HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2021
22. Jahrgang
PDF-Download

III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

243. BGH 4 StR 151/20 - Beschluss vom 21. Oktober 2020 (LG Schwerin)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Auswirkung der Aufhebung der Entscheidung über eine Maßregelanordnung auf die Feststellungen; Gefährlichkeitsprognose: Straftat von erheblicher Bedeutung, Maßstab der Störung des Rechtsfriedens); gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (verkehrsspezifische konkrete Gefahr; Beinahe-Unfall).

§ 63 StGB; § 315b StGB

1. Die Aufhebung der Entscheidung über eine Maßregelanordnung mit den zugehörigen Feststellungen hat zur Folge, dass alle Feststellungen aufgehoben sind, die sich auf den Maßregelausspruch beziehen. Dazu zählen auch die Feststellungen zu den Anlasstaten und die tatsächlichen Grundlagen für die Gefährlichkeitsprognose. Anders verhält es sich nur, wenn Feststellungen ausdrücklich aufrechterhalten worden sind. Insoweit tritt für den neuen Tatrichter Bindungswirkung ein. Soweit Feststellungen aufgehoben wurden, hat die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer Feststellungen zu treffen. Dabei darf kein Zweifel daran gelassen werden, dass es sich um neue, eigenständig getroffene Feststellungen handelt; eine Bezugnahme auf Aktenstellen, wozu auch das frühere Urteil gehört, ist in solchen Fällen gemäß § 267 Abs. 1 StPO nicht zulässig. Das Fehlen neuer Feststellungen ist ein sachlich-rechtlicher Mangel, der auf die allgemeine Sachrüge hin zu beachten ist.

2. Nicht jede Sachbeschädigung im Straßenverkehr ist tatbestandsmäßig im Sinne des § 315b StGB. Vielmehr gebietet der Schutzzweck des § 315b StGB insoweit eine restriktive Auslegung der Norm, als unter einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert nur verkehrsspezifische Gefahren verstanden werden dürfen. Diese Voraussetzung ist bei Außeneingriffen ohne das Erfordernis eines „Beinahe-Unfalls“ nur dann erfüllt, wenn die konkrete Gefahr – jedenfalls auch – auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte (Dynamik des Straßenverkehrs) zurückzuführen ist. Steht aber ein Außeneingriff in den Straßenverkehr in keinem relevanten Zusammenhang mit der Eigendynamik des getroffenen Fahrzeugs, ist eine verkehrsspezifische konkrete Gefahr nur zu bejahen, wenn durch den Eingriff die sichere Beherrschbarkeit eines im fließenden Verkehrs befindlichen Fahrzeugs beeinträchtigt und dadurch mit der Folge eines „Beinahe-Unfalls“ unmittelbar auf den Fahrvorgang eingewirkt wird.

3. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist wegen ihrer unbestimmten und grundsätzlich unbefristeten Dauer eine außerordentlich belastende Maßnahme; sie darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB begehen wird.

4. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB liegt vor, wenn diese mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, etwa die Bedrohung oder die Sachbeschädigung, sind daher nicht ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen, soweit sie nicht mit aggressiven Übergriffen einhergehen.

5. Maßgeblich für das Ausmaß der Störung des Rechtsfriedens und damit auch die Betroffenheit der Allgemeinheit sowie die Gefährlichkeit des Täters sind stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. Dies gilt auch für die Frage, ob bei einer drohenden Vielzahl von weniger schweren Taten, die für sich gesehen keinen schweren wirtschaftlichen Schaden begründen würden, auf den drohenden Gesamtschaden abzustellen ist. Die Frage, ob eine festgestellte Tendenz zur serienmäßigen Tatbegehung den friedensstörenden Charakter jeder einzelnen Tat so erhöht, dass sie alle als erheblich empfunden werden, kann nur auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller Umstände beantwortet werden.


Entscheidung

221. BGH 4 StR 139/20 - Beschluss vom 12. Januar 2021 (LG Kaiserslautern)

Täter-Opfer-Ausgleich (kommunikativer Prozess zwischen Täter und Opfer: über Verteidiger vermittelte Kommunikation zwischen Täter und Opfer); besondere gesetzliche Milderungsgründe; Revisionsgründe (Beruhen des Urteils auf einer fehlerbehafteten Ablehnung der Strafmilderung).

§ 46a Nr. 1 StGB; § 49 Abs. 1 StGB: § 337 Abs. 1 StPO

1. Nach der Regelung des § 46a Nr. 1 StGB kann das Gericht die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 StGB mildern, wenn der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, die Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt hat. Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters auf einen umfassenden friedensstiftenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen angelegt und Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein muss. Der kommunikative Prozess setzt keinen persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer voraus, sondern kann auch durch

Dritte vermittelt werden. Unverzichtbar ist nach dem Grundgedanken des Täter-Opfer-Ausgleichs aber eine von beiden Seiten akzeptierte, ernsthaft mitgetragene Regelung, was grundsätzlich voraussetzt, dass das Opfer die Leistungen des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptiert. Daher sind regelmäßig tatrichterliche Feststellungen dazu erforderlich, wie sich das Opfer zu den Wiedergutmachungsbemühungen des Täters gestellt hat.

2. Da der Ausgleich zwischen Täter und Opfer auch durch dritte Personen vermittelt werden kann, steht die Tatsache, dass die Entschuldigung beim Opfer und das für einen Täter-Opfer-Ausgleich in aller Regel erforderliche Geständnis des Täters über die Verteidigerin erfolgten, der Annahme eines kommunikativen Prozesses im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB nicht entgegen.

3. Die fehlerbehaftete Ablehnung der Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB führt zur Aufhebung des Strafausspruchs, wenn trotz der strafmildernden Berücksichtigung der Ausgleichsbemühungen des Angeklagten bei der Strafrahmenwahl und der Strafzumessung im engeren Sinne nicht auszuschließen ist, dass sich der Fehler zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.


Entscheidung

247. BGH 4 StR 405/20 - Beschluss vom 21. Januar 2021 (LG Dortmund)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Begriff des Hangs); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Inbegriff der Hauptverhandlung: allein mündliche Ausführungen, nicht schriftliches Gutachten eines Sachverständigen).

§ 64 StGB; § 261 StPO

1. Für die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Die Annahme einer sozialen Gefährdung oder sozialen Gefährlichkeit kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Betroffene Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden, sondern auch bei Beschaffungskriminalität.

2. Zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO wird nicht das vorbereitende schriftliche Gutachten des Sachverständigen, sondern seine mündlichen Ausführungen in der Hauptverhandlung; sie erfolgen regelmäßig unter Einbeziehung des gesamten mündlichen Verfahrensstoffes der Hauptverhandlung und daher auf einer in der Regel umfassenderen Erkenntnisgrundlage als das vorbereitende vorläufige schriftliche Gutachten.


Entscheidung

216. BGH 2 StR 384/20 - Beschluss vom 1. Dezember 2020 (LG Köln)

Recht auf ein faires Verfahren (Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung: bezifferte Tenorierung des als vollstreckt geltenden Teils der Gesamtstrafe).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Für den Fall, dass allein die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Kompensation nicht ausreicht, ist im Urteilstenor festzulegen, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Entscheidung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane oder einer anderen staatlichen Stelle, sowie die Auswirkungen all dessen auf den jeweiligen Angeklagten. Jedoch muss stets im Auge behalten werden, dass die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher nur um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieses Umstandes geht.


Entscheidung

188. BGH 6 StR 320/20 - Beschluss vom 14. Januar 2021 (LG Rostock)

Härtefallausgleich in Zäsurfällen

§ 38 Abs. 2 StGB; § 55 Abs. 1 StGB

Ein Härteausgleich ist in Zäsurfällen nur dann geboten, wenn aufgrund der Bildung von mehreren (Gesamt-)Freiheitsstrafen ein zu hohes Gesamtübel entsteht, was namentlich bei einer Überschreitung der 15-Jahres-Grenze des § 38 Abs. 2 StGB der Fall ist.