HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2022
23. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

122. BGH 2 StR 491/20 - Urteil vom 29. September 2021 (LG Bonn)

Totschlag durch Unterlassen (Garantenstellung: Eltern-Kind-Beziehung, familiäre Solidarität bei faktischem Zusammenleben, Mitübernahme durch einen Dritten; Quasikausalität; Vorsatz: Gegenstand); Aussetzung mit Todesfolge (hilflose Lage; Verursachung einer konkreten Gefahr des Todes: unumkehrbarer Sterbeprozess, Steigerung der Gefahr des Todes; Konkurrenzen; Strafzumessung: Strafrahmen bei der Verdrängung eines milderen Gesetzes, Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB bei einem echten Unterlassungsdelikt, keine Analogie bei der Tatbestandsvariante des Im-Stich-Lassens).

§ 212 StGB; § 13 StGB; § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB; § 1618a BGB

1. Nach § 1618a BGB sind Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schuldig. Obwohl der Gesetzgeber an einen Verstoß gegen diese Regel keine Rechtsfolgen geknüpft hat, entfaltet die Vorschrift über das bürgerliche

Recht hinaus als Wertemaßstab auch Wirkung bei der Konkretisierung strafrechtlicher Garantenpflichten. Dies bedeutet, dass bei Prüfung einer Garantenpflicht von Kindern gegenüber Eltern im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB maßgeblich auf § 1618a BGB zurückzugreifen ist.

2. Die in § 1618a BGB normierte familiäre Solidarität begründet schon von Gesetzes wegen im Eltern-Kind-Verhältnis bei faktischem Zusammenleben in aller Regel eine gegenseitige Schutzpflicht, die als Garantenpflicht ein Handeln zur Gefahrenabwehr gebietet.

3. Eine Mitübernahme von Pflichten durch einen Dritten lässt die Garantenstellung des bisherigen Garanten grundsätzlich unberührt.

4. Gegenstand des Vorsatzes müssen bei Unterlassung neben der Kenntnis von der Garantenpflicht, der Untätigkeit, der physisch-realen Handlungsmöglichkeit, der Eintritt des Erfolges, die Quasi-Kausalität sowie die eine objektive Zurechnung begründenden Umstände sein. Hinsichtlich der hypothetischen Kausalität genügt bedingter Vorsatz dahin, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, sein Eingreifen könne den Erfolg abwenden.

5. In einer hilflosen Lage befindet sich derjenige, der einer potenziellen Gefahr für Leib oder Leben ohne die Möglichkeit eigener oder fremder Hilfe ausgesetzt ist.

6. Ebenso wie der Totschlag durch Unterlassen aufgrund der unterbliebenen Rettung der Geschädigten vor dem Erfrieren nicht durch deren möglicherweise krankheitsbedingt ohnehin eingetretenen Sterbeprozess ausscheidet, entfällt auch das vorher verwirklichte konkrete Gefährdungsdelikt nicht deshalb, weil eine andere Gefahr sich später hätte realisieren können.

7. Verletzt eine Tat mehrere Strafgesetze, wird aber der Täter, weil das schwerere Gesetz das mildere verdrängt, nur aus dem schwereren schuldig gesprochen, so darf dann, wenn das vorrangige Gesetz den Täter nicht privilegieren soll, die Mindeststrafe des verletzten milderen Gesetzes nicht unterschritten werden.

8. Die Aussetzung in der Tatbestandsvariante des Im-Stich-Lassens (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) stellt sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als echtes Unterlassungsdelikt dar. Für eine fakultative Strafrahmenmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB ist damit kein Raum. Es ist nicht geboten, in einer täterbegünstigenden Analogie die Anwendung des § 13 Abs. 2 StGB auch auf die zweite Tatbestandsvariante der Aussetzung zu erstrecken.


Entscheidung

54. BGH 5 StR 329/21 - Beschluss vom 7. Dezember 2021 (LG Dresden)

Strafbarkeit des Wohnungsinhabers bei in der Wohnung begangenen Straftaten (aktive Beteiligung; Mittäterschaft; Beihilfe; Unterlassen; Garantenpflicht); Belehrung von Zeugen (Ordnungsvorschrift; kein Verwertungsverbot); Beweiswürdigung.

§ 13 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB; § 224 StGB; § 57 StPO; § 261 StPO

1. Die bloße Kenntnis des Wohnungsinhabers von einer in seiner Wohnung begangenen Tat (hier: einer gefährlichen Körperverletzung) und deren Billigung allein kann schon nicht die Annahme einer aktiven Beihilfe gemäß § 27 StGB und damit erst recht nicht die Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB begründen. Für ein Unterlassen i.S.d. § 13 StGB hat der Inhaber einer Wohnung im Fall von darin begangenen Rechtsgutsverletzungen strafrechtlich nur einzustehen, wenn besondere Umstände hinzutreten, die eine Rechtspflicht zum Handeln begründen.

2. Die Belehrungsvorschrift des § 57 StPO, die nach § 163 Abs. 3 Satz 2 StPO für polizeiliche Zeugenvernehmungen entsprechend gilt, ist lediglich eine Ordnungsvorschrift, die ausschließlich dem Interesse des Zeugen dient; auf ihre Verletzung kann die Revision nicht gestützt werden. Die Angaben eines nicht ordnungsgemäß nach § 57 StPO belehrten Zeugen unterliegen danach regelmäßig auch keinem Beweisverwertungsverbot.


Entscheidung

134. BGH 4 StR 345/21 - Beschluss vom 24. November 2021 (LG Münster)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (hinreichend konkrete Erfolgsaussicht: nachvollziehbare Begründung); Versuch (Rücktritt: Fehlschlag, Freiwilligkeit, Entdeckungsrisiko); verminderte Schuldfähigkeit (lückenhafte Beweiswürdigung: Berechnung des Blutalkoholgehalts, Gesamtwürdigung der Konsummenge und psychodiagnostischer Kriterien).

§ 64 StGB; § 21 StGB; § 23 StGB; § 24 StGB

Ein Fehlschlag ist gegeben, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen naheliegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt oder wenn er subjektiv die Vollendung nicht mehr für möglich hält. Maßgeblich dafür ist nicht der ursprüngliche Tatplan, dem je nach Fallgestaltung allerdings Indizwirkung für den Erkenntnishorizont des Täters zukommen kann, sondern dessen Vorstellung nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung. Ein Fehlschlag liegt nicht bereits darin, dass der Täter die Vorstellung hat, er müsse von seinem Tatplan abweichen, um den Erfolg herbeizuführen. Hält er die Vollendung der Tat im unmittelbaren Handlungsfortgang noch für möglich, wenn auch mit anderen Mitteln, so ist der Verzicht auf ein Weiterhandeln als freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch zu bewerten.


Entscheidung

10. BGH 1 StR 291/21 - Beschluss vom 2. November 2021 (LG Karlsruhe)

Fehlende Schuldfähigkeit (Voraussetzungen: zweistufige Prüfung, erforderliche Darstellung im Urteil).

§ 20 StGB, § 21 StGB; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter

eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein (st. Rspr.).

2. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.).


Entscheidung

30. BGH 3 StR 314/21 - Beschluss vom 5. Oktober 2021 (LG Mönchengladbach)

Schuldfähigkeit bei akuten Schüben einer Schizophrenie (regelmäßig fehlende Unrechtseinsicht; erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit; Tatzeitpunkt); Voraussetzungen einer Anordnung der Umkehr der Vollzugsreihenfolge bei Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 67 StGB

1. Zwar ist bei akuten Schüben einer Schizophrenie in der Regel davon auszugehen, dass der Betroffene wegen fehlender Unrechtseinsicht schuldunfähig ist. Nimmt das Tatgericht indes lediglich eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit des Täters an, so muss es darüber befinden, ob diese zum Fehlen der Unrechtseinsicht geführt oder ob der Täter gleichwohl das Unrecht der Tat eingesehen hat. Hat dagegen der Angeklagte ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen, so ist seine Schuld nicht gemindert und § 21 StGB nicht anwendbar.

2. Nach § 67 Abs. 1 StGB wird eine Maßregel nach § 63 StGB in der Regel vor der gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe vollzogen. Die Umkehrung der Vollzugsreihenfolge nach § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB hat Ausnahmecharakter und bedarf daher einer auf den Einzelfall bezogenen sorgfältigen Prüfung und Begründung. Ein Vorwegvollzug von Strafe ist nur insoweit zulässig, als er im Rehabilitationsinteresse des Verurteilten erforderlich ist. Bleibt bei der Prognose offen, ob durch den Strafvorwegvollzug bessere Therapiechancen eröffnet werden, so ist dieser unzulässig.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

107. BGH 4 StR 511/20 - Urteil vom 11. November 2021 (LG Arnsberg)

BGHSt; verbotene Kraftfahrzeugrennen (Begriff des Kraftfahrzeugrennens; Teilnehmen an einem Kraftfahrzeugrennen als eigenhändiges Delikt; Abs. 2: eigenhändiges Delikt, innerer Zusammenhang zwischen Verursachungsbeitrag und dem Gefährdungserfolg, renntypischer Zusammenhang, Nebentäterschaft); Gefährdung des Straßenverkehrs (falsches Überholen; grobe Verkehrswidrigkeit; Rücksichtslosigkeit; Fahruntüchtigkeit; Konkurrenzen); fahrlässige Tötung; fahrlässige Körperverletzung; Verfahrensrüge (Zulässigkeit; Ablehnung von Beweisanträgen auf Einholung von Sachverständigengutachten).

§ 315d StGB; § 315c StGB; § 222 StGB; § 229 StGB; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Ein Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB ist ein Wettbewerb zwischen wenigstens zwei Kraftfahrzeugführern, bei dem es zumindest auch darum geht, mit dem Kraftfahrzeug über eine nicht unerhebliche Wegstrecke eine höhere Geschwindigkeit als der andere oder die anderen teilnehmenden Kraftfahrzeugführer zu erreichen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Teilnehmer zueinander in Bezug auf die Höchstgeschwindigkeit, die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit oder die schnellste Beschleunigung in Konkurrenz treten. (BGHSt)

2. § 315d Abs. 2 StGB ist ein eigenhändiges Delikt. Ein Teilnehmer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt den Qualifikationstatbestand des § 315d Abs. 2 StGB in objektiver Hinsicht deshalb nur, wenn er durch sein eigenes Fahrverhalten während der Rennteilnahme eine konkrete Gefahr für eines der genannten Individualrechtsgüter verursacht und zwischen seinem Verursachungsbeitrag und dem Gefährdungserfolg ein innerer Zusammenhang besteht. Nebentäterschaft kann vorliegen, wenn ein und derselbe Gefährdungserfolg von mehreren Rennteilnehmern herbeigeführt wird. Dies setzt voraus, dass sich die Rennteilnehmer in derselben kritischen Rennsituation befinden und zwischen den jeweiligen Mitverursachungsbeiträgen und dem konkreten Gefährdungserfolg ein örtlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht. (BGHSt)

3. Teilnehmer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen im Sinne des § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB kann nur ein

Kraftfahrzeugführer sein. Deshalb handelt es sich um ein sog. eigenhändiges Delikt. (Bearbeiter)


Entscheidung

126. BGH 4 StR 167/21 - Urteil vom 9. Dezember 2021

BGHR; gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (Absicht der Herbeiführung eines Unglücksfalls: Absicht der Verwirklichung einer herbeigeführten verkehrsspezifischen Gefahr, Beinaheunfall, konkrete Gefahr oder Schädigung, Dynamik des Straßenverkehrs; keine Verwirklichung einer verkehrstypischen Gefahr; Eventualvorsatz: Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit, Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände, objektive Gefährlichkeit der Tathandlung; Ermöglichungsabsicht).

§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB; § 15 StGB

1. Um den vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB (Herbeiführen eines Unglücksfalls) zu qualifizieren, muss die Absicht des Täters darauf gerichtet sein, dass sich gerade eine von ihm herbeigeführte verkehrsspezifische Gefahr verwirklicht. (BGHR)

2. Eine verkehrsspezifische Gefahr setzt voraus, dass die eingetretene konkrete Gefahr – jedenfalls auch – auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist. Dies ist der Fall, wenn eine der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt hat, in der eines der genannten Individualrechtsgüter im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. (Bearbeiter)

3. Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann aber auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht. (Bearbeiter)

4. Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind nicht allein maßgeblich für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an. (Bearbeiter)


Entscheidung

112. BGH 2 StR 203/21 - Urteil vom 27. Oktober 2021 (LG Bonn)

Brandstiftung (Beweiswürdigung); schwere Brandstiftung (Zerstörung einer der Wohnung von Menschen dienenden Räumlichkeit; taugliches Tatobjekt: Lagerraum, Anwesendsein von gewisser Dauer, Tatbegehung zum Zeitpunkt des üblichen Aufenthalts von Menschen; tatsächlicher Aufenthalte eines Menschen in der Räumlichkeit zum Tatzeitpunkt, „zufälliger“ Aufenthalt); unterlassene Hilfeleistung (Zumutbarkeit: Anwesenheit bei einem durch eine Straftat ausgelösten Unglücksfall); Kognitionspflicht; Hilfe zur Aufklärung von schweren Straftaten.

§ 306 StGB; § 306a StGB; § 323c Abs. 1 StGB; § 46b StGB

1. Ein Lagerraum scheidet nicht grundsätzlich als taugliches Tatobjekt im Sinne von § 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB aus. Maßgeblich ist zunächst, ob es sich bei ihm um eine Räumlichkeit handelt, die zeitweise dem Aufenthalt von Menschen dient. Dies setzt – auch um einen die Strafdrohung legitimierenden Rechtsgutsbezug herzustellen – ein Anwesendsein von einer gewissen Dauer voraus, dass noch als ein „Sichaufhalten“ angesehen werden kann. Bloßes flüchtiges oder gelegentliches Betreten zur Vornahme von kurzen Vorrichtungen reicht hierfür nicht aus.

2. Voraussetzung für die Annahme eines im Sinne des § 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB tauglichen Tatobjekts ist weiter, dass die Brandstiftung zu einem Zeitpunkt begangen wird, zu dem sich üblicherweise Menschen in dem Objekt aufzuhalten pflegen. Der tatsächliche Aufenthalt eines Menschen in der Räumlichkeit zum Tatzeitpunkt genügt zur Erfüllung des Tatbestandes nicht, wenn keine entsprechende Regelhaftigkeit hinter dem insoweit nur „zufälligen“ Aufenthalt steht. Maßgeblich ist, dass sich im Zeitpunkt der Brandstiftung Menschen nach der konkreten Nutzung des fraglichen Objekts typischerweise in der Räumlichkeit aufhalten.

3. Anwesenheit bei einem durch eine Straftat ausgelösten Unglücksfall schließt die Zumutbarkeit einer Hilfeleistung nicht aus.


Entscheidung

49. BGH 5 StR 236/21 - Urteil vom 8. Dezember 2021 (LG Kiel)

Gewerbs- und bandenmäßiger Betrug durch Abschluss von Lebensversicherungsverträgen bei geplanter Vortäuschung des Todesfalles (Gefährdungsschaden; Eingehungsbetrug; Erfüllungsbetrug; wirtschaftliche Betrachtung; Bezifferung; Versuch; unmittelbares Ansetzen; Bandenabrede bei Begrenzung auf kurzen Zeitraum).

§ 263 StGB

1. Wird eine Lebensversicherung in der Absicht abgeschlossen, durch das Vortäuschen des Todes der versicherten Person die Versicherungsleistung zu erlangen, kann darin ein Eingehungsbetrug (§ 263 StGB) liegen. Ob es bereits durch den Vertragsabschluss zu einem bezifferbaren (Gefährdungs-)Schaden kommt, unterliegt tatgerichtlicher Bewertung und Entscheidung. Maßgeblich ist dabei eine konkrete wirtschaftliche Betrachtung. Zu bewerten sind einerseits der wirtschaftliche Wert des Anspruchs auf Zahlung der Versicherungsprämien, andererseits der wirtschaftliche Wert der Risikoabsicherung. Entscheidende Faktoren sind dabei die Leistungsfähigkeit und -willigkeit des Versicherungsnehmers, die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Ausführung des Tatplans, der gleichzeitige Abschluss mehrerer Versicherungen sowie Sicherungsmechanismen seitens der Versicherung auf dem Weg zur erstrebten Auszahlung der Versicherungssumme.

2. Gegen ein Überschreiten der Schwelle zum Versuch spricht es im Allgemeinen, wenn es zur Herbeiführung des

vom Gesetz vorausgesetzten Erfolges noch eines weiteren – neuen – Willensimpulses bedarf. Wesentliches Kriterium für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium ist insofern das aus der Sicht des Täters erreichte Maß konkreter Gefährdung des geschützten Rechtsguts. Beim Betrug zum Nachteil einer Lebensversicherung durch Vortäuschen des Versicherungsfalls ist ein unmittelbares Ansetzen regelmäßig zu verneinen, sofern für die Auszahlung der Versicherungssumme noch wesentliche Zwischenschritte erforderlich sind, wie etwa das Besorgen erforderlicher Dokumente für den Todesnachweis.

3. Eine Bande setzt den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten des im Gesetz genannten Deliktstyps zu begehen. Die Begrenzung auf einen kurzen Zeitraum, eine einheitliche Handlungsweise und auf bestimmte Geschädigte stellt die Annahme einer Bandenabrede nicht ohne Weiteres in Frage. Anders verhält es sich im Falle einer Beschränkung auf wenige, von vornherein – d.h. im Zeitpunkt der Bandenabrede – individuell bestimmte Taten.


Entscheidung

85. BGH 2 StR 264/21 - Beschluss vom 28. September 2021 (LG Marburg)

Sexueller Missbrauch von Kindern (Anstiftung: Bestimmen); Herstellen kinderpornographischer Schriften (Täterschaft: Mittäterschaft, mittelbare Täterschaft).

§ 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB; § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 26 StGB; § 25 Abs. 2 StGB

1. Bestimmen ist das Verursachen eines vom Gesetz beschriebenen Verhaltens gleich mit welchen Mitteln. Dies setzt eine unmittelbare, nicht notwendige eigenhändige, Einwirkung auf das Kind voraus, die zumindest mitursächlich dafür ist, dass dieses die sexuelle Handlung vornimmt. Der Strafvorwurf wird durch den Bestimmungsakt als tatsächliche Verursachung der sexuellen Handlung des Kindes begründet.

2. Beim Herstellen kinderpornographischer Schriften ist jeder, der an deren Herstellung mitwirkt, als eigenständig handelnde Person Täter. Jedoch sind auch Mittäterschaft oder mittelbare Täterschaft rechtlich möglich. Für die Abgrenzung gelten die allgemeinen Regeln. Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) setzt dabei einen gemeinsamen Tatentschluss voraus, auf dessen Grundlage jeder Mittäter einen objektiven Tatbeitrag leisten muss. Der eigene Tatbeitrag muss sich dabei so in die Tat einfügen, dass dieser als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt dessen Handeln als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint.


Entscheidung

125. BGH 4 StR 134/21 - Beschluss vom 11. November 2021 (LG Itzehoe)

Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (verkehrsfeindlicher Inneneingriff); Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Strafmilderung: Aufklärungshilfe, Mehrzahl von Taten); besonders schwere räuberische Erpressung (Einsatz des gefährlichen Werkzeugs: Ziel, Tatmehrheit, weiterer Tatentschluss).

§ 315b StGB; §§ 255, 250 Abs. 2 StGB; § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG

1. Ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr wird von § 315b StGB nur erfasst, wenn ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu „pervertieren“, und es ihm darauf ankommt, hierdurch in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert zudem, dass durch den tatbestandsmäßigen Eingriff Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert konkret gefährdet werden.

2. Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wurde.

3. Ein bloß vorschriftswidriges Verkehrsverhalten fällt deshalb grundsätzlich nicht unter § 315b StGB, sondern – bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen – nur unter § 315c StGB. Insoweit kommt § 315c StGB eine „Sperrwirkung“ zu.

4. Nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG setzt die fakultative Strafmilderung voraus, dass der Täter durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Straftat nach den §§ 29 bis 30a BtMG, die mit seiner Tat in Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte.


Entscheidung

133. BGH 4 StR 320/21 - Beschluss vom 28. Oktober 2021 (LG Essen)

Schwere Brandstiftung (Wohnung: Entwidmung, Aufgabe einer einzelnen Wohnung; Zerstörung einer Untereinheit).

§ 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB

Die brandbedingte Zerstörung und die damit einhergehende Aufgabe einer einzelnen Wohnung durch dessen Bewohner vermag nicht die Entwidmung eines von mehreren Personen bewohnten Gebäudes als taugliches Tatobjekt der schweren Brandstiftung herbeizuführen. Denn die Zerstörung einer Untereinheit ändert nichts an der typischen Gefahrenlage, der § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB zu begegnen bestimmt ist.


Entscheidung

39. BGH 5 StR 115/21 - Urteil vom 13. Dezember 2021 (LG Hamburg)

Landfriedensbruch durch Beteiligung an Demonstrationen im sog. „schwarzen Block“ (Bedrohung mit einer Gewalttätigkeit); Rechtsfolgenentscheidung im Jugendstrafrecht (Schwere der Schuld; Erziehungsgedanke; jugendspezifische Kriterien; äußerer Unrechtsgehalt; sonstige Strafzwecke; revisionsgerichtliche Überprüfung).

§ 125 StGB; § 17 Abs. 2 JGG; § 18 Abs. 2 JGG

1. Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit i.S.d. § 125 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfordern die ausdrücklich

oder konkludent erklärte Ankündigung eines Übels, das der Drohende selbst oder kraft seines Einflusses durch einen anderen wirklich oder vorgeblich jemandem zufügen will und kann. Ein in diesem Sinne täterschaftliches Bedrohen kann bereits darin liegen, dass sich der Angeklagte bei einer Demonstration uniformiert und vermummt in den sog. „Schwarzen Block“ eingliedert und dabei das Ziel verfolgt, gemeinsame Militanz zu demonstrieren.

2. Kommt die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG in Betracht, ist diese nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die innere Tatseite; dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt nur insofern Bedeutung zu, als hieraus Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Entscheidend ist, inwieweit sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des jugendlichen oder heranwachsenden Täters in der Tat in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben.

3. Auch wenn eine Jugendstrafe ausschließlich wegen der Schwere der Schuld verhängt wird, ist bei der Bemessung der Strafhöhe der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen. Daneben sind auch andere Strafzwecke zu beachten. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen dabei in der Regel miteinander in Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind. Das nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmende Ausmaß der individuellen Schuld bildet wegen des bei der Jugendstrafe ebenfalls geltenden verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes den Rahmen, innerhalb dessen die erzieherisch erforderliche Strafe gefunden werden muss.

4. Rechtsfehlerhaft ist eine jugendstrafrechtliche Rechtsfolgenentscheidung nur dann, wenn sie beachtliche Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Wertungen der Rechtsordnung in Widerspruch steht oder bei der Prüfung der Schuldschwere den Unrechtsgehalt der Tat fehlerhaft erfasst, wodurch die vom Tatgericht auf dieser Grundlage gezogenen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld in Zweifel zu ziehen sind.


Entscheidung

137. BGH 4 StR 366/21 - Urteil vom 9. Dezember 2021 (LG Bielefeld)

Besonders schwere räuberische Erpressung (Verwenden einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs: Einsatz zur Erzwingung der Herausgabe der angestrebten Beute; Versuch: Tatplan, unmittelbares Ansetzen, „Teilrücktritt“; Strafzumessung: Strafmilderung); Einziehung von Tatmitteln.

§ 255 StGB; § 250 StGB; § 22 StGB; § 74 Abs. 1 StGB

Die Qualifikation des Verwendens einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB umfasst jeden zweckgerichteten Gebrauch eines objektiv gefährlichen Tatmittels. Nach der Konzeption der Raubdelikte zielt das Verwenden auf den Einsatz als Nötigungsmittel bei der Verwirklichung des Grundtatbestands des Raubes. Es liegt sonach vor, wenn der Täter eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug gerade als Mittel entweder der Ausübung von Gewalt gegen eine Person oder der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gebraucht, um die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache zu ermöglichen. Bei einer räuberischen Erpressung muss der Täter ein solches Tatmittel in dieser Weise einsetzen, um die Herausgabe der angestrebten Beute zu erzwingen.


Entscheidung

76. BGH 6 StR 485/21 - Beschluss vom 2. November 2021 (LG Frankfurt)

Sexueller Übergriff; Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte (Versuchsbeginn: unmittelbares Ansetzen, Vorstellung des Täters, wesentlicher Zwischenakt; eine Tat im Rechtssinne bei Teilakten einer sukzessiven Tatausführung; Rücktrittshorizont).

§ 177 Abs. 1 StGB; 184b Abs. 3 StGB; § 22 StGB; § 52 StGB

Mehrere natürliche Handlungen – hier: wiederholte Drohungen des Täters – können als eine Tat im Rechtssinne anzusehen sein, wenn sie sich als Teilakte einer sukzessiven Tatausführung zur Erreichung eines einheitlichen Erfolges – hier: das Erlangen von Nacktbildern oder einem Entkleidungsvideo – darstellen. Diese tatbestandliche Einheit ist dann nicht mehr gegeben, wenn der Täter den deliktischen Erfolg erreicht hat oder ein fehlgeschlagener Versuch vorliegt, von dem er nicht mehr strafbefreiend zurücktreten kann.