HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2022
23. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1048. BVerfG 2 BvR 2222/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 30. September 2022 (BGH / OLG München)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Verurteilung im „NSU-Prozess“ (mittäterschaftliche Beteiligung an Mordtaten einer rechtsterroristischen Vereinigung; „nationalsozialistischer Untergrund“; Recht auf rechtliches Gehör; Schutz vor Überraschungsentscheidungen; Festhaltung des BGH an ständiger Rechtsprechung; Mittäterschaft bei vereinigungsbezogenen Taten nicht allein aufgrund Zugehörigkeit zu der Vereinigung; Entscheidung anhand allgemeiner Kriterien der Mittäterschaft; Tatbeiträge; Tatinteresse; Tatherrschaft; Recht auf rechtliches Gehör; kein Anspruch auf mündliche Verhandlung in der Revisionsinstanz; offensichtliche Unbegründetheit der Revision; Willkürverbot; Recht auf den gesetzlichen Richter; Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 267 Abs. 3 AEUV; § 25 Abs. 2 StGB; § 349 Abs. 2 StPO

1. Die Verwerfung der Revision gegen eine Verurteilung wegen mittäterschaftlicher Beteiligung an mehreren Mordtaten einer rechtsterroristischen Vereinigung (sog. nationalsozialistischer Untergrund, „NSU“) stellt keine einen Gehörsverstoß begründende Überraschungsentscheidung dar, wenn das Revisionsgericht die Annahme der Mittäterschaft – unter Festhaltung an seiner ständigen Rechtsprechung, wonach vereinigungsbezogene Taten dem einzelnen Mitglied nicht allein aufgrund dessen Zugehörigkeit zu der Organisation nach § 25 Abs. 2 StGB

zugerechnet werden können – nach allgemeinen Grundsätzen auf die objektiven Tatbeiträge und das Tatinteresse der Angeklagten stützt und dabei das Fehlen eines tatherrschaftsbegründenden Beitrags bei der Ausführung der Taten als unerheblich bewertet (Folgeentscheidung zu BGH, Beschlüsse vom 12. August 2021 und 22. September 2021 – 3 StR 441/20 – [= HRRS 2021 Nr. 938 und HRRS 2022 Nr. 35]).

2. Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Verfahrensgrundrecht gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern.

3. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ein Gericht grundsätzlich nicht zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung. Ihm ist zudem keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen. Ein Verfahrensbeteiligter ist vielmehr gehalten, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht zu ziehen und seinen Vortrag darauf einzustellen. Auch ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung folgt nicht unmittelbar aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör.

4. Die Möglichkeit, eine Revision nach § 349 Abs. 2 StPO ohne vorherige mündliche Verhandlung zu verwerfen, begegnet keinen verfassungs- oder konventionsrechtlichen Bedenken. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch die Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung in der Revisionsbegründung und der Gegenerklärung zum Antrag der Staatsanwaltschaft ausreichend Rechnung getragen. Auch das Fairnessgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nicht verletzt, weil in der Vorinstanz mündlich verhandelt worden ist, das Revisionsverfahren ausschließlich Rechtsfragen betrifft und § 349 Abs. 2 StPO der vereinfachten Bewältigung offensichtlich aussichtsloser Rechtsmittel dient.

5. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Revision im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO offensichtlich unbegründet ist, steht den Revisionsgerichten ein Entscheidungsspielraum zu. Die Anwendung der Vorschrift ist nicht willkürlich und widerspricht nicht dem Fairnessgebot, wenn die Revision ohne Anführung neuer Gesichtspunkte lediglich Rechtsfragen aufwirft, die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt sind, und eine Revisionshauptverhandlung zur Wahrung rechtsstaatlicher Garantien nicht erforderlich erscheint. Von Verfassungs wegen nicht geboten ist hingegen eine Auslegung des § 349 Abs. 2 StPO in dem Sinne, dass das Kriterium der offensichtlichen Unbegründetheit in objektiver Hinsicht nur erfüllt ist, wenn auch Dritte gerade die Rechtsauffassung des erkennenden Revisionssenats vertreten.

6. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Nichteinleitung eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch ein nationales letztinstanzliches Gericht kann daher eine der einheitlichen Auslegung bedürftige Frage des Unionsrechts der Entscheidung des gesetzlichen Richters vorenthalten. Das Bundesverfassungsgericht überprüft allerdings nur, ob ein Fachgericht die unionsrechtliche Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt hat. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das letztinstanzliche Fachgericht trotz Zweifeln an der Rechtsauslegung eine Vorlage nicht in Betracht zieht oder wenn es bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweicht.