (LG Hamburg)

Erforderlichkeit der Notwehr bei lebensgefährlichen Messerstichen (mildestes Abwehrmittel; objektive ex ante-Betrachtung; Zeitpunkt der Verteidigungshandlung; endgültige Beseitigung der Gefahr; unzweifelhafte Abwehrwirkung; Androhung lebensgefährlicher Verteidigung; unbewaffneter Angreifer; Risiko des Fehlschlags der milderen Verteidigung).

§ 32 StGB

1. Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht.

2. Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines Messers kann deshalb durch Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist dessen Gebrauch zwar regelmäßig anzudrohen und, sofern dies nicht ausreicht, der Versuch zu unternehmen, auf weniger sensible Körperpartien einzustechen. Diese Einschränkungen stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass die Drohung oder der weniger gefährliche Messereinsatz unter den konkreten Umständen eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.


Entscheidung

1123. BGH 4 StR 41/22 – Beschluss vom 23. Juni 2022 (LG Münster)

Vorsatz (Vorliegen: Erstrecken auf den zum Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs führenden Geschehensablauf, unwesentliche Abweichungen des vorgestellten vom tatsächlichen Geschehensablauf, Abweichung innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren, Wissenselement, Willenselement, mehrere Sachverhaltsvarianten, Beweiswürdigung); gefährliche Körperverletzung.

§ 15 StGB; § 223 StGB; § 224 StGB

Der Vorsatz des Täters muss sich auf den zum Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs führenden Geschehensablauf erstrecken. Da ein Kausalzusammenhang zwischen zwei Ereignissen kaum je in allen Einzelheiten zu erfassen ist, wird der Vorsatz durch unwesentliche Abweichungen des vorgestellten vom tatsächlichen Geschehensablauf nicht in Frage gestellt. Eine solche Abweichung ist als unwesentlich anzusehen, wenn sie sich innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren hält und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigt.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

1049. OLG Karlsruhe 2 Rv 21 Ss 262/22 – Beschluss vom 26. Juli 2022

Urkundenfälschung (Covid-19 Impfung; Urkunde: Impfpass; Konkurrenzen: Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse, Fälschung von Gesundheitszeugnissen, Impfpass mit gefälschter Eintragung, keine Sperrwirkung, privilegierende Spezialität, kein Gebrauch des falschen Gesundheitszeugnisses, Bestimmtheitsgebot, Gesetzessystematik, Historie, Wertungswiderspruch); Fälschung von Gesundheitszeugnissen; Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse (Gesundheitszeugnis: Impfpass, Aufspaltung in zwei voneinander unabhängige Urkunden; Behörde: Apotheke, RKI).

§ 267 StGB; § 277 StGB a.F.; § 279 StGB a.F.

1. Vorlagebeschluss: Entfalten die § 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung eine Sperrwirkung (priviligierende Spezialität), die bei Vorlage eines Impfausweises mit gefälschten Eintragungen über den Erhalt von Covid-19 Schutzimpfungen in einer Apotheke zur Erlangung eines digitalen Covid-19-Impfzertifikats einen Rückgriff auf § 267 Abs. 1 StGB ausschließt und einer Verurteilung nach dieser Vorschrift entgegensteht? (OLG Karlsruhe)

2. Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, dass ein Impfpass nicht umfänglich als Gesundheitszeugnis anzusehen sei und die Angabe der Chargennummer des vorgeblich eingesetzten Impfstoffes die eigenständige Erklärung über den jeweils verwendeten Impfstoff und dessen Chargenzugehörigkeit enthalte überzeugt dies nicht. (Bearbeiter)

3. Da eine Behörde ein ständiges, von der Person des Inhabers unabhängiges, in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnetes Organ der Staatsgewalt mit der Aufgabe, unter öffentlicher Autorität nach eigener Entschließung für Staatszwecke tätig zu sein, ist, handelt es sich bei einer Apotheke nicht um eine Behörde in diesem Sinne, sondern um ein privates Unternehmen. Zwar haben die Apotheken nach § 22 Abs. 5 Infektionsschutzgesetz die Durchführung einer Schutzimpfung in einem digitalen Impfzertifikat zu bescheinigen, jedoch begründet allein die bloße Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben noch nicht die Eigenschaft als Behörde, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB. (Bearbeiter)

4. Ein „Gebrauchen“ im Sinne des § 279 StGB a.F. des verfälschten Impfnachweises gegenüber dem Robert-Koch-Institut als Bundesbehörde ist durch die Vorlage bei der Apotheke nicht gegeben. Denn der Gebrauch eines Gesundheitszeugnisses i.S.d. § 279 StGB a.F. verlangt, dass das Gesundheitszeugnis in den Machtbereich der Behörde verbracht wird und diese somit als Adressatin der Täuschung zumindest die Möglichkeit zur (sinnlichen) Wahrnehmung hat. Daran fehlt es bei Vorlage des verfälschten Impfnachweises bei der Apotheke, da gemäß § 22 Abs. 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) lediglich personenbezogene Daten aus dem Impfpass elektronisch an das RKI übermittelt werden, nicht jedoch das der Apotheke vorgelegte Impfbuch an sich. (Bearbeiter)

5. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 279 StGB a.F. nicht erfüllt, vermögen diese gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB keine Sperrwirkung zu entfalten. Soweit die überwiegende

Auffassung in der Literatur und Teile der Rechtsprechung die §§ 277 ff. StGB a.F. gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB als umfassende Privilegierung im Fall des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen ansehen überzeugt dies nicht. (Bearbeiter)


Entscheidung

1147. BGH 4 StR 377/21 – Urteil vom 18. August 2022 (LG Ingolstadt)

Verbotenes Kraftfahrzeugrennen (Qualifikation: Voraussetzungen, konkrete Gefahr, Beeinträchtigung der Sicherheit eines der benannten Individualrechtsgüter, Eintritt der Rechtsgutsverletzung nur vom Zufall abhängig, bloße enge räumliche Nähe zur Gefahrenquelle, Ausbleiben des Schadens, Verhinderung des Unfalls durch eine andere plötzliche Wendung, objektiv nachträgliche Prognose, Beinnaheunfall, Gefährdungsvorsatz, Abfinden mit dem Eintritt der Gefahrenlage, Vorstellung des Täters, Umstände des Einzelfalls, keine überspannten Anforderungen, Indizien).

§ 315d Abs. 2 StGB

1. Ein Kraftfahrzeugführer, der ein Rennen gegen sich selbst i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB fährt, verwirklicht den Qualifikationstatbestand des § 315d Abs. 2 StGB in objektiver Hinsicht, wenn er durch sein Fahrverhalten während des Alleinrennens eine konkrete Gefahr für eines der genannten Individualrechtsgüter verursacht und zwischen seinem Verursachungsbeitrag und dem Gefährdungserfolg ein innerer Zusammenhang besteht.

2. Dazu muss die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine Verkehrssituation geführt haben, in der die Sicherheit eines der benannten Individualrechtsgüter so stark beeinträchtigt worden ist, dass der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung – was aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – nur noch vom Zufall abhing. Dabei genügt es in der Regel nicht, dass sich Menschen oder bedeutende Sachwerte in enger räumlicher Nähe zur Gefahrenquelle befunden haben. Umgekehrt wird die Annahme einer Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden ausgeblieben ist, etwa weil sich der Gefährdete noch in Sicherheit bringen konnte oder eine andere plötzliche Wendung den Unfall noch verhinderte. Erforderlich ist ein Geschehen, das – nicht anders als in den Fällen der § 315b Abs. 1 und § 315c Abs. 1 StGB – auf der Grundlage einer objektiv nachträglichen Prognose als ein sog. Beinaheunfall beschrieben werden kann.

3. Dies bedeutet in subjektiver Hinsicht, dass der Täter nur dann mit dem erforderlichen zumindest bedingten Gefährdungsvorsatz handelt, wenn er über die allgemeine Gefährlichkeit des Alleinrennens hinaus auch die Umstände kennt, die den in Rede stehenden Gefahrerfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er sich mit dem Eintritt dieser Gefahrenlage zumindest abfindet. Diese Auslegung entspricht der Rechtsprechung zum Gefährdungsvorsatz in den §§ 315 – 315c, auf die nach der Gesetzesbegründung zu § 315d Abs. 2 StGB zurückgegriffen werden kann.

4. Wie konkret die Vorstellung des Täters sein muss und in welchem Umfang das Tatgericht dazu Feststellungen treffen muss, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Dabei dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Die Vorstellung des Täters muss sich nicht auf alle Einzelheiten des weiteren Ablaufs beziehen. Vielmehr reicht es in den Fällen des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB in der Regel aus, dass sich der Täter aufgrund seiner Fahrweise und der gegebenen Verhältnisse eine kritische Verkehrssituation vorstellt, die in ihren wesentlichen gefahrbegründenden Umständen (z. B. Nichteinhaltenkönnen der rechten Spur in anstehenden Kurven bei Gegenverkehr, Querverkehr an Kreuzungen, haltende Fahrzeug etc.) dem tatsächlich eingetretenen Beinaheunfall entspricht. Dabei können die Kenntnis des Täters von der Fahrtstrecke und den sich dabei ergebenden Gefahrenstellen, Erfahrungen des Täters aus dem bisherigen Fahrtverlauf, aber auch die Nähe des drohenden Unfalls Indizien für eine hinreichend konkrete Vorstellung des Täters von der drohenden Gefahr und deren Billigung sein.


Entscheidung

1072. BGH 6 StR 47/22 – Urteil vom 21. September 2022 (LG Weiden i.d. OPf.)

Aussetzung mit Todesfolge (Obhuts- und Beistandspflicht: Heranziehung der Grundsätze der Garantenstellung, wesentliche Veränderung der Situation des Hilfsbedürftigen; Erlöschen der Pflicht; keine Garantenstellung aus Übernahme einer Verantwortung: Beteiligung an der Suche nach dem Tatopfer; keine Gemeinschaft: lose Zusammenschlüsse); verminderte Schuldfähigkeit (Gesamtwürdigung: Blutalkoholkonzentration, psychodiagnostische Leistungskriterien); unterlassene Hilfeleistung; Tötungsdelikt (Vorsatz: besonders gefährliche Handlung, Umstände des Einzelfalles; Nachtatverhalten der Angeklagten: Chatnachrichten).

§ 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB; § 323c Abs. 1 StGB; § 211 StGB; § 212 StGB; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 StGB; 21 StGB

1. Zur Beurteilung der Frage nach der Obhuts- und Beistandspflicht bei der Aussetzung sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten. Hilfspflichten wie diejenigen aus § 323c Abs. 1 StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht aus. Sie folgt auch nicht allein daraus, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand geleistet wird, sondern entsteht erst dann, wenn der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändert, namentlich andere, nicht notwendigerweise sichere Rettungsmöglichkeiten ausschließt oder vorher jedenfalls nicht in diesem Maße bestehende Gefahren schafft.

2. Zwar können die Pflichten einer aus tatsächlicher Übernahme resultierenden Garantenstellung grundsätzlich aufgekündigt oder widerrufen werden. Die Beistandspflicht erlischt aber erst, wenn der auf den Schutz Vertrauende anderweitig eine Gefahrenvorsorge treffen kann, sich nicht mehr in hilfloser Lage befindet oder die Hilfe erkennbar nicht mehr will.

3. Die bloße Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft begründet noch keine gegenseitigen Hilfspflichten. Diese entstehen erst mit einer erkennbaren Übernahme einer

besonderen Schutzfunktion gegenüber Hilfsbedürftigen aus dieser Gruppe in bestimmten Gefahrenlagen. Dies ist bei losen Zusammenschlüssen etwa zum gemeinsamen Konsum von Alkohol oder Drogen, bei Wohngemeinschaften, bei Fahrgemeinschaften und bei Personen, die sich lediglich zufällig in derselben Gefahrensituation befinden, regelmäßig nicht der Fall.

4. Die Beteiligung an der Suche nach einem Geschädigten begründet keine Garantenstellung aus Übernahme einer Verantwortung. Weder genügt insoweit die bloße Kenntnis der Hilfsbedürftigkeit, noch folgt allein aus einem tatsächlich geleisteten Beistand eine Pflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung.

5. Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an.

6. Das Tatgericht kann bei der Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz auch das Nachtatverhalten der Angeklagten – hier: von ihnen versendete Chatnachrichten – heranziehen.


Entscheidung

1137. BGH 4 StR 215/22 – Beschluss vom 30. August 2022 (LG Berlin)

Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (Voraussetzungen; konkrete Gefahr: unmittelbare Folge, Dynamik des Straßenverkehrs); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Voraussetzungen; Darstellung in den Urteilsgründen: Anschluss an die Einschätzung eines Sachverständigen, wesentliche Anknüpfungspunkte; Schuldfähigkeit: paranoide Schizophrenie, konkretisierende Darlegung; symptomatischer Zusammenhang).

§ 315b StGB; § 63 StGB

1. Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB setzt den Eintritt einer verkehrsspezifischen Gefahr und – bei vorsätzlicher Begehung – einen hierauf gerichteten (natürlichen) Tatvorsatz voraus. Erforderlich ist daher in objektiver Hinsicht, dass die eingetretene konkrete Gefahr jedenfalls auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist. Dies ist der Fall, wenn eine der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt hat, in der eines der genannten Individualrechtsgüter im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht.

2. Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht.

3. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat schuldunfähig oder erheblich vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Dabei muss es sich um einen länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekt handeln, der zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet.

4. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. Schließt sich das Gericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit der Einschätzung eines Sachverständigen an, müssen die ihr zugrundeliegenden wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.

5. Die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit und macht die konkretisierende Darlegung, auf welche Weise sich die festgestellte psychische Störung bei der Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat, nicht entbehrlich.


Entscheidung

1150. BGH 4 StR 508/21 – Beschluss vom 7. Juli 2022 (LG Aachen)

Revisionsbegründung (Begründungsanforderungen); Computerbetrug (mehrere Handlungen: natürliche Handlungseinheit, Tateinheit, eine Tat); räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (Angriff auf die Entschlussfreiheit: Voraussetzung, täuschendes Element, List, nötigungsgleiche Wirkung, sanktionsbewehrte Rechtspflicht, Unkenntnis von Sachverhaltselementen, Maßgeblichkeit der erzielten Nötigungswirkung, Ausgehen der Zwangswirkung vom Täter, Restriktion durch weitere Tatbestandsmerkmale).

§ 344 Abs. 2 StPO; § 263a StGB; § 52 StGB; § 316a StGB

1. Voraussetzung der Tatbestandsvariante eines Angriffs auf die Entschlussfreiheit ist, dass der Täter in feindseliger Absicht auf dieses Rechtsgut einwirkt. Ausreichend, aber auch erforderlich ist eine gegen die Entschlussfreiheit gerichtete Handlung, sofern das Opfer jedenfalls deren objektiven Nötigungscharakter wahrnimmt; die feindliche Willensrichtung des Täters braucht das Opfer dagegen nicht erkannt zu haben. Ebenfalls nicht vorausgesetzt ist, dass der verübte Angriff sich bereits unmittelbar gegen das Eigentum bzw. Vermögen des Opfers richtet.

2. Es entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Senats, eine nötigungsgleiche Wirkung, auch wenn sie durch eine Unkenntnis von Sachverhaltselementen mitbedingt ist, als für einen Angriff auf die Entschlussfreiheit des geschädigten Kraftfahrers ausreichend anzusehen.

3. Weder der Wortlaut noch der Schutzzweck des § 316a StGB legen eine Restriktion des Tatbestandes auf solche Fallkonstellationen nahe, in denen sich das Opfer den Nötigungsmitteln des Täters beugt, die Zwangswirkung also nach seiner Vorstellung gerade von dem Täter ausgeht.


Entscheidung

1070. BGH 6 StR 339/22 – Beschluss vom 20. September 2022 (LG Weiden i.d. OPf.)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (eigenhändiges Delikt; Berühren des Kindes; Bestimmen des Kindes: Einwirkung auf das Kind).

§ 176 Abs. 1, Abs. 2 StGB a.F.; § 176a Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 StGB a.F.

1. Täter nach § 176a Abs. 2 Nr. 1, § 176 Abs. 1 StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung kann jedoch nur sein, wer selbst mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder eine ähnliche sexuelle Handlung, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden ist, an einem Kind vornimmt oder von dem Kind an sich vornehmen lässt. Erforderlich ist danach, dass der Täter das Kind selbst körperlich berührt, weil es sich bei dem Grundtatbestand des § 176 Abs. 1 StGB um ein eigenhändiges Delikt handelt.

2. Für die Annahme eines Bestimmens im Sinne des § 176 Abs. 2 StGB ist ausreichend, dass der Täter durch sein Einwirken auf das Kind die sexuelle Handlung zwischen dem nach § 176 Abs. 1 StGB handelnden Täter und dem Kind verursacht hat.

3. Fehlt es bereits an einem Bestimmen im Sinne von § 176 Abs. 2 StGB, scheidet auch eine gemeinschaftliche Tatbegehung nach § 176 Abs. 2 i.V.m. § 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB aF aus.


Entscheidung

1124. BGH 4 StR 55/22 – Beschluss vom 14. September 2022 (LG Hagen)

Zwangsprostitution (gewerbsmäßiges Handeln: Vorliegen, erzielte Einkünfte des Opfers, dauerhafte Einnahmequelle, keine Intention wiederholter Tatbegehung).

§ 232a StGB; § 232 StGB

Kommt es dem Täter lediglich darauf an, sein Opfer zur Aufnahme der Prostitution zu veranlassen, um sich aus den von diesem erzielten Einkünften eine dauerhafte Einnahmequelle zu erschließen, liegt kein Fall des § 232 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 StGB vor.


Entscheidung

1074. BGH 3 StR 145/22 – Beschluss vom 7. September 2022 (LG Wuppertal)

Schwere Zwangsprostitution (Gewerbsmäßigkeit).

§ 232 StGB; § 232a StGB

Das Qualifikationsmerkmal der Gewerbsmäßigkeit ist nur erfüllt, wenn der Täter den Straftatbestand des § 232a Abs. 1 StGB mehrfach verwirklicht beziehungsweise bei seiner Tathandlung den Vorsatz hat, zukünftig weitere Taten der Zwangsprostitution zwecks Generierung einer fortdauernden Einnahmequelle zu begehen. Die Absicht der fortdauernden Ausnutzung einer durch eine einmalige Einwirkung auf das Tatopfer veranlassten Prostitutionstätigkeit genügt zur Erfüllung des Qualifikationsmerkmals der Gewerbsmäßigkeit nicht.


Entscheidung

1119. BGH 2 StR 567/21 – Beschluss vom 22. Juni 2022 (LG Darmstadt)

Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen (Konkurrenzen: gesetzlicher Tatbestand, Mehrheit natürlicher Betätigungen, Beruhen auf demselben Entschluss, Zusammenfassung zu einer einheitlich bewerteten Straftat, zeitliche Abstände, Verschiedenheit der Sachlagen, Mehrheit von Taten, eine Tat, Tateinheit).

§ 132a StGB; § 52 StGB

Der gesetzliche Tatbestand des § 132a StGB fasst grundsätzlich eine Mehrheit natürlicher Betätigungen, die auf demselben Entschluss beruhen, zu einer einheitlich bewerteten Straftat zusammen, wobei zeitliche Abstände zwischen den von einem Täter gewählten Gelegenheiten und/oder die Verschiedenheit der Sachlagen die Annahme einer Mehrheit von Taten begründen können.


Entscheidung

1114. BGH 2 StR 474/21 – Beschluss vom 20. Juli 2022 (LG Darmstadt)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (nicht geringe Menge: Mindestwirkstoffmenge, Handelsmenge, Menge des Besitzes; Strafzumessung: Rauschgiftmenge, Art des Rauschgifts, Gefährlichkeit, Volksgesundheit); Strafzumessung (Einziehung: Nebenstrafe, Gegenstand von nicht unerheblichem Wert, bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafe); erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Forderungen gegenüber Abnehmern aus Drogengeschäften: kein Vermögenszuwachs, nicht werthaltig).

§ 29a BtMG; § 46 StGB; § 74 StGB; § 73a StGB

Forderungen gegenüber Abnehmern aus Drogengeschäften stellen – da nicht werthaltig – keinen Vermögenszuwachs dar.

Rechtsprechung Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH: II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil